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Kein Friede an den Minen

Ein Jahr nach dem Massaker von Marikana hat sich in Südafrika wenig geändert

Von Christian Selz *

Diesen einen Anruf, sagt Joe Sesoka, kann er nicht vergessen. Erhalten hat der anglikanische Bischoff von Pretoria ihn am 16. August 2012, vor genau einem Jahr. Am anderen Ende der Leitung war Mgcineni »Mambush« Noki, ein Bergarbeiter und Streikführer beim Platin-Giganten Lonmin im südafrikanischen Marikana. »Vater, wo sind Sie? Die Polizei bringt uns um«, schrie der in die Leitung. Keine Stunde zuvor hatte Sesoka die streikenden Kumpel erfolglos bekniet, nach Hause zu gehen, weil er von den martialischen Androhungen der Polizei Wind bekommen hatte. »Heute ist der Tag, an dem wir die Gewalt beenden wollen«, hatte Polizeichefin Riah Phiyega im Fernsehen angekündigt. Geendet haben die Morde an den Minen bis heute nicht. Erst am Montag wurde erneut eine Betriebsrätin der Bergarbeitergewerkschaft NUM auf dem Weg zur Arbeit erschossen.

Vor einem Jahr erlebte Marikana ein Massaker, wie es in Südafrika nach dem Ende der rassistischen Apartheid 1994 nicht mehr für möglich gehalten wurde. Als Sesoka den verzweifelten Anruf entgegennahm, muß gerade das Tränengas über die kleine felsige Anhöhe gewabert sein, auf der sich die Streikenden versammelt hatten. Um von dort zu ihren Wellblechhütten zu fliehen, gab es nur noch eine Lücke im von der Polizei gelegten Stacheldraht. Dahinter standen Elitepolizisten mit halbautomatischen Gewehren. Gummigeschosse hatten sie nicht einmal dabei, nur scharfe Munition. Als die Arbeiter losrannten, begann der Kugelhagel, genau zehn Sekunden lang, bis einer der Polizisten »Feuer einstellen« brüllte. Insgesamt starben an diesem einen Tag 34 Kumpel. »Mambush«, der zuvor täglich mit der Polizei verhandelt hatte, fiel als einer der ersten. Im Gegensatz zu den Erschießungen aus nächster Nähe, die Minuten später ein paar hundert Meter weiter stattfanden, gingen diese Szenen als Fernsehbilder um die Welt. Das Videomaterial ist größtenteils verschwunden, die Untersuchungskommission, die eigentlich innerhalb von vier Monaten abgeschlossen sein sollte, gerade am Mittwoch wieder vertagt worden. Der Staat weigert sich noch immer, die Anwälte der verletzten Kumpel zu bezahlen, und denen ist nun das Geld ausgegangen.

Der regierende ANC will die Schuld vor allem auf die neue, radikale Bergarbeitergewerkschaft AMCU abwälzen. Die kämpft mit der alteingesessenen NUM, einem langjährigen Partner des ANC im Regierungsbündnis, um die Vormachtstellung an den Minen. Vor den landesweiten Wahlen im kommenden Jahr geht es um politischen Einfluß, dem sich Wahrheit und Gerechtigkeit unterordnen müssen. Den Untersuchungsergebnissen »nicht vorzugreifen«, warnte Präsident Jacob Zuma, den nicht wenige Kumpel als Drahtzieher hinter dem Massaker sehen, seine Landsleute nun am gestrigen Donnerstag allen ernstes. 364 Tage nach den tödlichen Schüssen ist noch immer unklar, wer den Befehl zum Feuern gegeben hat und wer den Einsatz von scharfer Munition absegnete. Nicht ein einziger Polizist wurde festgenommen. Polizeichefin Phiyega und Polizeiminister Nathi Mthethwa, beide ausgesprochene Loyalisten des Staatspräsidenten, sitzen nach wie vor fest im Sattel. Zuma selbst wird heute nicht einmal zur Gedenkfeier für die erschossenen Kumpel kommen.

Die noch immer zwingenden Gründe für den Bergarbeiterstreik vor einem Jahr und der Schuldanteil der Konzerne geraten derweil weitestgehend aus dem Fokus. Ihre Kollegen seien nicht umsonst gestorben, mahnt nun das Organisationskomitee zum Jahrestag des Marikana-Massakers in einer Mitteilung. »Sie sind an diesem schicksalsreichen Tag für ihr Recht eingestanden, einen Lohn auszuhandeln, von dem man leben kann.« Erreicht ist dieses Ziel trotz einer Gehaltssteigerung von durchschnittlich 22 Prozent bei Lonmin im vergangenen Jahr noch lange nicht, allein die ärmlichen Wellblechhüttensiedlungen der Arbeiter bezeugen das. »Die Minen haben sich um viele ihrer Versprechen noch immer nicht gekümmert«, sagt John Capel, Direktor der Benchmark Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit Jahren mit der Lebenssituation der Bergarbeiter beschäftigt. »In Marikana bewegen wir uns weiterhin auf des Messers Schneide.«

* Aus: junge Welt, Freitag, 16. August 2013


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