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Wir haben nur den Kuchen anders verteilt

Südafrikas ANC-Veteran Denis Goldberg über soziale Gerechtigkeit und die Mahnung von Marikana *


2012 wurde der Afrikanische Nationalkongress (ANC) 100 Jahre alt. Seit Wochen wird Südafrika durch Streiks erschüttert, die in der Mine Marikana zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei eskalierten. Denis Goldberg, ANC-Veteran und Mitstreiter Nelson Mandelas, kommentiert die Ereignisse im »nd«-Gespräch mit Hans-Georg Schleicher.


nd: Feiern zum 100-jährigen Jubiläum des ANC werden von Streiks und blutigen Auseinandersetzungen überschattet. Was ist los am Kap der Guten Hoffnung?

Wir haben seit der formellen Übernahme der politischen Macht 1994 große Fortschritte gemacht, gemäß unserer Losung »Die Macht dem Volke«. Aber Losungen allein genügen nicht. Wie gebrauchen wir diese Macht? Wie kann das Volk seine gewählten Vertreter kontrollieren, die allzu oft glauben, sie seien nur zu ihrem eigenen Wohl gewählt worden?

Wie steht es um die soziale Gerechtigkeit?

Haben wir größere Gerechtigkeit für die Masse des Volkes erreicht? Ja und nein. Nicht verändert wurden die gewaltigen Lohnunterschiede zwischen Arbeitern unterschiedlicher Sektoren, Managern und Kapitalisten. Das wurde durch die Streiks in Marikana sichtbar, einschließlich der Brutalität gegen die Minenarbeiter. Warum wurden wir von den Ereignissen dort überrascht, wenn doch führende Vertreter der Regierung und des ANC selbst Direktoren und Aktionäre in betroffenen Bergwerken sind? Gewähren sie ihren Arbeitern bessere Löhne und Arbeitsbedingungen? Ich bezweifle das.

Um die Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent zu überwinden, müssen wir das Volumen unserer Wirtschaft verdoppeln. Eine gewaltige Aufgabe. Doch wir haben nur den Kuchen anders verteilt, um den neuen Sektor der herrschenden Klasse zu beteiligen.

Was ist aus den sozialen Zielen des Befreiungskampfes geworden?

Wir sprechen von der Nationaldemokratischen Revolution, was meinen wir damit? Viele aktuelle Probleme im ANC rühren daher, dass wir uns nie auf den Inhalt dieses Begriffes einigen konnten. Wir haben viel erreicht, eine demokratische Verfassung, die auch Gerechtigkeit und Würde der Menschen gerantiert, die ihnen durch koloniale und rassistische Unterdrückung sowie ökonomische Ausbeutung genommen wurden. Wir müssen nun die ungleichen Bedingungen für Menschen in unserem Lande überwinden, eine Aufgabe für Generationen, in einer solch ungerechten und ausbeuterischen Gesellschaft. Ich glaube daran, aber es bedarf Führungsqualitäten auf allen Ebenen.

Wie konnte es zu den jüngsten Auseinandersetzungen kommen, die in Marikana ihren Höhepunkt fanden?

Marikana zeigte, dass wir nichts geändert haben am Verhältnis zwischen schlecht bezahlter Billigarbeit, gut entlohnten Facharbeitern und obszön hohen Einkommen von Managern. Im Befreiungskampf beschränkten die Gewerkschaften ihren Kampf nicht auf Arbeitsbedingungen in den Betrieben. Es ging auch um Lebensverhältnisse, Bildung und Gesundheit. Haben wir das vergessen? Wie kommt es, dass ehemalige Freiheitskämpfer hochrangige Politiker und Beamte wurden, um danach im Privatsektor schnell reich zu werden? Ihnen genügten die Gehälter im öffentlichen Dienst nicht, die Überwindung der Probleme dort schien ihnen zu mühsam. Streben nach Reichtum ist ein weltweites Phänomen, aber unser Kampf richtete sich immer auch gegen diese Gier.

Wie lässt sich dieser Kampf noch gewinnen?

Sogenannte Wirtschaftsexperten behaupten wie zu Apartheidzeiten, Arbeiterklasse und Gewerkschaften würden das Land zerstören. Die Unternehmen seien um das Land besorgt. Wieso haben wir solche Thesen in unsere neue Gesellschaft übernommen? Die bestreikten Betriebe haben 12 Milliarden Rand Verluste gemacht. Für die entlassenen Arbeiter bedeutete das Hunger und Verzweiflung. Die verantwortlichen Manager müssten wegen Fehlverhaltens entlassen werden. Letztendlich mussten sie Lohnerhöhungen von 11 bis 22 Prozent zustimmen. Vielleicht führt der Druck der organisierten Arbeiter nun doch zum Umdenken in Vorstandsetagen, zu sozialem Fortschritt und einer prosperierenden Wirtschaft. Während des Befreiungskampfes musste die Wirtschaft dem Druck der Arbeiter und Gewerkschaften Rechnung tragen. Das ist eine wichtige Lehre. Die Mahnung von Marikana sollte nicht überhört werden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 01. November 2012


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