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"Freiheit wächst nicht an Bäumen"

Der südafrikanische Freiheitskämpfer Denis Goldberg über die Popularitätsverluste des ANC, seine Enttäuschung über die gesellschaftliche Entwicklung, Arbeitslosigkeit und das Erbe der Fußball-Weltmeisterschaft 2010


Der Afrikanische Nationalkongress (ANC), Südafrikas heutige Regierungspartei, war sein Leben. Neben Nelson Mandela stand Denis Goldberg im berühmten Rivonia-Verfahren vor Gericht und wurde zu viermal lebenslänglich verurteilt. 22 Jahre saß er im Gefängnis. 2004 zog er sich aus der großen Politik zurück und widmete sich dem Kampf für soziale Gerechtigkeit auf Gemeindeebene. Anfang Juni erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seinen unermüdlichen Einsatz für Menschenrechte. Mit dem Bürgerrechtler sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Kristin Palitza.


ND: Südafrikas Regierungspartei, der ANC, hat bei den jüngsten Kommunalwahlen im Mai merklich Stimmen verloren. Woran lag das?

Goldberg: Der ANC hat sich aufgrund interner Konflikte davon ablenken lassen, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. So hat die Regierung zu spät begonnen, ländliche Entwicklung zu fördern. Daher haben wir noch immer mit dem Problem wachsender, überbevölkerter Slums zu kämpfen, in denen es an grundlegender Sanitärversorgung mangelt.

Der ANC hat in allen Provinzen Sitze an Oppositionsparteien – die Demokratische Allianz (DA) und den Volkskongress (COPE) – verloren. Ich sehe das als Sieg der Demokratie. Da die von Helen Zille geführte DA viele Stimmen gewonnen hat, scheint es, als ob Tausende von Menschen nicht länger allein aufgrund von Hautfarbe wählen. Es zeigt, dass es Leuten um Inhalte geht.

Waren Sie mit dem Wahlkampf zufrieden?

Südafrikas größte Parteien, ANC und DA, haben beide rassistische Kommentare während des Wahlkampfes abgegeben. Unsere Verfassung schreibt vor, dass wir eine Demokratie frei von Rassismus konsolidieren müssen. Wir müssen Rasse aus unserem Denken eliminieren. Alle Parteien, und besonders die Regierungspartei, haben die Pflicht, nicht um Stimmen auf der Basis von Rassenangehörigkeit zu werben. Es muss um Inklusivität gehen, nicht darum, Bevölkerungsgruppen auszuschließen. Dafür braucht man Führungsqualitäten, die wir leider nicht zu haben scheinen. Das war überaus enttäuschend.

Hat der ANC in den 17 Jahren seit Ende der Apartheid genug getan?

Wir haben 2.5 Millionen Häuser gebaut. Zwölf Millionen mehr Menschen haben Zugang zu fließendem Wasser. Das ist enorm. Dennoch bin ich von der Regierung enttäuscht. Die Partei hat ihre besten Leute auf nationaler Ebene platziert, doch vergessen, wie wichtig es ist, erstklassige Leute auf Kommunalebene einzusetzen, wo politische Richtlinien implementiert werden. Man muss den Leuten zeigen, dass wir Fortschritte machen. Ständig nur über die perfekte Strategie zu diskutieren, führt zur Katastrophe. Wir sehen eine politische Katastrophe auf uns zukommen.

Die Zeit vor den Kommunalwahlen war von Protesten gegen mangelnde Dienstleistungen geprägt: Wasser, Strom, sanitäre Anlagen. Ist die Bevölkerung zu Recht unzufrieden?

Teil des Problems ist das Erbe der Apartheid. Die jetzige Regierung muss den Belangen von fast 50 Millionen Menschen nachkommen, während sich die Apartheidregierung nur um die Bedürfnisse von fünf Millionen weißen Südafrikanern kümmerte. Einen öffentlichen Dienst aufzubauen, braucht Zeit. Es wird eine ganze Generation dauern, unabhängig davon, wer das Land regiert. Bis dahin werden wir wachsenden Unmut sehen, vor allem unter jungen Menschen.

Worum ging es den Protestlern?

Seit dem Ende der Apartheid haben wir sozialen Wandel angestrebt, der auf unserer neuen Verfassung basiert. Doch diese garantiert Rechte, die wir noch nicht vollständig realisieren können, wie das Recht auf Arbeit oder Gesundheitsversorgung. Wir haben viel erreicht, aber sind noch nicht am Ziel. Die Proteste drehen sich nicht um politische Richtlinien sondern um deren langsame Umsetzung.

Ist die Revolution außer Atem geraten?

Ganz genau. Politiker streben nach Macht und Wohlstand. Das war nicht der Sinn unserer Revolution. Wir wollten eine gerechte Gesellschaft schaffen. Wir scheinen diese Vision verloren zu haben. Das Wohlergehen aller ist nicht länger Priorität.

Heißt das, es fehlt nicht an Geld, sondern an Motivation?

Mehr als 25 Prozent unsere Haushaltsmittel sind für das Gesundheitssystem bestimmt. Ein weiteres Viertel für Bildung. Geld allein reicht nicht aus. Das Problem ist, dass fast jedes Ministerium am Ende des Finanzjahres einen Teil des Budgets zurückzahlt, weil es seinen Job nicht getan hat. Ich habe selbst für die Regierung gearbeitet und erfahren, dass Beamte Entwicklung blockieren können.

Wie würden Sie Südafrikas hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen?

Offiziell sind 40 Prozent unserer fast 50 Millionen Menschen arbeitslos. Wäre ich Präsident, würde ich von der wohlhabenden Oberschicht ein Darlehen verlangen, das mit Zinsen zurückgezahlt wird. Das sollte der Regierung Mittel geben, um Infrastruktur mit Hilfe unserer Arbeiterschaft zu schaffen. Das Geld muss für Gehälter ausgegeben werden, nicht für die Einfuhr ausländischer Technologien.

Eines der Ziele Südafrikas ist, ganz oben in der Weltwirtschaft mitzumischen. Halten Sie das für klug?

Wir exportieren hauptsächlich Rohstoffe. Stattdessen sollten wir diese in unserem eigenen Land verarbeiten. Wer dennoch Rohstoffe von uns kaufen will, sollte sich verpflichten, eine bestimme Summe in Südafrika zu investieren, sodass wir eine Verarbeitungsindustrie aufbauen können. Nur so können wir unsere Wirtschaft entwickeln. Ich habe das Gefühl, die Regierung kämpft nicht stark genug dafür, dass Südafrika mehr Gewinn mit seinen Bodenschätzen macht. Wir haben die Kontrolle über unsere Ressourcen verloren. Wir brauchen strengere Ausfuhrgesetze.

Auch bin ich mir nicht sicher, wie clever die Strategie Südafrikas ist, sich als Sprungbett zum Rest des Kontinents zu vermarkten. Viele afrikanische Länder bezeichnen Südafrika bereits als »neuen Imperialisten«. Das könnte unsere wirtschaftlichen Beziehungen auf dem Kontinent trüben. Doch man muss bedenken, dass ich ein Idealist bin. Ich denke wirtschaftlich gesehen nicht unbedingt praktisch.

Vor der Fußballweltmeisterschaft 2010 in ihrem Land wurde versprochen, Infrastruktur zu schaffen, die allen Südafrikanern zugute kommt. Gab es den gewünschten Effekt?

Regierung und Privatwirtschaft haben eng zusammengearbeitet, um ein erfolgreiches Organisations- und Bauprogramm durchzusetzen. Wir haben der Welt gezeigt, dass wir es können. Zahlreiche Südafrikaner haben während der Bauphase der Stadien und der dazugehörigen Infrastruktur Jobs gehabt. Außerdem hatte die WM viele andere positive Auswirkungen, die nicht finanziell gemessen werden können. Die WM war überaus wichtig für unsere Nationenbildung. Allerdings ist auch einiges schief gegangen. Es kam ans Licht, dass Bauunternehmen und deren Zulieferer künstlich Kosten erhöht haben. Reine Korruption. Auch ist durch den Fokus auf den Bau von WM-Infrastruktur der soziale Wohnungsbau ins Stocken geraten. Und leidet nun unter erhöhten Baukosten.

Sie waren gerade in Deutschland. Hat der reibungslose Ablauf der WM den Eindruck geändert, den Deutsche von Südafrika haben?

Vor der WM gab es viel negative Berichterstattung in deutschen Medien. Südafrika ist zu gefährlich, hieß es. Die kriegen es nie gebacken. Doch dann sahen die Deutschen im Fernsehen, wie wundervoll die WM ablief.

Anlass Ihres Besuchs war eine Lesereise, um Ihre Biographie »Der Auftrag« vorzustellen. Wie reagieren Deutsche auf Ihre Lebensgeschichte?

Es gibt viele Parallelen. Deutsche brauchten lange, um offen über die NS-Zeit sprechen zu können. Auf einmal war keiner mehr ein Befürworter der Nazis. Auch in Südafrika ist das so. Es gibt viele Weiße, die behaupten, sie hätten von nichts gewusst. Doch wer hat die Apartheidregierung gewählt? Wer behauptet, er habe nichts gewusst, hat mit Absicht weggeguckt.

Gleichzeitig muss man auf ein anderes Phänomen hinweisen. Diejenigen, die unter der Apartheid täglich erniedrigt wurden, wollen auch nicht darüber sprechen. So wachsen junge Leute auf, ohne zu wissen, was ihre Eltern durchmachen mussten.

Wollen Sie mit Ihrer Biographie die unangenehmen Aspekte südafrikanischer Geschichte offenlegen?

Ganz genau. Allerdings hat es lange Zeit gedauert, bis ich den Mut gefunden habe. Doch es war mir wichtig, Lesern klarzumachen: Freiheit wächst nicht an Bäumen. Es sind Handlungen, die eine Vision zur Realität machen. Demokratie ist ein zerbrechliches kleines Blümchen. Der Kern unseres Sieges gegen die Apartheid ist die Achtung der Menschenwürde. Und wenn diese durch Rassismus, Mobbing oder sexuelle Diskriminierung verletzt wird, gefährdet es Demokratie. Daher bitte ich die Leute, Stopp zu sagen, sobald sie Machtmissbrauch beobachten. Das ist überall auf der Welt wichtig, nicht nur in Südafrika.

Sie kämpften Jahrzehnte für das Ende der Apartheid und verbrachten 22 Jahre für Ihre Überzeugung im Gefängnis. Hat Ihnen Religion geholfen, das durchzustehen?

Nein. Ich bin ein Kind jüdischer Eltern, aber nicht religiös. Ich bin ein Freidenker. Ich bin tolerant gegenüber dem Glauben anderer. Doch religiöser Fundamentalismus zerstört Demokratie. Er beschränkt Entscheidungsfreiheit.

Sie zögerten lange, Ihre Biographie zu schreiben, da Sie Ihre persönliche Erfahrung als nahezu untrennbar von der kollektiven Erfahrung des ANC im Befreiungskampf ansahen. Ist das auch heute noch der Fall?

Ob ich den ANC noch immer im selben Licht sehe? Nein. Denn die Umstände haben sich geändert. Heute Teil des ANC zu sein bedeutet Ehrgeiz. Es ist ein Mittel, um voranzukommen, um Wohlstand zu erlangen. Das steht im Gegensatz zu dem, wofür wir uns damals eingesetzt haben.

Bereits als sich der Freiheitskampf dem Ende nahte, haben ANC-Mitglieder im Exil versucht, Geld zu stehlen. Ich habe versucht, es zu verhindern und mich damit sehr unpopulär gemacht. Ich wurde als Störenfried bezeichnet. Es war wichtiger, nach außen eine Einheit zu präsentieren.

Ist das der Grund, aus dem Sie 2004 aus der Politik zurücktraten?

Hätte ich ein Regierungsamt besetzt und gesagt »Kollegen, hört mit dem Blödsinn auf«, hätten sie mich in kürzester Zeit hinausgeworfen. Und Schweigen war nicht mein Stil. Daher habe ich mich auf Gemeindearbeit konzentriert und gemerkt, dass ich hier viel erreichen kann. Denn auf Regierungsebene dauert es lange, sozialen Wandel zu schaffen. In der Zwischenzeit helfe ich Gemeinden, ihre Lebensumstände zu verbessern.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2011


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