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"Wir brauchen zwei Generationen"

Südafrikas Mühen der Ebene: Die Widersprüche innerhalb des ANC und mangelnde soziale Solidarität. Ein Gespräch mit Denis Goldberg *


Denis Goldberg, geboren 1933 in Kapstadt als Sohn jüdischer Eltern. Der Aktivist des von Nelson Mandela geleiteten bewaffneten ANC-Arms »Umkhonto We Sizwe« (Speer der Nation) wurde im Rivonia-Prozeß 1963/64 zu »viermal lebenslänglich« verurteilt. Nach 22 Jahren Gefängnis kam er frei und arbeitete ab 1985 für die Befreiungsbewegung zunächst im Londoner Exil. Er war ANC-Vertreter im Anti-Apartheid-Ausschuß der UNO. Zurück in Südafrika, war der Ingenieur Berater des Ministers für Wasser- und Forstwirtschaft. Goldberg ist Mitglied der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP).

Vor hundert Jahren, am 8. Januar 1912, gründete sich Afrikas älteste Befreiungsbewegung im südafrikanischen Bloemfontein. Der ANC (Afrikanischer Nationalkongreß) wurde zu einer der gewichtigsten Kräfte auf dem Kontinent. Sie selbst gehören zu den großen Persönlichkeiten des Kampfes gegen Apartheid und für Freiheit. Wie haben Sie das historische Jubiläum begangen?

Ich habe mir die Feiern im Fernsehen angeschaut, ganz ruhig im Wohnzimmer meines Hauses in Kapstadt. Es war imponierend. Zehntausende hatten sich in Mangaung – dem ehemaligen Bloemfontein – zusammengefunden und zelebrierten eine angenehme, warme Stimmung, mit Gesang und Tanz, eine südafrikanische Besonderheit. Darin offenbarte sich allerdings auch ein Problem: Nach der ANC-Freiheitscharta von 1955 können alle Südafrikaner, ob schwarzen, weißen, coloured oder indischen Ursprungs, nur gemeinsam ein neues freies Land aufbauen. Präsident Zuma fand zwar die richtigen Worte, als er die Bündnispartner seit Jahrzehnten – Organisationen und Persönlichkeiten – würdigte, aber auf dem Podium befanden sich ausschließlich schwarze Afrikaner. Der Redner in Mangaung sagte, wir glauben an eine nicht-rassistische Gesellschaft. Doch die Menschen vor den Fernsehgeräten konnten das zumindest optisch nicht nachvollziehen. Das war ein Fehler.

Weil Teile des Widerstands visuell ausgeklammert werden. Wird das von manchem als »neuer Rassismus« empfunden?

Es gilt zu verstehen: Was ist Rassenkampf und was ist Klassenkampf? Die Rassenschranken wurden über Jahrhunderte in den Köpfen verankert nach dem Motto »teile und herrsche«. In der Westkapprovinz beispielsweise, wo ich lebe, besteht die Mehrheit aus Coloured. Unter diesen – unter den Weißen sowieso – gab es während der Apartheid starke Vorbehalte gegen Schwarze. Heute aber existiert eine Einigkeit unabhängig von der Hautfarbe.

In der zur Regierungsmacht gewordenen Befreiungsbewegung gibt es viele unterschiedliche politische Positionen – radikal-antikapitalistische, reformistische, auch gruppenegoistische, schwarz-nationalistische, was immer. Seit Jahrzehnten ist der ANC eng mit der Kommunistische Partei SACP und den Gewerkschaften verbunden. Ist es dauerhaft möglich, die Ansichten unter einen Hut zu bekommen?

Es ist kompliziert. Gwede Mantashe ist SACP-Vorsitzender und ANC-Generalsekretär in einer Person. SACP-Generalsekretär Blade Nzimande ist zugleich Minister. Das bringt politische Schwierigkeiten mit sich. Sie üben als ANC-Mitglieder parlamentarische Funktionen aus und müssen die Regierungspolitik vertreten. Wenn es von kommunistischer Seite Kritik gibt, was soll dann der ANC-Generalsekretär dazu sagen?

Könnte die Allianz des ANC mit dem Gewerkschaftsbund COSATU und der KP mit dem ANC platzen?

Im Moment nicht, denke ich. Manchmal wird stürmisch debattiert und kritisiert. Auf Kongressen kommt man aber immer wieder zusammen. Allerdings sind die Widersprüche und Interessengegensätze zwischen einer wachsenden kapitalistischen Fraktion im ANC und den Partnern nicht zu übersehen.

Auch nach 17 ANC-Regierungsjahren herrscht eine starke soziale Ungleichheit. Wachsen die Gegensätze zwischen Politik und Anspruch des ANC?

Präsident Zuma hat zum Jubiläum die vielen Opfer, die Gefolterten und Mißhandelten gewürdigt. Viele haben ihr Leben gegeben im Kampf für die Freiheit. Heute aber befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der wir die neue Gesellschaft aufbauen. Wir müssen sorgsam miteinander umgehen. Millionen Menschen, die niemals in den Genuß von Bildung und Gesundheit gekommen wären, werden nun versorgt. Es wurde manches erreicht. Millionen Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser, ohne kilometerweit laufen zu müssen. Jetzt streiken die Krankenschwester für mehr Lohn und bessere Bedingungen, und das Gesundheitssystem bricht zusammen. Wo bleiben Verantwortung und Menschlichkeit? Wofür haben wir gekämpft?

Aber welche Möglichkeiten haben abhängig Beschäftigte, um ihre Interessen durchzusetzen?

Sie sind nicht ausschließlich Arbeiter und Angestellte, sie sind auch Teil eines gesellschaftlichen Umbaus.

Der Bergbau z. B. wird nach wie vor von Konzernen beherrscht. Die Forderungen der Arbeiter sind doch berechtigt?

Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Das ist wahr. Aber die Goldminen, die von Mitgliedern der Familien Mandela und Zuma übernommen wurden, haben ihre Arbeiter zwei Jahre lang nicht bezahlt.

Wie stark ist Korruption verbreitet?

Das ist keine Korruption – das ist normaler Kapitalismus. Ich kämpfe dagegen. Zugleich müssen wir aber das Land entwickeln. Wir können nicht abwarten, bis wir ein reines, vollkommenes Südafrika haben. Tatsächlich ist es nicht einfach, eine solche Gesellschaft aufzubauen, wenn große Teile der Bevölkerung durch die alte Ordnung seelisch verletzt sind. Es geht um Menschen – und die wollen jetzt ein besseres Leben.

Wie stark sind die antikapitalistischen Strömungen und wie groß die Chancen, daß das Land überhaupt umgebaut werden kann?

Meine Frage ist, welche Rolle fällt den Gewerkschaften zu in einer Umbauphase? Wir wissen: Kapitalisten machen möglichst hohe Profite, indem sie möglichst niedrige Löhne zahlen. Wenn aber die Löhne steigen und sie diese als zu hoch empfinden, gehen sie in ein anderes Land. Ohne Investitionen aber gibt es keinen Aufbau der Wirtschaft.

Dann wäre es doch konsequent, wenn diese Betriebe nationalisiert würden...

Das ist wahr – wenn sich nicht eine neue Elite dieses Besitzes annehmen würde. Im Laufe der jüngeren Geschichte Südafrikas bereicherte sich das international gestützte englisch sprechende Kapital, dann übernahmen afrikaans sprechende Weiße die Macht, jetzt entwickelte sich eine neue Gruppe ehemals unterdrückter Schwarzafrikaner sowie einiger Inder. Sie formierten sich zu einer neuen kapitalistischen Gruppe.

Was bedeutet das für die »Gesellschaft im Umbruch«, von der Zuma spricht?

Sehr interessant für mich war, daß er sagte: »Wir müssen zurück zu den alten Werten von der ANC-Gründung vor hundert Jahren.« Wir brauchen gesellschaftliches Engagement. Wir befinden uns in einer neuen Zeit, in der Menschen nicht über andere Menschen herrschen sollten. Hoffnung macht mir, daß immer mehr Leute in sozialen Projekten freiwillig, für wenig Geld tätig sind. Sie betreuen Kinder, schaffen Infrastruktur, helfen AIDS-Kranken. Wir haben in den vergangenen 17 Jahren die Basis gelegt, brauchen aber zwei Generationen, um einen richtigen Anfang zu schaffen.

Was sagen diese Aktivisten, wenn sie sehen, daß sich eine neue Elite herausbildet, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert?

Die Kritik daran hat begonnen und nimmt zu. Noch allerdings ist ein Großteil der Bevölkerung wenig daran interessiert. Korruption ist weit verbreitet. Häufig ist die Frage nicht, was du kannst, sondern wen du kennst. Das wird zwar bestritten und soll jetzt auch mit einem neuen Sicherheitsgesetz gedeckelt werden. Ich will den ANC nicht anklagen. Es ist eine Frage der Demokratie des Volkes.

Und der Kontrolle?

Die Leute selbst müssen sagen, daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen. Die Probleme liegen weniger auf der höchsten Ebene, sondern mehr im kommunalen Bereich, im direkten Kontakt zur Bevölkerung. Dienstleistungen müssen einfach klappen, die Versorgung mit Strom, Wasser, mit Häusern, Schulbüchern, Gesundheitseinrichtungen – dort verschwinden Gelder. Viele, die im öffentlichen Dienst arbeiten, verweigern die soziale Solidarität. Das schmerzt.

Das klingt alles sehr enttäuscht, mindestens jedoch desillusioniert ...?

Nein, ich habe es erwartet. Ich habe über 70 Jahre gelebt, habe in der Sowjetunion gesehen, daß sich eine Elite schöne Nester gebaut hat, während die Arbeiter für wenig Geld in den Bergwerken schufteten. Das ist enttäuschend. Auch das Verhalten mancher Comrades. Ich sage meinen Genossen, wir haben die Revolution für die Menschen gemacht, nicht für uns selbst.

Wird Ihre Kritik gehört?

Ich stehe nicht allein, der Aufschrei wird lauter. Als Zuma Präsident wurde, hat er versprochen, gegen Korruption zu kämpfen. Das hat er getan. Der Chef der Polizei wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Fast jede Woche lese ich von Prozessen gegen hohe Beamte. Das macht mich einerseits traurig, aber zugleich jubele ich, weil es bedeutet, daß wir uns wehren. Derzeit erleben wir überall im Land, daß ANC-Mitglieder gegen die Funktionäre opponieren, weil diese sich selbst bedienen. Wir müssen sie ablösen.

Interview: Gerd Schumann

* Aus: junge Welt, 23. Januar 2012


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