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Operation "Vula"

Während der zähen Verhandlungen mit der Apartheidregierung über das Ende des bewaffneten Befreiungskampfes baute der skeptische ANC weiter sein Untergrundnetz aus. Am 7. August 1990 legte der ANC dann die Waffen nieder

Von Hans-Georg Schleicher *

Am frühen Morgen des 7. August 1990 verkündete ein sichtlich erschöpfter Nelson Mandela nach 15 Stunden Verhandlungsmarathon mit Staatspräsident Frederik Willem de Klerk im Union Building in Pretoria die Suspendierung des bewaffneten Kampfes des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC). Es war ein weiterer Paukenschlag in Südafrikas schicksalsträchtigem Jahr 1990. Anfang Februar hatte de Klerk die Lawine ins Rollen gebracht, als er mit der Aufhebung des Verbots des ANC und anderer Widerstandsorganisationen eingestand, dass die Tage der Apartheid in Südafrika gezählt waren. Die Freilassung Mandelas bekräftigte diesen Schritt. Der Sinneswandel des konservativen de Klerk entsprang rationalem Kalkül, beeinflusst durch wachsenden Druck im In- und Ausland auf das Apartheid-Regime, durch die Verstärkung des Widerstandes und des Kampfes des ANC.

Die Doppelstrategie des ANC

Doch Apartheid blieb zunächst real – mit Hunderten rassistischer Gesetze und Bestimmungen. Tausende ANC-Aktivisten im Exil oder in der Illegalität waren zur Fahndung ausgeschrieben, viele saßen in Gefängnissen. Noch im März 1990 musste Südafrikas Geheimdienst hochrangige Exilvertreter des ANC, unter ihnen der heutige Staatspräsident Jacob Zuma, zur Vorbereitung von Verhandlungen mit der Regierung ins Land schmuggeln, weil sie auf Fahndungslisten der Polizei standen. In der regierenden Nationalpartei gab es starken Widerstand gegen eine Amnestie für politische Gegner.

Es verwunderte nicht, dass sich der ANC auf alle Eventualitäten, auch ein Scheitern der im Mai begonnenen Verhandlungen mit der Regierung, vorbereitete. Der bewaffnete Kampf von Umkhonto we Sizwe (MK), dem militärischen Arm des ANC, war nicht eingestellt worden. Eine laufende Geheimoperation »Vula« zum Aufbau eines Untergrundnetzes im Lande wurde weitergeführt und dessen Führung mit hochrangigen Kommandeuren wie Mac Maharaj, Siphiwe Nyanda und Ronnie Kasrils besetzt. Kasrils schätzte damals ein: »Wir sind uns nicht sicher über die realen Absichten von F.W. [de Klerk]. Wir müssen eine Absicherung haben.« »Vula« galt als solche Absicherung für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen. Angesichts der Erfahrungen mit dem Apartheid-Regime war das Misstrauen groß, der bewaffnete Kampf von MK blieb ein wichtiges politisches Druckmittel. Er war nicht unumstritten und erfuhr vielfältige Interpretationen. Die Frage eines Journalisten, ob MK nur den Widerstand der Weißen gegen den Wandel in Südafrika brechen wolle oder den militärischen Sieg erstrebe, unterschätzte den Realismus des ANC. Es ging längst nicht mehr um einen siegreichen Einmarsch in Pretoria unter fliegenden Fahnen.

Der bewaffnete Kampf war knapp 30 Jahre zuvor begonnen worden, als das Regime mit Verbot und radikalen Repressionen jegliche Möglichkeiten des friedlichen Widerstandes unterbunden hatte. Anfängliche Sabotageakte waren wenig erfolgreich. Nach der frühen Zerschlagung der MK-Führung im Landesinneren benötigte der ANC Jahre, um im Exil wieder eine schlagkräftige Organisation aufzubauen. Mit 16 000 Kämpfern war diese dann doppelt so groß wie in Südafrika angenommen. Ronnie Kasrils, ehemaliger Aufklärungschef von MK und 1994 Vizeverteidigungsminister im neuen Südafrika, unterstrich die Rolle der DDR, nach der Sowjetunion der wichtigste Partner bei der militärischen Ausbildung von MK in den 1970er/80er Jahren: »Wir sprechen über mehr als 1000 Kämpfer, die Ausbildung erfolgte auf einem hohen Niveau.« Er nannte Namen wie Siphiwe Nyanda, später Chef der Streitkräfte des neuen Südafrika, oder Chris Hani, seit 1987 Stabschef von MK. Als erster MK-Aktivist nach Beginn des bewaffneten Kampfes hatte bereits 1961/62 Mac Maharaj eine militärische Ausbildung im Ausland erhalten — ebenfalls in der DDR.

Im ANC umgab ein Mythos den bewaffneten Kampf und MK, eine nostalgisch verklärte Aura hat sich bis in die jüngste Zeit erhalten. Auch deshalb war 1990 die Beendigung des bewaffneten Kampfes im ANC höchst umstritten. Wichtiger noch — dieses Faustpfand eigener Stärke und wirksamer Einflussmöglichkeit insbesondere auch für die Massenmobilisierung wollte man nicht vorzeitig aus der Hand geben. Doch von außerhalb mehrten sich Stimmen für die Einstellung des bewaffneten Kampfes. Mandela wurde dazu nicht nur von Margaret Thatcher, sondern auch von Sambias Präsident Kenneth Kaunda aufgefordert. In Südafrika stimmte der engagierte Apartheid-Gegner Bischof Desmond Tutu in diesen Chor ein.

Die Kontroverse spitzte sich zu, als Südafrikas Polizei die Operation »Vula« aufdeckte und einige ihrer Führer verhaftete. Hardliner der Apartheid sahen ihre Bedrohungstheorie von der »rooi gevaar«, der roten Gefahr eines kommunistischen Umsturzes, bestätigt. Im ANC reagierte man auf die Verhaftung und auch Ermordung von ANC-Aktivisten in diesem Zusammenhang heftig. Der Verhandlungsprozess stand auf Messers Schneide und war keinesfalls unumkehrbar. Die Suspendierung des bewaffneten Kampfes zu diesem Zeitpunkt war ein kühner, aber auch taktisch kluger Schachzug, auch wenn dagegen beträchtlicher Widerstand in den eigenen Reihen zu erwarten war. Da war es wichtig, dass der hoch angesehene Joe Slovo, bis 1987 Stabschef von MK, Mandela empfahl, eine solche Vorleistung in die Verhandlungen einzubringen. Maharaj, Kommandeur der Operation »Vula«, bereitete gemeinsam mit Slovo und Kasrils sowie Thabo Mbeki die Führungsentscheidung vor. Ihre Überlegung war, dass realistische Fortschritte für Südafrika nur über Verhandlungen und Kompromisse erreichbar seien, auch wenn die aktuelle Situation dafür nicht unbedingt günstig schien.

Die Lage war Mitte 1990 höchst angespannt. Trotz der Verhandlungen zwischen Regierung und ANC liefen die Sicherheitskräfte Amok und verfolgten ANC-Aktivisten und auch Spitzenfunktionäre, die sie mit »Vula« in Verbindung brachten. Nach Nyanda wurde Ende Juli auch Maharaj verhaftet. In seiner Tasche fand sich die handschriftlich entworfene Entscheidung zur Suspendierung des bewaffneten Kampfes. Maharaj, trotz Druck und Folterdrohungen ungebrochen, beschwor den Chef der Sicherheitspolizei: »Sie haben die Resolution gefunden. Sie sollten genau überlegen, wie sie mit diesem Problem umgehen.« »Vula« war nun weitgehend paralysiert, auch wenn Kasrils den Verfolgungen entging und die Polizei mit spektakulären öffentlichen Auftritten narrte. Um das Auftauchen und Verschwinden des charismatischen ANC-Führers unter den Augen der Polizei, die ihn steckbrieflich suchte, ranken sich Legenden. Kasrils erinnerte das an die Zeit vor fast 30 Jahren im Untergrund. Nur dass es diesmal viel mehr Freunde und Sympathisanten gab: »Ich war wieder in der Illegalität, aber im Jahre 1990 in Südafrika auf der Flucht zu sein, war viel leichter als früher.« Erst Monate später brach die Legende vom »roten Umsturzversuch« des ANC zusammen, Verfolgungen und Verhaftungen der ANC-Aktivisten wurden eingestellt. Wie tief die Gräben waren, spürte ich noch im Januar 1991, als in einem langen Gespräch Willem de Klerk, der ältere Bruder und enge Berater des südafrikanischen Präsidenten, immer wieder von einem angeblichen Geheimplan des ANC, einer »hidden agenda«, sprach.

Der steinige Weg zur Demokratie

1990 ließ erahnen, wie schwierig der gerade begonnene Weg Südafrikas zur Demokratie noch war. Misstrauen dominierte auf beiden Seiten, aber der ANC hatte mit der Suspendierung des bewaffneten Kampfes ein deutliches Signal gesetzt. Frust und Empörung darüber waren auch in der Organisation nicht ausgeblieben — die Rede war von Ausverkauf und Verrat, besonders unter militanten Aktivisten an der Basis und im MK. Die Geschichte gab jedoch Joe Slovo und seinen Freunden Recht. Das Schreckensszenario eines Bürgerkrieges blieb Südafrika erspart. Nach schwierigen Verhandlungen, immer wieder gestört durch gewalttätige Auseinandersetzungen, gab es schließlich 1994 Wahlen, die eine Mehrheitsregierung unter Führung des ANC brachten. Slovo, Kasrils und Maharaj wurden Minister im neuen Südafrika unter Nelson Mandela, Thabo Mbeki dessen Vizepräsident.

* Aus: Neues Deutschland, 14. August 2010


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