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S u d a n / D a r f u r : Der inszenierte Konflikt

Das Spiel mit der Weltöffentlichkeit

von STEFAN KRÖPELIN *

In Konkurrenz mit dem neuen »Global Player« China zielt die Strategie der gegenwärtigen US-Regierung auf den Zugang zu den afrikanischen Ölreserven. Im Sudan wurden hierfür die durch Bevölkerungswachstum und Unabhängigkeitsbestrebungen eskalierten Regionalkonflikte in Darfur instrumentalisiert. Die in den Medien sträflich einseitig dargestellte humanitäre Krise scheint dabei als Vorwand für militärische Interventionen benutzt zu werden, die – egal unter welcher Ägide – das bereits eingetretene Debakel verschlimmern, die Region weiter destabilisieren und wirkliche Hilfe für die leidende Bevölkerung behindern.

Im September 2004, kurz nach dem Folterskandal im Abu Ghraib – Gefängnis und als endgültig klar wurde, dass die Irak-Invasion auf einer absoluten Lüge aufbaute, schickte Präsident Bush den damaligen Außenminister Colin Powell in den Sudan, um der Welt zu verkünden, dass dort systematischer Völkermord und das Verbrechen des Jahrhunderts stattfände – für die US-Regierung eine willkommene Ablenkung von dem Irak-Debakel, bei dem nachweislich Hunderttausende von Irakern getötet und verstümmelt wurden.

Das verzerrte Bild

Seither zeichnet sich die Berichterstattung über Darfur durch Schwarzweiß-Malerei, Übertreibung und einseitige Schuldzuweisungen aus, anstatt objektiv die komplexen Ursachen und Akteure des Konflikts und die Konsequenzen der humanitären und militärischen Einsätze darzustellen. Geführt von den US-Medien und der BBC ist eine Vereinheitlichung der öffentlichen und politischen Meinung entstanden, die zumindest für Europa nicht zu erwarten war. »Sudan Reeves«, ein frei gestellter Literatur-Professor in Massachusetts, schreckt in seinen Artikeln und Aussagen vor dem US-Kongress selbst vor Vergleichen mit Auschwitz nicht zurück. Zurzeit gipfeln die Sudan-kritischen Aktivitäten in großformatigen Anzeigenserien und Demonstrationen mit Auftritten des Gouverneurs Schwarzenegger und Hollywood-Schauspielern und »Raus aus dem Irak – rein nach Darfur« – Parolen. Ein Blick auf die Unterstützer der »Save Darfur« – Kampagne zeigt die prominente Rolle neokonservativer, evangelikaler und Israel-naher Organisationen.

Anscheinend war auch Wole Soyinka, der kürzlich beschwor, dass sich »die Heere des sudanesischen Staates zum Endkampf in ihrem seit langem beschlossenen Vorhaben rassischer Vernichtung des Volkes von Darfur sammeln «[1], nie im Sudan, geschweige denn in Darfur. Aber warum sollte es bei dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger von 1986 anders sein als bei den meisten Politikern, Journalisten, vorgeblichen Sudan-Experten und Fernseh-Moderatoren. Im besten Fall gründen sich die Nachrichten auf »Helikopter-Reportern«, die mit bereits vorgefasster Meinung für ein paar Tage angereist kommen. Es scheint die Regel zu gelten: Je weiter entfernt, oder je kürzer der Aufenthalt im Lande, desto einseitiger die Schuldzuweisungen, desto maßloser die Übertreibungen, desto unhaltbarer die Vereinfachungen. Selbstverständlich muss der Anblick unterernährter und leidender Kinder jeden Besucher und Fernsehzuschauer entsetzen, doch ist der suggerierte kausale Zusammenhang mit den ausgemachten Feindbildern längst nicht so gegeben wie es scheint. Seit Langem gab es Armut in Darfur, nur interessierte das erst mit dem Konflikt wahrgenommene Elend bis vor kurzem kaum jemanden, am wenigsten die US-amerikanische Regierung.

Die vereinheitlichten Schwarz-Weiß-Bilder verfehlen nicht ihre Wirkung mit einem identifizierten Feind, der »Dschandschawid« heißt und aus berittenen »Arabermilizen « besteht, die ethnische Säuberungen an der schwarzen afrikanischen Bevölkerung begehen und von einer »islamistischen « Regierung in Khartum gesteuert werden, die für alles verantwortlich gemacht wird. Der Sudan, der sich als erstes Land südlich der Sahara die Unabhängigkeit erkämpft hat, eignet sich als negative Projektionsfläche von jeher besonders gut. Der mutige Widerstand gegen die militärtechnisch grenzenlos überlegende Kolonialmacht Großbritannien am Ende des 19. Jahrhunderts wird bis heute als Gräueltat dargestellt.

Versuche, von der einförmigen Meinung abweichende Beiträge, Leserbriefe oder nur sachliche Richtigstellungen in deutschen Medien wie der Zeit, Spiegel, Stern oder Tageszeitung unterzubringen, blieben mit Ausnahme der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung erfolglos. Ebenso in den Online-Diensten von CNN oder bei »Have Your Say« der BBC, wo sonst jeder noch so unbedarfte Kommentar ins Netz gestellt wird, und trotz wiederholter Beschwerden gegen solche Zensur. Lediglich im freien Internet lassen sich differenziertere Informationen und Meinungen finden, in Deutschland insbesondere auf den Seiten der Friedensforscher an der Universität Kassel [2]. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, UN-Personal und Diplomaten vor Ort, die schon länger mit der komplexen Situation in Darfur und den angrenzenden Regionen vertraut sind, geben im privaten Gespräch freizügig ihre realitätsnähere Sicht der Dinge wider, scheuen sich aber, diese öffentlich zu wiederholen, um nicht gegen die Wände der Politik und der Medien zu laufen, bei ihren Vorgesetzten in den westlichen Hauptstädten anzuecken oder gar den eigenen Job zu riskieren. Doch jeder, der den Sudan und die Sudanesen aus eigener Anschauung kennt und mit jedem Aufenthalt mehr zu schätzen gelernt hat, ist durch die realitätsfremde Medienmeinung und Politik zur Gegendarstellung herausgefordert.[3] Auch auf die Gefahr der Unterstellung, das Unglück des Konflikts klein zu reden, die Schuldigen zu rechtfertigen, der sudanesischen Regierung gefällig sein zu wollen, Verschwörungstheorien anzuhängen oder Anti-Amerikanismus zu betreiben.

Hintergründe der Darfur-Krise

Will man den historischen, ökologischen, infrastrukturellen, demographischen und politischen Ursachen des Konflikts näher kommen, muss man weiter zurückgehen als die drei Jahre, seit denen der Darfur ins Bewusstsein westlicher Politiker und Medien gerückt ist. Der Sudan ist mit der siebenfachen Größe der Bundesrepublik Deutschland nicht nur das größte Land Afrikas, sondern auch das vielfältigste. Um die vorletzte Jahrhundertwende teilten sich die britischen und französischen Kolonialmächte auch den Nordosten des Kontinents ohne Rücksicht auf Bewohner, Stammesgebiete, Sprachen und landschaftliche Einheiten. Die höchst lehrreichen Werke der frühen Forscher Heinrich Barth und Gustav Nachtigal wurden kaum berücksichtigt. Als sich die bis heute wenig gelittene englische Kolonialmacht 1956 aus dem Sudan zurückziehen musste, verblieb das wohl künstlichste Staatengebilde Afrikas mit einer Vielzahl vorprogrammierter Probleme, die durch die zwiespältige christliche Missionierung in den südlichen Landesteilen um eine wesentliche Konfliktquelle erweitert war.

In Darfur herrschen von jeher für Europäer kaum vorstellbare Lebensbedingungen, die durch das extreme demographische Wachstum in den letzten Jahrzehnten noch erheblich verschlimmert wurden. Seit Ende der 1950er Jahre ist von einer Verfünffachung der Bevölkerung von ca. 1,3 Millionen Einwohnern auf sechs bis sieben Millionen auszugehen, also einer Verdopplung in weniger als 20 Jahren – eine fatale Entwicklung angesichts der begrenzten ökologischen Tragfähigkeit der Sahel-Zone und ihrer Anfälligkeit für Desertifikation, die vom Mensch verursachte Wüstenbildung. Durch den unaufhaltsam steigenden Bevölkerungsdruck nahmen Konflikte und Verteilungskämpfe um immer spärlicher werdende Ressourcen wie Wasser, Brennund Bauholz, Wild, und vor allem Ackerflächen und Weideland in drastischer Weise zu. Dazu kam eine Verschlechterung der Sicherheitslage durch immer mehr umherziehende Umweltflüchtlinge, Diebe und Räuber.

Neben anderen infrastrukturellen Defiziten liegt ein Hauptproblem der Marginalisierung des Darfur in der nach wie vor völlig unzureichenden Verkehrsanbindung an die anderen sudanesischen Landesteile. Schon die britische Administration übernahm keine Anstrengungen, den Darfur durch einen Anschluss an das Eisenbahnnetz aus seiner Isolation zu befreien. El Fasher, das Zentrum des westlichen Sudan, ist auf dem Landweg nur mit geländegängigen Fahrzeugen und über unbefestigte Pisten zu erreichen. Für die 1 500 Kilomenter lange Anfahrt von Khartum benötigt man bis zu einer Woche, während der Regenzeit sind die meisten Strecken unbefahrbar. So ist es in den letzten 200 Jahren auch keiner Macht gelungen, den entlegenen Darfur faktisch zu regieren.

Fairerweise muss erwähnt werden, dass jede sudanesische Regierung wegen der rasanten Bevölkerungszunahme vor riesigen Problemen steht, die naheliegenderweise zunächst in der durch massiven Zuzug rapide wachsenden Großregion Khartum angegangen werden. Die erst seit wenigen Jahren verfügbaren Erträge aus Erdöl, Gold und anderen Rohstoffen kommen in der boomenden Hauptstadt – im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern – offensichtlich einer breiten Bevölkerungsschicht zugute, doch reichen sie bei weitem nicht zur Beseitigung der immensen regionalen Disparitäten im größten afrikanischen Flächenstaat.

Der Darfur wurde 1994 in drei administrative Einheiten aufgeteilt. Der subsaharische Teil von Nord-Darfur ist die Heimat kamel- und viehzüchtender Nomaden und Halb-Nomaden, die in ihrer großen Mehrheit den Stämmen der Zaghawa angehören. Der West-Darfur zu beiden Seiten des vulkanischen Djebel Marra wird hauptsächlich von sesshaften Ackerbauern, den Fur, Massalit, Daju und Berti, bewohnt. Der Süd-Darfur ist das Gebiet der Baggara, Vieh und Kamele züchtender Nomaden, die im 18. Jahrhundert eingewandert sind. Insgesamt gibt es über 80 Stämme in Darfur, die ihrerseits in unzählige Clans aufgeteilt sind. Kein Teil Darfurs war jemals ethnisch homogen und die Identitäten sind fließend.[4] Alle Bewohner des Darfur sind dunkelhäutig, sunnitische Muslime und sprechen Arabisch. »Sudan« bedeutet nicht ohne Grund »Land der Schwarzen«.

So basiert schon die gängige Aufteilung in »Afrikaner« und »Araber« auf einem etymologischen Missverständnis. Von den Bewohnern Darfurs werden traditionell alle berittenen Viehzüchter als »Araber« bezeichnet. Auch die dämonisierten »Dschandschawid«, deren Name – ursprünglich durchaus in bewunderungsvollem Sinn – etwa als »Teufelskerle, die alle Grenzen überschreiten« zu übersetzen wäre, sind eigentlich nomadische Hirten und nicht von der Zentralregierung gesteuerte Killer. Schon leiden »arabische« Gemeinschaften in der Region unter der Stereotypisierung, dass sie alle Dschandschawid seien. Bei dem gängigen Vokabular darf natürlich auch das Unwort »islamistisch« nicht fehlen, das allgemein unreflektiert an Stelle von »fundamentalistisch« gebraucht wird (was allerdings für die gegenwärtige sudanesische Regierung kaum zutrifft) und eine Beleidigung für alle Muslime darstellt, solange man nicht auch von »christianistisch« spricht.

Zusammenbruch der Konfliktlösungsmechanismen und Eskalation der Regionalkonflikte

Der Darfur-Krise liegt der seit prähistorischen Zeiten bestehende Konflikt zwischen Nomaden und Sesshaften zu Grunde, welcher seit der Dürreperiode der 1980er Jahre kontinuierlich eskalierte. Aufgrund der Verknappung der Ressourcen und einer Ausweitung der Anbauflächen wurden seitdem von sesshaften Stämmen wie den Fur die Durchzugs-, Wasser- und Weiderechte der Kamel- und Rinderzüchter zunehmend eingeschränkt.

Traditionell lösten die Stämme ihre Konflikte um Zugangsrechte zu Brunnen und Landbesitz mit Hilfe lokaler Friedensschlichtungen (»mu ‘tamarat as-sulh«) oder zum Beispiel auch durch Heiratsschließungen, wodurch ein relativ friedliches Zusammenleben von Kamelzüchtern, Rinderhirten und Bauern gewährleistet wurde. Diese Konfliktlösungsmechanismen brachen Mitte der 1980er Jahre zusammen, als die (gewählte) zentralistische Numeiri-Regierung die lokalen Sultanatshierarchien zerschlug und der damalige Premierminister Sadiq al-Mahdi beschloss, seine Anhänger unter den Baggara mit Kalaschnikovs zu bewaffnen, um der sudanesischen Armee Hilfstruppen in ihrem Kampf gegen die von John Garang geführte südsudanesische SPLA (Sudan People’s Liberation Army) an die Seite zu stellen. Auch die in Süd-Darfur beheimateten Rizaigat kämpften zunächst im Süden, um ihre Waffen später in Land- und Wasserkonflikten gegen ihre nördlichen Nachbarn, die Fur, Massalit und Zaghawa, einzusetzen.

Kaum wahrgenommen von der westlichen Öffentlichkeit folgten daraufhin mehrere Regionalkonflikte, die schließlich in die heutige Situation mündeten. So kämpften 1990 die mit Regierungstruppen verbündeten Beni Halba gegen die die SPLA unterstützenden Fur. 1996 führten die Rizaigat einen Regionalkrieg gegen die Zaghawa und 1997 bis 1999 folgte der Konflikt zwischen den Massalit und Umm Jullul. Nachdem sich Anfang 2003 in den Verhandlungen zwischen Regierung und SPLA eine Annäherung abzeichnete, mussten die Fur und andere Stämme wie die Massalit und die wirtschaftlich einflussreichen Zaghawa befürchten, vom Prozess der nationalen Versöhnung und den Einkommen aus der Ölforderung im Zentralsudan ausgeschlossen zu werden.

Dies führte zur Bildung der »Sudanese Liberation Army « (SLA), die im Frühjahr 2003 im Jebel Marra den allgemeinen Aufstand ausrief, und später zur Gründung des »Justice and Equality Movement« (JEM). Mit ihren Toyota- Pickups mit aufmontierten Maschinengewehren, Granatwerfern, Panzerfäusten und koordiniert über Thuraya- Satellitentelefone griff die SLA unter Führung eines erfahrenen Kommandeurs mit großem Erfolg Polizei- und Armeeposten an. Dieser hatte schon 1990 mitgeholfen, den Zaghawa Idriss Déby von Darfur aus in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena an die Macht zu bringen. Die relativ bescheidenen Regierungstruppen erlitten eine Reihe von Niederlagen, die in der Besetzung des Flughafens von El Fasher gipfelten, wobei zahlreiche Soldaten getötet, mehrere Helikopter und Flugzeuge zerstört und ein Luftwaffengeneral gefangen genommen wurden. Die so herausgeforderte Zentralregierung in Khartum reagierte – wie wohl jede andere Regierung in solchen Fällen – mit militärischen Vergeltungsmaßnahmen, die leider auch (wenig zielsichere) Bombardierungen vermuteter Rebellenstandorte einschlossen.

Das Ausmaß der Gewalt

Worauf stützen sich die allseits wiederholten Angaben von 200 000 bis 400 000 Opfern? Natürlich wird niemand annehmen, dass ein Konflikt wie in Darfur ohne furchtbares Leiden der Zivilbevölkerung ausgetragen würde. Niemand wird bestreiten, dass es in diesem wie in allen kriegerischen Auseinandersetzungen zu schrecklichen Menschenrechtsverletzungen, Brandschatzungen, Morden und Vergewaltigungen gekommen ist. Jedes einzelne Verbrechen ist zu beklagen und zu sühnen. Doch ist die Frage illegitim, ob es sich um Tausende oder um Hunderttausende Opfer handelt? Und ob die Täter allein auf einer Seite stehen? Vergeblich sucht man in den Medien und in den Bildsuchdiensten des Internets nach Fotos, Luftaufnahmen oder anderen Beweisen für den behaupteten systematischen Massenmord. Bisher wurde offenbar noch kein Massengrab gefunden. Gräueltaten des behaupteten Ausmaßes werden jedoch nicht durch unablässige Wiederholung, sondern allein durch quantifizierte Beweise glaubhaft; man denke an die Massenvernichtungswaffen im Irak.

Kommerziell verfügbare Satellitenbilder gestatten heute eine optische Auflösung, in der jede einzelne Grashütte zu erkennen ist. Mit militärischen Spionagesatelliten wäre es ein Leichtes, eine einzelne Leiche zu dokumentieren. Wenn tatsächlich 2 000 Dörfer zerstört wurden, warum werden diese Daten dann nicht vorgelegt? Angebote eines Berliner Universitätsinstituts mit langer Erfahrung in der Fernerkundung Darfurs, bei relativ geringen Kosten eine flächendeckende Satellitenbildauswertung durchzuführen, stießen auf keinerlei Erwiderung. Dies legt den Schluss nahe, dass man das wahre Ausmaß der Zerstörungen gar nicht wissen will. Punktuelle Überprüfungen der häufig abgedruckten Karte der USAID (United States Agency for International Development) mit Hilfe von Quickbird-Aufnahmen ergaben vielmehr in einem der angeblich am schlimmsten betroffenen Gebiete keine einzige niedergebrannte Hütte.

Und warum ist der seit über drei Jahren angekündigte UN-Report, der die hohen Schätzungen belegen soll, noch immer nicht erschienen? In den letzten Ankündigungen im Juni 2006 sprach der Chefankläger Luis Ocampo entgegen den sonst genannten Zahlen nur noch von »einer erheblichen Anzahl von Massakern mit jeweils Hunderten Opfern«, was schrecklich genug ist, aber der Realität wahrscheinlich näher kommt. Bis endlich schlüssige Beweise vorgelegt werden, ist weiter davon auszugehen, dass in den vergangenen Jahren ungleich mehr unschuldige Zivilisten im Irak, in Afghanistan, in Palästina und im Libanon ums Leben gekommen sind.

Am verlässlichsten erscheinen noch die Zählungen und Erhebungen in den Flüchtlingslagern im Sudan und im tschadischen Grenzgebiet. Aber selbst diese Zahlen können trügen, da die errichteten Hilfslager durch die Versorgung mit Zelten, Decken, Nahrungsmitteln, Schulen und Ärzten eine magnetische Anziehungskraft in subsistenten halbmobilen Gesellschaften besitzen – auch ohne unmittelbare Gefährdung und Vertreibung. Befragungen der Insassen können in vielen Fällen aus verschiedenen Gründen tendenziös und unzuverlässig sein.

Außerdem ist kein Geheimnis, dass Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen in Zeiten knapper werdender Kassen einem zunehmend heftigen Ringen um Mittel unterliegen, auch um die eigenen kostspieligen Apparate aufrecht erhalten zu können. Je drastischer die humanitäre Situation in den jeweiligen Einsatzgebieten dargestellt und je höher die Opferzahlen beziffert werden, desto mehr staatliche und Spendengelder sind zu erwarten; realistische Verlautbarungen führen oft zu einem schnellen Versiegen der Finanzierung.

In der Debatte um den Darfur-Konflikt wird besonders in den USA mit der Behauptung operiert, dort fänden Völkermord und ethnische Vertreibungen statt. Daran knüpft sich die Forderung, UN-Truppen unverzüglich auch ohne Zustimmung der sudanesischen Regierung nach Darfur zu entsenden. Deshalb handelt es sich bei der Definition der Vorgänge in Darfur um kein akademisches Problem.

Legt man den Begriff des Völkermords in der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zugrunde, verlangt er die Absicht, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören « (Art. II). Dieses Merkmal liegt bei aller Grausamkeit des Geschehens jedoch im Gegensatz zum Völkermord in Kampuchea oder Ruanda nicht vor.[5] Im Darfur-Konflikt spielen ethnische, rassische oder religiöse Motive keine Rolle. Die Begriffe Völkermord und ethnische Vertreibung passen deshalb nicht auf die Gewaltverbrechen, die in Darfur begangen werden. Ein Einsatz gegen den Widerstand der sudanesischen Regierung würde somit eine (nach dem Irak weitere) völkerrechtswidrige Invasion darstellen.

Die Rohstoff-Interessen der USA

In Wirklichkeit gilt auch in Darfur das »humanitäre« Interesse hauptsächlich den Rohstoffen.[6] 2005 lief der Vertrag aus, der dem US-amerikanischen Ölkonzern ARAMCO seit 50 Jahren das Erdölmonopol in Saudi-Arabien sicherte. Kontinuierlich verschlechtern sich die Risiken und Geschäftsbedingungen für US-Unternehmen in ganz Südwest- Asien. Dagegen wurden in Afrika unter anderem in Libyen, Tschad und Sudan in den letzten Jahren unerwartet große Erdölreserven, dazu in besserer Qualität, gefunden. Zudem bieten die afrikanischen Vorkommen wesentlich kürzere und leichter zu sichernde Transportwege nach Nordamerika. Allein die Erdöl- und Erdgasreserven im Süd-Sudan wurden von dem US-Ölkonzern Chevron, der 1980 die ersten Testbohrungen durchführte, angeblich als größer als die Iraks und Saudi-Arabiens zusammen eingeschätzt.

Doch nun beherrschen chinesische und malaysische Firmen mit langfristigen Verträgen die Ölförderung im Sudan einschließlich der von China gebauten Pipeline von West-Kordofan nach Port Sudan am Roten Meer, die später auch für das Erdöl aus Süd-Darfur genutzt werden kann. Für weitere Explorationskonzessionen stehen Interessenten aus Russland, Bulgarien, Rumänien, Japan, Irland und anderen Staaten Schlange. So erfordert die Vorstellung wenig Fantasie, dass es gerade der gegenwärtigen USRegierung im Wirtschaftskampf mit dem neuen »Global Player« China darum geht, den sudanesischen Ölexport durch Sanktionen lahm zu legen und regionale Gegensätze zu schüren in der Hoffnung auf späteren Zugang zum Öl, wie dies bereits durch die Unterstützung der separatistischen Bewegungen im Süd-Sudan geschehen ist. Seit zwei Jahrzehnten wurden die Kämpfer der SPLA ausgerüstet und trainiert in Erwartung der Exklusivrechte am südsudanesischen Öl, sobald die für 2011 fest erwartete Abtrennung vom Norden vollzogen ist. In das gleiche strategische Konzept fällt auch die verstärkte Militärhilfe an andere kooperationswillige afrikanische Regierungen, oder im gegenteiligen Fall auch an deren rebellische Gegner.

Nachdem die USA an den Erdölkonzessionen im Zentralsudan vor allem gegenüber China das Nachsehen hatten, zielt deren Rohstoffhunger folgerichtig auf die Erdölvorkommen im westlichen Sudan. Schon existieren fortgeschrittene Pläne für eine Verlängerung der bereits bestehenden US-amerikanischen Pipeline vom West- Tschad durch Kamerun an die Atlantikküste, die einen optimalen Zugang zu den Ölreserven Süd-Darfurs gewährleisten soll. Es fehlt nur noch die kooperative Regierung eines abgetrennten Teilstaats. Aus diesem Grund drängt die Bush-Regierung auf eine Beteiligung der NATO bei der geforderten UN-Intervention mit der Absicht eines Zugangs zu den Rohstoffgebieten. So werden die regionalen Autonomiebestrebungen und die humanitäre Krise in Darfur als Vorwand für militärisch-ökonomische Interessen instrumentalisiert. Deshalb erscheint es nicht abwegig, nicht nur von einem aufgebauschten, sondern einem inszenierten Konflikt zu sprechen.

Das neue Debakel

Erwartungsgemäß wird die Lage in Darfur täglich schwieriger und unübersichtlicher. UN-Hilfskoordinator Jan Egeland sprach gerade von rund vier Millionen Menschen, die humanitäre Hilfe benötigten – vier Mal so viele wie zu Beginn des Konflikts im Jahr 2003. 2,5 weitere Millionen seien auf der Flucht. Diese Zahlen würden allerdings die gesamte Bevölkerung Darfurs einschließen und stellen deshalb wohl eine weitere Übertreibung dar.

Fest steht jedoch, dass die ursprünglichen Frontstellungen schon lange nicht mehr gültig sind. Nicht nur politische und strategische Meinungsunterschiede und persönliche Rivalitäten, sondern auch das im Mai 2005 nach langen Verhandlungen geschlossene Darfur Peace Agreement zwischen den Rebellen und der Regierung hat die ohnehin zahlreichen Rebellengruppen weiter gespalten. Nur ein Teil der SLA stimmte dem Friedensabkommen zu, und auch die JEM unterschrieb nicht und verband sich stattdessen im Juni 2006 mit anderen oppositionellen Gruppen zu einer »National Redemption Front« (NRF). Die Zerwürfnisse resultieren in dem Zerfall der Rebellen- bewegung, deren einzelne Fraktionen nun übereinander herfallen. Gefechte zwischen verschiedenen Gruppen der SLA und der JEM sind an der Tagesordnung. Manche Milizen werden zu marodierenden Banditen.

Hauptleidtragende bleibt die Zivilbevölkerung, die sich nach wie vor in die Camps um die größeren Städte und zum Teil in den Tschad flüchtet. Allein um Nyala mit seinen knapp 230 000 Einwohnern hat sich ein Gürtel von acht Camps mit 400 000 Flüchtlingen gebildet, die hier wie in den Flüchtlingslagern im Tschad zu neuen Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung führen. Doch die größten Probleme stehen erst bevor, wenn die Lager eines Tages aufgelöst werden müssen, da die Heimatgebiete der Flüchtlinge meist schon von Anderen eingenommen sind. Wie im Irak zeichnet sich durch ein unbedachtes Vorgehen ein neues Debakel ab. UN und Hilfsorganisationen sitzen in der Klemme. Als Ausweg wird unter der Hand eine spätere Übersiedlung in nur scheinbar dünn besiedelte Regionen im südwestlichen Darfur erwogen, was unweigerlich weitere Konflikte und Probleme auslösen wird. Doch der selbst in eigenen Reihen umstrittene Sonderbeauftragte der UN, Jan Pronk, scheint nur um eine Aufstockung der UN-Truppenstärke besorgt zu sein.

Der Darfur-Konflikt ist auch jenseits seiner regionalen Grenzen hinaus so gefährlich, weil er in andere marginalisierte Regionen des Sudan ausstrahlt. Schon hat sich im nordöstlichen Landesteil, in dem die für ihre Eigenständigkeit bekannten Bedscha leben, der nächste Konflikt angebahnt. Längst destabilisiert der Konflikt auch angrenzende Staaten wie den Tschad, wo sich gegenwärtig die Situation im ganzen Land erheblich zuspitzt. »Wir spielen mit einem Pulverfass«, warnt zurecht UN-Koordinator Egeland.

Man kann fest davon ausgehen, dass die meisten Sudanesen, nicht nur die Regierung, gegen eine Ausweitung ausländischer Militäreinsätze im Sudan sind, die als neokoloniale Okkupation auf Betreiben der USA und Englands empfunden werden.[7] Eine Entsendung jeglicher Truppen wird die Kriegssituation erheblich verschärfen und ganz Darfur in Aufruhr bringen. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass sich in diesem Fall manche verfeindeten Parteien gegen die westliche Einmischung verbünden werden.

Schon die laufenden Kosten der internationalen »Peace-Keeping Mission« im Süd-Sudan (UNMIS) werden mit bis zu 2,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr beziffert. Es dürfte keine Frage sein, dass diese Steuergelder wesentlich sinnvoller und nachhaltiger in Projekten der humanitären und infrastrukturellen Entwicklungshilfe eingesetzt wären als für den wenig überzeugenden Einsatz von Militärbeobachtern. Es bleibt die (noch so geringe) Hoffnung, dass daraus Lehren gezogen würden bei der gegenwärtigen Diskussion eines ungleich problematischeren UN-Militäreinsatzes in Darfur. Schließlich dürfte es bei dem moralischen Aufschrei in der westlichen Welt doch nur um die wirksamste finanzielle und technische Hilfe zur Linderung der prekären Lebensbedingungen der Menschen in Darfur gehen, und nicht um absurd teure und letztlich ineffektive militärische Interventionen.

Fußnoten
  1. Wole Soyinka. Wir machen uns schuldig – Wie viel Terror braucht die Welt noch, bis sie endlich das Morden in Darfur stoppt? Tagesspiegel, 5. 11. 2006.
  2. AG Friedensforschung an der Uni Kassel / Friedenspolitischer Ratschlag (www./regionen/Sudan).
  3. Stefan Kröpelin. Spielball der Mächtigen. Über die Flüchtlingskatastrophe in der sudanesischen Region Darfur wird einseitig und mit Halbwahrheiten berichtet. Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau, 14. Oktober 2004 (www.unikassel.de/fb5/frieden/regionen/Sudan/kroepelin.html). Uneinig über Sudan: »Als ob es auf eine exakte Volkszählung ankomme«. Leserbrief von Bundesminister a. D. Gerhart Baum und die Antwort des Autors mit Auszug aus Zuschriften (www./regionen/Sudan/kroepelin2.html).
  4. Olaf Köndgen. Tragödie in Darfur. inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.) Nr. 39, 2004. Olaf Köndgen ist Islamwissenschaftler und Cheflektor von »Islam-Nahost«, Niederlande.
  5. Norman Paech und Paul Schäfer. Die USA haben den Sudan zu einem Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in Afrika ausgebaut. Bericht über eine Reise in den Sudan vom 2.–7. Oktober 2006 (www./regionen/ Sudan/reise.html). Der Völkerrechtler und Politologe Norman Paech ist Abgeordneter des Deutschen Bundestags und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke. Der Soziologe Paul Schäfer ist ebenfalls Bundestagsabgeordneter der Linken sowie Mitglied des Verteidigungsausschusses und der Parlamentarischen Versammlung der NATO.
  6. Klaus Schramm. Das »humanitäre« Interesse am Sudan, 4. Juni 2004 (www.netz werk-regenbogen.de/sudan040604.html). Klaus Schramm ist freier Journalist und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft /Verein der KriegsdienstgegnerInnen.
  7. Sara Flounders. The U.S. role in Darfur, Sudan. 3. Juni 2006 (www.workers.org/2006/world/darfur-0608/index.html). Why Sudan rejects UN troops. 15. September 2006 (www.workers.org/2006/world/sudan-0914/index.html). Sara Flounders war Mitglied einer Fact finding mission unter Leitung des ehemaligen US-Justizministers und Friedensaktivisten Ramsey Clark nach der Zerstörung der El Shifa Pharmafabrik in Khartum durch US Raketen im Jahr 1998.

* Dr. Stefan Kröpelin ist Geograph und Geoarchäologe und forscht seit 25 Jahren im Nordwest-Sudan zur Klima- und Besiedlungsgeschichte der Sahara. Er ist Leiter der Teilprojekte Sudan (A2) und Tschad (A6) im Sonderforschungsbereich 389 »Kultur- und Landschaftswandel im ariden Afrika« an der Universität zu Köln.
E-Mail: s.kroe@uni-koeln.de

Quelle: Dieser Artikel erschien - mit zahlreichen sehr aufschlussreichen Fotografien - in der österreichischen Zeitschrift "International. Die Zeitschrift für internationale Politik" (Wien), Heft IV, 2006.



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