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Das grosse Schweigen

Sri Lanka: Kommt es demnächst zu einem neuen Krieg?

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag aus der kritischen Schweizer Wochenzeitung WoZ.


Von Holger Schmidt, Jaffna

Seit anderthalb Jahren ruhen die Waffen in einem Konflikt, der 80 000 Menschen das Leben gekostet hat. Mittlerweile sind allerdings auch die Gespräche über einen Ausweg verstummt.

Derzeit trifft man Rajasingham, seine Frau Yoga und ihre drei Söhne jeden frühen Abend im Nallur-Tempel an, dem wichtigsten Hinduheiligtum in der Tamilenhochburg Jaffna im Norden Sri Lankas. Das Ehepaar ist schon das zweite Mal innerhalb eines Jahres in die alte Heimat gereist. Rajasingham lebt seit fünfzehn Jahren in einer Kleinstadt in Westdeutschland. Der 45-Jährige kann sich solche Reisen leisten: Er verdient als Dolmetscher «gutes Geld», wie er selber sagt, und hat – zumindest derzeit – nichts zu befürchten: Alle in der Familie besitzen einen deutschen Pass. 1988 hatte er Sri Lanka verlassen müssen, weil er verfolgt worden war. Jetzt ist er, wie schon im vergangenen Jahr, zurückgekehrt in jenen zerstörten Teil der Insel, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, seine Frau getroffen und geheiratet hat und wo der erste Sohn Santush geboren wurde.

Beim Gang durch die Stadt fällt die Familie Rajasingham auf. Die fünf sind anders gekleidet als die Einheimischen, Yoga hat einen Fotoapparat um den Hals, die Kinder nehmen oft etwas ängstlich das rege Treiben auf den Strassen wahr. Etliche neue Geschäfte sind in Jaffna eröffnet worden, die Stadt wird mit Waren aus Colombo fast überflutet. Coca-Cola an jeder Ecke, Lebensmittelläden und Textilgeschäfte mit reichhaltigem Angebot, Gaskocher, Waschmaschinen und Kühlschränke haben Einzug gehalten, wo es bis vor kurzem keine Stromversorgung gab und Kerzen auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Aber das relativ grosse Warenangebot täuscht – so richtig voran geht es weder in Jaffna noch in den anderen Gebieten im Nordosten, wo zwanzig Jahre lang Bürgerkrieg herrschte. Mindestens 80 000 Menschen haben während dieser Zeit ihr Leben gelassen, und hunderttausende wurden zu Flüchtlingen – wie Rajasingham.

«Als vor eineinhalb Jahren der Friedensprozess begann, waren wir optimistisch, dass die zerstörte Wirtschaft mit Unterstützung der Geschäftsleute aus dem Süden wieder angekurbelt werden könnte», sagt Markadu Ramadasan, Präsident der Industrie- und Handelskammer von Jaffna. Zahlreiche Wirtschaftsdelegationen aus dem Süden (meist der sinhalesischen Bevölkerungsmehrheit angehörend) seien nach Jaffna gereist. Investiert habe aber bisher keiner. Die Lage sei noch zu unübersichtlich, alle scheuten das Risiko, Investitionen «in den Sand zu setzen», sollte der Krieg wieder ausbrechen. Der Wiederaufbau der zerstörten Zement-, Glas-, Aluminium- und Chemieindustrie lässt ebenso auf sich warten wie die Wiederinbetriebnahme der früher in Jaffna florierenden Handwebereien. So überwiegt der Handel, der der Bevölkerung und vor allem den vielen aus anderen Landesteilen zurückkehrenden Flüchtlingen kaum die erhofften Arbeitsplätze bringt.

Keine Friedensdividende

«Die meisten Menschen haben die Friedensdividende noch nicht gespürt», sagt Sathivale Balakrishnan, Direktor des National Peace Councils. Seit dem Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Befreiungstigern von Tamil Eelam (LTTE) Ende Februar 2002 sind zwanzig Monate ins Land gegangen – und immer noch hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage der meisten Menschen nicht verbessert. Die internationale Gebergemeinschaft (ihr gehören neben vierzig Ländern auch Währungsfonds und Weltbank an) hat im Juni 4,5 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau zugesagt, aber noch kann das Geld nicht abgerufen werden. Einerseits steht die Nutzung nicht fest, andererseits ist der Verhandlungsprozess ins Stocken geraten, weil die Regierung von Sri Lanka und die LTTE seit April nicht mehr miteinander gesprochen haben. Sechs Verhandlungsrunden hatte es bis dahin auf neutralem Boden – in Bangkok, Oslo und Berlin – gegeben. Vereinbart wurden zwar Reiseerleichterungen, die Aufhebung der Wirtschaftsblockade über weite Teile des Nordostens und der Abbau von Kontrollen. Der grosse politische Durchbruch ist indes nicht erzielt worden. Seitdem die LTTE die Gespräche verlassen haben, hat sich der Ton wieder verschärft. Es sei ein «vorübergehender Schritt», betonen die tamilischen RebellInnen, weil die Regierung Zusagen nicht eingehalten habe.

Erschwert wird eine Wiederaufnahme mittlerweile noch durch die Forderung der LTTE nach Übernahme der Verwaltung in den Nordostgebieten. Die LTTE, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten bereits über parallele Regierungs- und Verwaltungsstrukturen verfügen, wollen als gleichwertiger Verhandlungspartner anerkannt werden und auch die Verwendung der nahezu unüberschaubaren Geldsummen kontrollieren können, die vom Ausland angeboten werden. Vor allem wollen sie sicherstellen, dass der Grossteil des Geldes – von ihnen kontrolliert – in den Nordosten fliesst, wo der Krieg geführt wurde, und nicht im mehrheitlich sinhalesisch besiedelten Süden versickert.

So wurde die Diskussion über die Interimsverwaltung zum Stolperstein, den sinhalesische Hardliner jetzt nutzen, um den Friedensprozess zu torpedieren. Seit einigen Wochen macht die im Parlament vertretene radikal-sinhalesische Vereinigte Befreiungsfront des Volkes (JVP) Stimmung gegen die bisherigen Vereinbarungen. Eine Verwaltung in LTTE-Hand würde zur Teilung der Insel führen, und dies sei das eigentliche Ziel der Tamil Tigers, sagt die JVP, die vor allem von Jugendlichen unterstützt wird. Sie unterschlägt dabei, dass die LTTE schon vor etlichen Monaten ihre Forderung nach einem eigenen Tamilenstaat aufgegeben und betont haben, dass sie sich auf eine föderale Lösung einliessen, wenn die Tamilengebiete weitgehend Autonomie erhalten. Die Wut der JVP richtet sich auch gegen die ausländischen Vermittler im Friedensprozess.

So haben letzten Monat mehrere tausend JVP-Anhänger vor der norwegischen Botschaft protestiert und Norwegen Komplizenschaft mit der LTTE vorgeworfen. Unterstützt werden diese Proteste von verschiedenen Organisationen des buddhistischen Klerus. Die Mönche haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schon früher eine eher unrühmliche Rolle gespielt und den Konflikt angeheizt. Für den Mönch Ellawella Methananda Thera – er ist Präsident der buddhistischen Nationalen Bhikku Front – waren die Proteste nur der Auftakt zu Aktionen, die in den nächsten Wochen an fünfzig Orten des Landes stattfinden sollen.

Flucht nach vorne

Die Regierung von Premierminister Ranil Wickremesinghe steht also unter Druck – zumal sie sich noch mit Präsidentin Chandrika Kumaratunga auseinander setzen muss, die den Friedensprozess gerne anders gestalten würde. Wickremesinghe sieht sich einerseits den Forderungen der LTTE gegenübergestellt und weiss, dass nur weitere Zugeständnisse eine Wiederaufnahme der Verhandlungen ermöglichen. Andererseits ist dem Premier jedoch auch klar, dass Konzessionen an die LTTE die sinhalesisch-radikalen Parteien und Gruppierungen noch weiter reizen werden. Bisher hat Wickremesinghe die Aktionen seiner Gegner auf der sinhalesischen Seite ignoriert und die Flucht nach vorne angetreten, obwohl es ihm von den LTTE nicht leicht gemacht wird. Die Tigers nutzen derzeit anscheinend die unübersichtliche Lage, um mit politischen Gegnern von einst abzurechnen. Ihnen wird vorgeworfen, während der vergangenen Wochen mehrere dutzend Personen ermordet zu haben.

All diese Ereignisse, die von der Regierung in auffälliger Weise heruntergespielt werden, haben Wickremesinghe nicht davon abgehalten, den tamilischen Rebellen mehrere Modelle über ihre Einbindung in die Verwaltung der Nordostgebiete zu unterbreiten – bisher ohne Erfolg. Mitte Juli wurde ein weiterer Vorschlag an die LTTE herangetragen, über den sich die LTTE-Führungsspitze in Sri Lanka mit führenden Tamilen aus der Diaspora demnächst in Paris beraten will. Dabei soll erstmals auch ein Gegenvorschlag der Tamil Tigers ausgearbeitet werden, den man der Regierung Wickremesinghe im September präsentieren möchte. BeobachterInnen gehen allerdings davon aus, dass es sich bei den zu erwartenden Vorschlägen um so weit gefasste Autonomievorstellungen handeln wird, dass diese von der Regierung nicht akzeptiert werden können. Eine Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses würde dadurch weiter hinausgezögert mit der Folge, dass die zugesagten Milliarden blockiert blieben: ein Teufelskreis, der den vor gut eineinhalb Jahren mit so viel Hoffnung begonnenen Friedensprozess weiter gefährdet. Einige Beobachter halten einen erneuten Ausbruch militärischer Auseinandersetzungen für unvermeidlich. Andere verweisen auf den Druck des Auslands, der vor allem aus den USA und von Indien kommt. Balakrishnan vom Nationalen Friedensrat glaubt, dass sich keine der beiden Parteien angesichts der zunehmenden Internationalisierung des Konflikts einen neuen Waffengang leisten könne.

Rückkehr zu Trümmern

Die Familie Rajasingham wird das weitere Schicksal der ehemaligen Heimat in den deutschen Medien verfolgen. Sie kehrt in ein paar Tagen nach Europa zurück. Auch dieses Mal hat es Rajasingham nicht geschafft, das Haus seiner Eltern zu sehen. Es liegt gut 25 Kilometer nördlich von Jaffna Stadt beim Militärflughafen Palali. Palali ist wie viele andere Gebiete der Halbinsel Jaffna militärisches Sperrgebiet. Die darin liegenden Dörfer – seit vielen Jahren menschenleer – dürfen von ZivilistInnen nicht betreten werden. Zehntausende haben hier vor Kriegsausbruch gelebt. Flüchtlinge, die zurückwollen, bekommen jedoch keine Genehmigung für eine Wiederansiedlung. Auch das stört die LTTE und wird von ihr als Grund für ihren Ausstieg aus den Friedensverhandlungen genannt.

Vielleicht ist es aber auch gut, dass Rajasingham den Ort, in dem er seine Kindheit verbracht hat, nicht besuchen kann. Er liegt, wie unzählige andere Dörfer dieses militärischen Sperrgebietes, in Trümmern. Häuser, Geschäfte und Schulen sind dem Erdboden gleichgemacht. So bleibt dem Tamilen mit deutschem Pass ein wahrscheinlich trostloser Anblick erspart. Rajasingham will im nächsten Jahr wiederkommen und es erneut versuchen – aber nur, wenn dann immer noch Frieden herrscht.

Aus: WoZ, 11. September 2003


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