Delhi gerät in Bedrängnis
Noch schweigt Indiens Regierung zu Flüchtlingsstrom aus Sri Lanka
Von Hilmar König, Delhi *
Der südindische Unionsstaat Tamil Nadu erlebt seit Wochen einen Flüchtlingsstrom aus den
nördlichen Gebieten Sri Lankas, wo schwere Kämpfe zwischen den Streitkräften und den
Befreiungstigern (LTTE) toben.
Die Flüchtlinge kommen in kleinen, überladenen Fischerbooten mit ein paar Habseligkeiten in
Körben und Plastiktüten. Sie kommen täglich, bei jedem Wetter, auch bei hohem Wellengang. Sie
zahlen bis zu 80 Dollar für die riskante Überfahrt. Sie flüchten vor den Bombardierungen, vor den
Feuergefechten, den Minen und den Drohungen beider Kriegsparteien. Sie fliehen über das Meer,
weil der Weg ins Landesinnere versperrt ist, seit am 11. August die Nationalstraße A-9, die durch
das Rebellengebiet führt, geschlossen ist. Es sind meistens Familien von Fischern, von tamilischen
Hindus, die flüchten.
Mindestens 8000 Flüchtlinge wagten seit April die Passage über die Meerenge nach Indien. Nach
Schätzungen von UNO-Hilfsorganisationen sind inzwischen aus den Gebieten um Kilinochi,
Trincomalee und Batticaloa 17 0000 Menschen geflohen und haben Unterschlupf in Notlagern, bei
Verwandten, in Kirchen und Schulen gefunden. Ihre Versorgung mit dem Notwendigsten ist
kompliziert, weil die Hilfsorganisationen wegen der Kämpfe nicht ungehindert operieren können und
die Jaffna-Halbinsel im Norden so gut wie abgeschnitten ist.
Die Hoffnungen der Geflohenen richten sich auf ihre Bluts- und Glaubensbrüder in Indien, die im
Verlaufe des ethnisch-sozialen Konflikts zwischen der tamilischen Minderheit und der
singhalesischen Mehrheit in 23 Jahren wiederholt humanitäre Hilfe leisteten und zehntausende
Flüchtlinge aufnahmen. Und nicht nur das. Ende der 80er Jahre ließ sich der damalige Premier Rajiv
Gandhi sogar dazu verleiten, mit eigenen Truppen in den Konflikt einzugreifen. Dieses Engagement
endete in einem Desaster und hatte nicht nur zur Folge, dass Rajiv Gandhi von einem LTTEKommando
umgebracht wurde, sondern dass indische Regierungen seitdem offiziell auch wenig
Interesse an der Situation in Sri Lanka zeigen. Eine Vermittlerrolle, wie von verschiedenen Parteien
in Colombo und von der internationalen Gemeinschaft gefordert, lehnte Delhi bislang jedenfalls ab.
Die LTTE steht auf dem indischen Index der Terrororganisationen; Delhi fordert die Auslieferung von
Guerillachef Velupillai Prabhakaran.
Angesichts des tamilischen Flüchtlingsstroms aus Jaffna wächst allerdings der Druck indischer
Parteien auf die Regierung von Premier Manmohan Singh, »etwas zu tun« und Colombo und die
Befreiungstiger an den Verhandlungstisch zu zwingen. Tamil Nadus Chefminister Mithavel
Karunanidhi, der eigentlich einen vorsichtigen Kurs gegenüber Colombo bevorzugt, rechtfertigte eine
einmütig vom Parlament in Chennai verabschiedete Resolution, die Solidarität mit den leidenden
Tamilen im Nachbarland ausdrückt und die Angriffe des srilankischen Militärs auf Zivilisten verurteilt.
Karunanidhi erklärte, die Resolution sei wichtig, um Sri Lankas Präsident Mahinda Rajapakse den
Standpunkt Tamil Nadus zu verdeutlichen und zugleich die Regierung in Delhi zu bewegen, nicht
länger passiver Beobachter des Geschehens in Sri Lanka zu bleiben. Der Chefminister, dessen
Partei DMK der in Delhi regierenden Vereinten Progressiven Allianz angehört, sagte den
Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu und beabsichtigt, eine sichere Passage für die
Flüchtlingsboote auszuhandeln.
Die Repräsentanten der KPI (Marxistisch) und der KP Indiens in Tamil Nadu verlangten in einem
Telegramm an den Premier, der Eskalation der Gewalt in Sri Lanka einen Riegel vorzuschieben.
Zumindest sollte sofort großzügige humanitäre Hilfe geleistet werden. Die linke Allindische
Föderation der Studenten rief in den letzten Tagen zu Demonstrationen vor dem Gebäude des
srilankischen Konsulats in Chennai auf. In vorderster Front agiert die Partei MDMK, die aus ihrer
Sympathie für die LTTE kein Geheimnis macht. Einer ihrer Sprecher drohte sogar Delhi damit, eine
Kampagne für ein unabhängiges Tamil Nadu zu beginnen, wenn die Regierung nicht handelt und die
Tamilen Sri Lankas unterstützt.
* Aus: Neus Deutschland, 24. August 2006
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