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Von Flüchtlingen für Flüchtlinge

Somalier im Camp Dadaab haben eine Zeitung gegründet

Von Philipp Hedemann, Dadaab *

Im vergangenen Sommer ging die Hungersnot in Somalia durch alle Medien. Nachdem die ausländischen Journalisten das Flüchtlingslager Dadaab verließen, begannen junge Lagerbewohner, die Geschichten seiner Bewohner niederzuschreiben.

Aden Hassan Farah beugt sich noch etwas tiefer, um die alte Frau besser verstehen zu können. Sie ist so erschöpft, dass sie nur noch flüstern, nicht mehr aufstehen kann. Elf Tage floh sie zu Fuß aus dem Süden Somalias. Jetzt ist sie in Dadaab in Kenia, dem größten Flüchtlingslager der Welt, angekommen. In »The Refugee« (Der Flüchtling) wird Farah ihre Geschichte erzählen. Der 25-Jährige ist Nachrichtenchef der Zeitung von Flüchtlingen für Flüchtlinge.

»Ich bin selbst aus Somalia geflohen. Ich kann mir vorstellen, was die Frau durchgemacht hat«, sagt Farah. Der Journalist war gerade fünf Jahre alt, als er mit seiner Familie aus der Hauptstadt Mogadischu flüchtete. Wie es ist, halbverhungert tagelang durch die Steppe zu irren, weiß er aber nicht. Sein Vater war bis 1991 Minister unter Siad Barre. Als Warlords den somalischen Diktator stürzten, entkam Farah mit seinen Eltern und Geschwistern im Geländewagen. Schwerbewaffnete Leibwächter beschützten sie damals auf dem Weg nach Dadaab. 21 Jahre später schreibt Farah über seine eigenen Erfahrungen und das Schicksal von fast 500 000 Somaliern, die vor dem Bürgerkrieg nach Kenia flohen.

Als im vergangenen Sommer die Reporter von CNN, BBC, Reuters und der »New York Times« einflogen, merkten Farah und seine Freunde, dass man sich doch für sie interessiert. Jahrelang hatten sie den Eindruck, der Rest der Welt hätte die Betroffenen des seit über 20 Jahren währenden Bürgerkrieges und der schlimmsten Dürre seit mehr als einem halben Jahrhundert vergessen. Die Hunger- und Flüchtlingskatastrophe machte plötzlich weltweit Schlagzeilen. Mittlerweile sind die ausländischen Journalisten weitergezogen. Damit die Zelt- und Hüttenstadt nicht wieder in Vergessenheit gerät, hat Farah mit acht weiteren Lagerbewohnern »The Refugee« gegründet.

Aus Flüchtlingen wurden Journalisten

Abdi Abdullahi ist erst 27 Jahre alt und schon Chefredakteur des Blattes. Mit sieben Jahren geriet das Haus seiner Familie in der südsomalischen Hafenstadt Kismayo unter Granatbeschuss des Warlords Aidid. »Mein Vater, meine Mutter und zwei meiner Geschwister wurden von der Granate zerfetzt. Ich war mit meinen beiden jüngeren Schwestern in einem anderen Raum. Wir blieben unverletzt und rannten los. Nach Dadaab«, sagt der Journalist.

Abdullahi hat seine Geschichte oft erzählt, vor über einem Jahr schrieb er sie in einem Essaywettbewerb das erste Mal auf. Er gewann den ersten Preis und erhielt in Dadaab einen Journalismuskurs. Ibrahim Hirsi, selbst ein ehemaliger somalischer Flüchtling, der mittlerweile in den USA Journalismus studiert, führte Abdullahi und sein Team in das Schreiben von Reportagen, Kommentaren und Nachrichten ein. Er zeigte ihnen, wie man ein Interview führt, mit Digitalkamera, Diktiergerät und Computer umgeht. Kurz darauf erschien die erste Ausgabe von »The Refugee«.

»Meine Redakteure und ich haben oft als Fixer und Übersetzer für ausländische Journalisten in Dadaab gearbeitet. Irgendwann haben wir uns gedacht: Wir leben hier, wir kennen hier jeden und jedes Problem, wir brauchen keine Übersetzer. Die Leute vertrauen uns. Was die ausländischen Journalisten machen, können wir auch. Vielleicht sogar besser«, so Abdullahi. Er und seine Freunde hatten es satt, dass immer nur über sie, nie von ihnen berichtet wurde. Doch wie macht man eine Zeitung in einem Flüchtlingslager, in dem es selten Strom, kaum Internet, kein Papier und keine Druckmaschine gibt?

Abgetippt in Dadaab, gedruckt in Nairobi

Ein Redaktionsbüro haben Abdullahi, seine sechs männlichen und zwei weiblichen Kollegen nicht. Sie sind meist zu Fuß im Flüchtlingslager unterwegs und schreiben ihre Artikel handschriftlich vor. Abgetippt werden sie dann im Büro der vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen unterstützten Organisation FilmAid International oder in ihren Hütten auf dem einzigen Redaktionslaptop, der von Redakteur zu Redakteur wandert. Mit Hilfe eines kenianischen Journalisten gestalten sie die acht Seiten, schicken die fertige PDF-Datei per E-Mail in die Hauptstadt Nairobi. Dort wird »The Refugee« gedruckt und mit einem mit Hilfslieferungen beladenen Lastwagen in das 500 Kilometer entfernte Flüchtlingscamp gebracht, die letzten drei Stunden mit Polizeischutz über eine staubige Piste. Seit Kenia im Oktober in Somalia einmarschierte, kommt es immer wieder zu Vergeltungsschlägen der Al-Shabaab-Miliz auf kenianischem Boden, aus Dadaab wurden zwei spanische Mitarbeiter von »Ärzte ohne Grenzen« entführt. »Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert. Das internationale Personal musste zeitweise aus dem Lager abgezogen werden«, erklärt der 28-jährige Australier Rafiq Copeland, der das Zeitungsprojekt für FilmAid International in Dadaab betreut. Die Auslieferung der sechsten Ausgabe hat sich deshalb mehrfach verzögert.

»›The Refugee‹ gibt uns Flüchtlingen eine Stimme. Wir erfahren, wo wir im Lager Hilfe bekommen, wir lesen von Flüchtlingen, die es geschafft haben, Dadaab zu verlassen und uns so Mut machen. Und die Zeitung berichtet von der schlimmen Situation in unserer Heimat Somalia«, erzählt Flüchtling Idriss, der die Zeitung im Schatten eines Baumes laut vorliest. Rund 20 Menschen hören ihm gebannt zu, die meisten von ihnen können selbst nicht lesen.

Viele Flüchtlinge fieberten der nächsten Ausgabe geradezu entgegen. »Dadaab hat bald eine halbe Million Einwohner. Bis es ›The Refugee‹ gab, war es wahrscheinlich die einzige Stadt dieser Größe, die keine eigene Zeitung hatte. Das ist schon fast kriminell«, sagt Copeland.

»The Refugee« gibt nicht nur den neun Redakteuren und Redakteurinnen, die von Karrieren bei CNN oder Al-Dschasira träumen, eine Zukunftsperspektive. Es hilft auch den Lesern.

Immer wieder Thema: Gewalt im Camp

Nach einem Bericht über einen Flüchtling mit einem kürbisgroßen Tumor im Gesicht sammelten die Bewohner Spenden und finanzierten so die lebensrettende Operation in Nairobi. Nach einer Reportage über Albinos im Lager begriffen die Bewohner, dass die weißen Somalier keineswegs verhext sind, ihnen nur Pigmente fehlen. Die Diskriminierung ließ nach.

Eines der immer wiederkehrenden Themen ist die eskalierende Gewalt im völlig überfüllten Lager. Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen sind in der Zeltstadt keine Seltenheit. Chefredakteur Abdi Abdullahi ist selbst unmittelbar betroffen. Nach dem tödlichen Granatenangriff auf das Haus seiner Eltern erreichte er nach tagelanger Flucht mit seinen beiden jüngeren Schwestern das Camp in Dadaab. »Als wir ankamen, dachten wir, wir hätten es geschafft. Aber Sharifo, meine jüngste Schwester, wurde im Lager so oft vergewaltigt, dass sie schließlich an den Folgen starb«, erzählt der Nachwuchsjournalist.

Über Sharifo berichtete keiner der ausländischen Korrespondenten von CNN oder der »New York Times«. Für sie war das Schicksal der Schwester des »The Refugee«-Redakteurs keine große Story.

* Aus: neues deutschland, 28. Februar 2012


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