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Gegen Vernunft und Moral

In Somalia stützt die "internationale Gemeinschaft" eine nicht legitimierte Regierung gegen das eigene Volk. Indessen fehlt Geld für humanitäre Hilfe

Von Knut Mellenthin *

Ginge es nach der Afrikanischen Union (AU), wäre Somalia das nächste Land, in dem die ­NATO unter dem Vorwand einer Flugverbotszone Krieg führen könnte oder viel mehr sogar müßte. Seit dem 23. Mai 2009 liegt eine entsprechende Forderung des Zusammenschlusses von über 50 Staaten des Kontinents beim UN-Sicherheitrat. Die AU wiederholte ihren Appell an die Vereinten Nationen seither mehrfach, so im März vorigen Jahres und noch einmal im Oktober. Mit der Behauptung, diese Maßnahme sei unbedingt nötig, um »Angriffe gegen die somalische Bevölkerung zu verhindern«, wählten die afrikanischen Regierungen sogar ein mittlerweile vertrautes und scheinbar unschlagbares Argument. Trotzdem verhallte ihr Ruf ungehört, wurde noch nicht einmal von westlichen Staaten oder notorischen »humanitären Interventionisten« aufgegriffen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sich, so weit es jedenfalls aus den veröffentlichten Sitzungsprotokollen ersichtlich ist, mit dieser Frage bisher nicht befaßt.

In Somalia wird seit dem Sturz des autoritären Regimes von Siad Barre im Januar 1991 ununterbrochen Bürgerkrieg geführt. Mit Somaliland und Puntland sind zwei international nicht anerkannte Territorien aus dem Staatsverband ausgeschieden. Somaliland, dessen Grenzen ungefähr denen der früheren britischen Kolonie entsprechen, beansprucht seit 1991 volle Unabhängigkeit. Puntland im Nordosten, das sich 1998 lossagte, betont sein Festhalten an einer föderativen Gemeinschaft mit dem Rest des Landes, geht aber in der Realität völlig eigene Wege. Somaliland und Puntland haben zwar erhebliche interne Probleme und einen zeitweise auch militärisch ausgetragenen Grenzkonflikt miteinander, sind aber vom somalischen Bürgerkrieg im Wesentlichen nicht berührt.

Destabilisierung und Aufsplitterung

Die von der UNO eingesetzte, nicht durch Wahlen legitimierte sogenannte Übergangsregierung (TFG) kontrolliert nach eigenen Angaben ungefähr 60 Prozent von Mogadischu. Außerhalb der Hauptstadt ist sie so gut wie bedeutungslos. Den größten Teil des Landes beherrschen islamische Fundamentalisten, die seit letztem Jahr nur noch durch eine gemeinsame Organisation, Al-Schabab, repräsentiert werden. Ferner gibt es auf dem Territorium Somalias auch noch das halbstaatliche Gebilde Galmudug, das immerhin größer als Bayern ist, und die von dem Bündnis Ahlu Sunna (AS) beherrschten Gebiete in verschiedenen Landesteilen, und schließlich die Machtbereiche lokaler Clans und Warlords, unter denen derzeit die Verwaltung des Schabelle-Tales im Süden Somalias die größte Bedeutung hat.

Die politische Frontlinie des Bürgerkriegs verläuft gegenwärtig so gut wie ausschließlich zwischen Al-Schabab und den übrigen Kräften, die unterschiedliche Bündnisbeziehungen eingegangen sind. Ein zentraler militärischer Faktor ist eine afrikanische »Friedenstruppe« namens AMISOM, die nur in Mogadischu stationiert ist und dort den Untergang der Übergangsregierung verhindern soll. Sie besteht derzeit aus 8000 bis 9000 ugandischen und burundischen Soldaten; in Kürze soll sie auf 12000 Mann aufgestockt werden.

Zurück zur Forderung der Afrikanischen Union nach der gewaltsamen Durchsetzung einer Flugverbotszone über Somalia. Beflügelt vom NATO-Krieg gegen Libyen hat Ugandas diktatorisch regierender Präsident Yoweri Museveni das Thema dieser Tage wieder aufgegriffen und dabei sogar antiwestliche Töne angeschlagen: »Gibt es denn in Somalia keine menschlichen Lebewesen, die denen in Bengasi gleichen? Oder liegt es daran, daß Somalia kein Öl hat, das sich wegen der nationalistischen Haltung von Ghaddafi nicht unter voller Kontrolle westlicher Gesellschaften befindet?«

Die Intention der AU ist offensichtlich, die von ihr einseitig unterstützte Übergangsregierung gegen die islamistischen Rebellen zu stärken. Diese besitzen jedoch weder Militärflugzeuge noch Kampfhubschrauber. Das gilt im übrigen für alle an dem Bürgerkrieg beteiligten Kräfte, selbst für AMISOM. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat zwar im März vorgeschlagen, die afrikanische »Friedenstruppe« mit einigen Hubschraubern auszustatten, ohne sich über deren Zahl, Ausrüstung und Aufgaben zu äußern. Aber darüber sind noch keine Beschlüsse gefaßt worden.

Worum geht es also in Wirklichkeit bei der Forderung der Afrikanischen Union an die UNO? Der Friedens- und Sicherheitsrat der AU formulierte es am 15. Oktober 2010 so: »Durchsetzung einer Seeblockade und einer Flugverbotszone über Somalia, um das Eindringen ausländischer Elemente nach Somalia ebenso zu verhindern wie Flüge und Schiffstransporte, die bewaffneten Gruppen innerhalb Somalias, die Angriffe gegen die TFG, AMISOM und die somalische Bevölkerung durchführen, Waffen und Munition bringen.«

In der Realität spielen jedoch, abgesehen von der afrikanischen »Friedenstruppe«, Ausländer im somalischen Bürgerkrieg keine große Rolle. Für ihre Behauptungen, daß Hunderte von pakistanischen, jemenitischen oder irakischen »Al-Qaida-Anhängern« auf seiten von Al-Schabab kämpfen, ist die TFG Beweise schuldig geblieben. Angesichts des in der somalischen Bevölkerung verbreiteten starken Mißtrauens gegen fremde Einflüsse wäre das auch keine kluge Taktik der Islamisten. Mit Waffen und Munition versorgen sie sich hauptsächlich durch Überläufer und durch Käufe auf den Märkten, wo militärisches Gerät, sogar Ausrüstungsgegenstände von AMISOM, erhältlich sind. Ein großer Teil der Waffen, die die USA vor einigen Monaten der TFG schenkten, landete nach Aussagen eines ehemaligen Verteidigungsministers der Übergangsregierung wenig später auf dem Bakaara-Markt, dem größten Verkaufsgelände von Mogadischu. Im übrigen üben die zahlreichen Kriegsschiffe der NATO und anderer Staaten, die im Zeichen der Piratenbekämpfung vor der somalischen Küste versammelt sind, jetzt schon eine Kontrolle der Seewege rund um Somalia aus.

Kampf um Hafeneinnahmen

Was die AU mit ihren Forderungen nach Seeblockade und Flugverbot – selbstverständlich nur gegen die Islamisten – in Wirklichkeit bezweckt, ist zweierlei: Erstens eine stärkere Internationalisierung des somalischen Bürgerkriegs, wozu bei der NATO bisher noch keine Neigung zu erkennen ist. Zweitens eine Unterbrechung des zivilen Frachtverkehrs in die von Al-Schabab beherrschten Teile des Landes. Vor allem geht es dabei um die erheblichen Einnahmen, die die Islamisten aus dem von ihnen kontrollierten großen Hafen Kismajo in Südsomalia und daneben auch aus Merka, etwa 70 Kilometer südlich von Mogadischu gelegen, beziehen.

Unterstützung für dieses Anliegen gab es im UN-Sicherheitsrat erstmals von Indien, dessen Vertreter die TFG am 10. März aufforderte, »die Kontrolle über Kismajo zu übernehmen, um den Mißbrauch der Hafeneinnahmen zu verhindern«. Da Hardeep Singh Puri so gut wie alle anderen UN-Diplomaten weiß, daß die Übergangsregierung dazu militärisch absolut nicht in der Lage ist, steht die Frage, wie der Inder seinen Appell meinte und wer dessen wirklicher Adressat war.

Neben Seeblockade und Flugverbot wünscht sich die Afrikanische Union schon lange eine Verbreiterung der Basis für die internationale Militärintervention in Somalia. Das Minimum wäre eine Mandatierung von AMISOM durch den UN-Sicherheitsrat. Bisher handelt es sich formal um eine Friedenstruppe der AU, die vom Sicherheitsrat lediglich »autorisiert« ist. Noch lieber wäre der AU eine breit getragene Intervention unter dem Schirm der Vereinten Nationen. Aufforderungen zu diesem Zweck werden regelmäßig an den Sicherheitsrat gerichtet, von diesem gelegentlich zur »Prüfung« an den Generalsekretär weitergereicht, aber bisher noch nicht ernsthaft diskutiert. Ban Ki Moon hatte schon im April 2007, kurz nach Beginn seiner Amtszeit, erklärt, daß eine Intervention nur unter der Voraussetzung eines Kampfauftrags sinnvoll wäre. Dafür käme keine UNO-Blauhelmtruppe, sondern nur eine vom Sicherheitsrat mandatierte »Koalition der Willigen« in Betracht.

Die Abneigung der »internationalen Gemeinschaft«, militärisch direkt in den somalischen Bürgerkrieg einzugreifen, scheint in den negativen Erfahrungen der UN-Missionen zwischen 1992 und 1995 zu wurzeln. Diese hatten, nach Verlusten der US-Truppen, die einen großen Teil der Interventen stellten, mit einem überstürzten Rückzug geendet. Das erste, im April 1992 vom Sicherheitsrat beschlossene Mandat hatte als Aufgaben lediglich die Versorgung der Bevölkerung, Unterstützung der Versöhnung zwischen den Bürgerkriegsparteien und Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen vorgesehen. Das zweite Mandat vom März 1993 sah darüber hinaus die Gewährleistung der humanitären Hilfslieferungen auch mit Waffengewalt und aktive Beiträge zur Beendigung des Bürgerkriegs vor. Die US-Regierung legte das als Lizenz zur gezielten und einseitigen militärischen Einmischung aus. Dieses Vorgehen wurde durch eine Resolution unterstützt, die der Rat am 6. März 1993 einstimmig verabschiedete, nachdem am Vortag 23 pakistanische UN-Soldaten bei einem Gefecht getötet worden waren. Die Entschließung forderte neben der Festnahme und Bestrafung der somalischen »Verantwortlichen« für den Zwischenfall auch die gewaltsame Durchsetzung der Entwaffnung aller Milizen. In der Folge wurden bei Luftangriffen Dutzende Zivilisten ermordet. Am 9. September 1993 wurden 200 Frauen und Kinder getötet, als US-Soldaten in eine demonstrierende Menschenmenge schossen. Am 22. September 1993 beschloß der Sicherheitsrat, die Mission bis März 1995 zu beenden. Separat kündigte Präsident William Clinton am 7. Oktober 1993 den Rückzug aller US-Truppen bis Ende März 1994 an.

Seither haben die USA es vorgezogen, in den somalischen Bürgerkrieg nur indirekt einzugreifen. So ermutigten und förderten sie im Jahr 2006 die Intervention des christlich regierten, traditionell mit Somalia verfeindeten Nachbarlandes Äthiopien. Zunächst in begrenzter Anzahl und inoffiziell, seit Dezember 2006 ganz massiv unterstützten Streitkräfte des Regimes in Addis Abeba die somalische Übergangsregierung gegen die Islamisten. Diese zogen sich zunächst flexibel aus fast allen von ihnen beherrschten Städten zurück und leisteten lediglich in Mogadischu noch Widerstand. Um diesen zu brechen, setzte das äthiopische Militär im Frühjahr 2007 Panzer und Artillerie ein, mit denen es ganze Stadtviertel zerstörte. Mehrere hunderttausend Menschen mußten aus der Hauptstadt flüchten. Der UN-Sicherheitsrat tolerierte das brutale Vorgehen der Äthiopier stillschweigend. In der somalischen Bevölkerung hingegen führte das Bündnis der TFG mit dem Nachbarland weithin zu einem politischen und militärischen Umschwung zugunsten der Islamisten. Im Januar 2009 zogen sich die äthiopischen Truppen offiziell aus Somalia zurück, tauchen allerdings immer wieder mit kleinen Verbänden in grenznahen Gebieten auf. Sie unterstützen dort von ihnen ausgebildete und ausgerüstete somalische Milizen, vor allem Ahlu Sunna.

Seit Frühjahr 2007 ist die »Friedenstruppe« AMISOM in Mogadischu stationiert. Sie besteht– trotz fortwährender Bemühungen um die Beteiligung weiterer afrikanischer Staaten – immer noch ausschließlich aus ugandischen und burundischen Soldaten. Bis vor kurzem war es nicht einmal möglich, die ursprünglich von der AU beschlossene Personalstärke von 8000 Mann zu erreichen. Am 22. Dezember 2010 autorisierte der UN-Sicherheitsrat die Verstärkung auf 12000 Soldaten, die sich Uganda und Burundi teilen wollen. Der Rat blieb damit weit hinter der Forderung der AU zurück, die sich eine 20000 Mann starke ausländische Interventionsarmee wünscht. Diese soll in ganz Somalia offensiv agieren, während AMISOM ausschließlich auf die Hauptstadt beschränkt ist und sich bis vor wenigen Monaten auf defensive Operationen beschränkte. Dazu gehört insbesondere der Schutz von Regierungsgebäuden sowie des Hafens und des Flughafens, die alle im Süden von Mogadischu liegen. Ein landesweites Agieren von AMISOM wäre allerdings denselben Problemen ausgesetzt, an denen schon die äthiopische Intervention scheiterte, vor allem der strukturellen Schwäche und der Verletzbarkeit der Nachschubwege.

Mit politischer Logik ist das sture Festhalten der Afrikanischen Union und darüber hinaus der gesamten »internationalen Gemeinschaft« am Einsatz von immer mehr ausländischen Soldaten in Somalia nicht nachzuvollziehen. Daß diese Strategie gerade dort ganz besonders kontraproduktiv wirkt, ist offensichtlich und war von Anfang an vorauszusehen. Im übrigen ist die einseitige militärische Unterstützung einer durch nichts legitimierten, im Lande nahezu einflußlosen Regierung, damit diese ihren Krieg gegen große Teile des eigenen Volkes fortsetzen kann, das genaue Gegenteil der Propaganda, mit der die NATO ihre »humanitäre Intervention« in Libyen rechtfertigt.

Humanitäre Notlage

Dabei könnte Somalia eine wirkliche humanitäre Intervention durchaus brauchen: 2,4 Millionen Menschen sind aufgrund des Bürgerkriegs auf ausländische Hilfe angewiesen. Die Lage hat sich derzeit durch eine außergewöhnliche Dürreperiode noch verschärft. Aber, so klagt die UNO: Die Geldmittel, die die »internationale Gemeinschaft« dafür zur Verfügung stellt, werden trotz dramatischer Appelle immer geringer. Von 530 Millionen Dollar, die akut benötigt würden, wurde nach UN-Angaben erst ein Viertel aufgebracht.

Seit dem Sturz von Siad Barre 1991 gibt es in Somalia keine reale Zentralgewalt mehr. Unter großer Anteilnahme der »internationalen Gemeinschaft« wurden immer wieder – meist im Ausland – nach fragwürdigen Kriterien sogenannte Übergangsregierungen zusammengeschoben, die zwar international anerkannt waren, aber nicht die Verhältnisse im Land widerspiegelten. Keine von ihnen war demokratisch legitimiert. Die TFG wird meist als 13. Übergangsregierung seit 1991 gezählt. Sie wurde im Jahr 2004 auf einer monatelangen Konferenz in Kenia konstruiert, die unter der Obhut der AU und der UNO stattfand. Damals wurden drei »Übergangsinstitutionen« geschaffen: eine Regierung, ein Parlament und eine Verfassung. Sie sollten bis zum Jahr 2009 gültig bleiben und dann durch eine demokratische Entwicklung abgelöst werden, die auch freie Wahlen einschließen sollte.

Der »Djibouti-Friedensprozeß« des Jahres 2008 verschaffte der TFG einen Aufschub von zwei Jahren. Gemeint ist mit diesem Begriff die Einbeziehung gemäßigter Islamisten in die Übergangsinstitutionen. Die Verhandlungen hatten im benachbarten Djibouti, dem früheren Französisch-Somaliland, stattgefunden. Als Ergebnis dieser Einigung wurde das Parlament, das bis dahin 275 Sitze hatte, um 200 Repräsentanten der Islamisten vergrößert. Hinzu kamen außerdem 75 Vertreter von »gesellschaftlichen Gruppen« und Exil-Somalis. Dadurch hat das Parlament nun 550 Mitglieder, die aber nur selten einigermaßen vollständig zusammenkommen. Viele Abgeordnete leben mit ihren Familien im Ausland und reisen nur ungern zu Sitzungen nach Mogadischu.

Teil der in Djibouti ausgehandelten Neuverteilung der Macht war außerdem, daß der angesehene Islamistenführer Sharif Sheikh Ahmed im Januar 2009 das Präsidentenamt übernahm. Bemerkenswert ist, daß die gelungene Spaltung der Fundamentalisten, die im ersten Moment wie ein großartiger Cup aussah, der Übergangsregierung weder politisch noch militärisch viel gebracht hat. Letztlich hatte man nur ein paar Politiker eingekauft, konnte aber deren Basis in der Bevölkerung – und die meisten ihrer Milizionäre – nicht überzeugen und einbeziehen.

Im Zuge des »Djibouti-Friedensprozesses« wurde der August 2011 als neues und nunmehr wirklich endgültiges Ende der sogenannten Übergangsperiode festgelegt. Das würde unter anderem die Durchführung von landesweiten Wahlen voraussetzen. Daß dies technisch ausgeschlossen ist und außerdem politisch zu unerwünschten Ergebnissen führen könnte, ist nicht nur der TFG, sondern auch der gesamten »internationalen Gemeinschaft« bewußt. Diese, angeführt vom UN-Sicherheitsrat, wollte das Problem durch eine Reihe von »Konsultationen« überbrücken, die eine relevante, das heißt wirkliche Repräsentativität bewirkende Verbreiterung der Übergangsregierung vortäuschen sollten.

Praktisch wäre es dabei wohl um einen Umbau der TFG und des Parlaments unter internationaler Kontrolle und Einflußnahme gegangen. Ein wesentliches Defizit ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich das im Frühjahr 2010 vereinbarte Bündnis zwischen der TFG und Ahlu Sunna bisher nicht oder nicht ausreichend in einer Beteiligung an den Übergangsinstitutionen niedergeschlagen hat. Eine Kooptierung von AS-Abgeordneten ins Parlament – analog zum Vorgehen beim »Djibouti-Friedensprozeß«– fand nicht statt. Von den drei Politikern, die als AS-Vertreter in die Übergangsregierung aufgenommen wurden, fühlt sich der Mehrheitsflügel dieser Gruppierung nicht repräsentiert. Auch sonst möchten maßgebliche Teile der »internationalen Gemeinschaft« eine Neubesetzung des Parlaments erreichen, nur eben in internen Beratungen, ohne Wahlen. Beispielsweise könnten einige Clans, Unterclans und Regionen stärker als bisher berücksichtigt werden. Da man aber die Zahl der Abgeordneten nicht endlos ausdehnen kann, könnte das für etliche Parlamentarier das Ende ihrer politischen Laufbahn bedeuten.

Selbstermächtigung statt Wahlen

Das Parlament wehrt sich deshalb auch am stärksten gegen diesen Plan. Im Februar beschlossen die Abgeordneten mit großer Mehrheit, ihre Amtszeit einfach um weitere drei Jahre zu verlängern. Die Regierungen von USA und EU protestierten zwar und verlangten, diese einseitige Maßnahme wieder rückgängig zu machen. Trotz völliger finanzieller Abhängigkeit vom Ausland beugten sich die Parlamentarier aber bisher nicht dem Druck, sondern bedienten sich sogar einer nationalistischen Rhetorik gegen fremde Einmischung. Offenbar sind sie davon überzeugt, daß die »internationale Gemeinschaft«, die noch nie über alternative Optionen zur einseitigen Fixierung auf die Übergangsinstitutionen diskutiert hat, noch mehr auf diese angewiesen sind als umgekehrt. Außerdem wird die eigenmächtige Amtszeitverlängerung von der nordostafrikanischen Regionalorganisation IGAD und von der AU unterstützt.

Komplizierter ist die Situation der TFG, die einen fast permanenten politischen Kleinkrieg mit dem Parlament und insbesondere dessen Sprecher Sharif Hassan Sheikh Aden führt. Ende März beschloß das Kabinett, seine Amtszeit um ein Jahr zu verlängern. Das will das Parlament aber nicht akzeptieren, sondern hat schon angekündigt, daß der Präsident und die Übergangsregierung auf jeden Fall im August neu gewählt werden sollen. Zuständig für beides ist nach dem bisherigen Verfahren das Parlament. Präsident Sharif Sheikh Ahmed und die TFG haben daraufhin sofort angekündigt, daß sie sich der Entscheidung der Abgeordneten nicht unterwerfen wollen.

Als nächster Schritt der »internationalen Gemeinschaft« ist eine »Konsultationskonferenz« mit möglichst breiter somalischer Beteiligung geplant, die am 12. und 13. April in der kenianischen Hauptstadt Nairobi stattfinden soll. Offizieller Einlader ist der Sonderbotschafter der UNO für Somalia, Augustine Mahiga aus Tansania. Er wünscht sich, daß neben der TFG auch Ahlu Sunna, Clans und andere regionale Machtgruppen sowie Somaliland, Puntland und Galmudug vertreten sein sollen. Die TFG sieht darin eine Aufwertung der Separatisten und einen Versuch, die personelle Neubesetzung der Übergangsinstitutionen doch noch durchzusetzen. Mahigas Beteuerungen, die Konferenz solle lediglich beraten und keine Entschlüsse fassen, haben die TFG offenbar nicht überzeugt. Sie hat deshalb angekündigt, das Treffen in Nairobi zu boykottieren. Nicht teilnehmen will auch Somaliland, um gar nicht erst den Verdacht zuzulassen, etwas mit dem übrigen Somalia zu tun zu haben. Offen ist noch die Haltung Puntlands und Galmudugs ebenso wie des Parlaments in Mogadischu. Seit dem Wochenende zeichnet sich aber ab, daß auch dieses zum Boykott der Konferenz aufrufen wird. Mindestens 100 Abgeordnete haben eine entsprechende Erklärung unterzeichnet, die demnächst im Plenum diskutiert werden soll. Die Parlamentarier richten scharfe Angriffe gegen Mahiga, dem sie vorwerfen, die somalischen Übergangsinstitutionen zerstören zu wollen. Damit wäre das Treffen in Nairobi vermutlich jetzt schon erledigt. Die »internationale Gemeinschaft« wird sich etwas Neues einfallen lassen müssen.

* Aus: junge Welt, 5. April 2011


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