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Wird das Friedensprojekt den Krieg neu entfachen?

Die neue Regierung Somalias - nur eine Fraktion im Bürgerkrieg

Eine ernüchternde Analyse von Gérard Prunier

Nachfolgenden Beitrag haben wir der Vierteljahreszeitschrift des kirchlichen Entwicklungsdienstes "der überblick" (Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit) entnommen. Der Autor, Dr. Gérard Prunier ist Historiker und Afrika-Experte am Centre National de Recherche Scientifiques in Paris und Spezialist für Ost- und Zentralafrika sowie das Horn von Afrika. Die zentrale These von Prunier lautet: Falls die neue Regierung in Mogadischu versucht, die Hoheit über ganz Somalia zu beanspruchen, wird sie den Bürgerkrieg wieder anheizen. Die internationale Unterstützung für den neuen Präsidenten Somalias, Abdikassim Salad Hassan, ist deshalb ein Irrweg. Wir dokumentieren den Beitrag leicht gekürzt. Die Zeitschrift "der überblick" kann bestellt werden über e-mail: ueberblick@t-online.de.

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Somalia hat wieder einen Präsidenten. Nach dreimonatigen Gesprächen in der Kleinstadt Arta nahe Dschibuti bestimmte im August 2000 eine Gruppe von Somaliern im Exil Abdikassim Salad Hassan zum Präsidenten einer Übergangsregierung. Einige Wochen später begab sich Hassan, ein ehemaliger Minister des Regimes von General Siad Barre (1969-1991), nach Somalias Hauptstadt Mogadischu ... Anschließend ernannte er Ali Khalif Galayd zu seinem Ministerpräsidenten. Dann reiste der Präsident der Übergangsregierung nach New York, wo er von der Generalversammlung der Vereinten Nationen empfangen wurde. Diese spendete ihm Beifall und begrüßte in der Person Hassans jenen Vorgang, der, wie die Weltorganisation hoffte, die Wiedergeburt des Staates Somalia darstellte. Auch die Intergovernmental Authority on Development (IGAD, eine von den Staaten der Region getragene Behörde), die Organisation der afrikanischen Einheit (OAU) und die Europäische Union haben ihre Unterstützung für den laufenden Friedensprozess zum Ausdruck gebracht, ebenso die Arabische Liga, die auch finanzielle Unterstützung zugesichert hat.

Doch obwohl der Friedensprozess von Arta mit solch schöner Einmütigkeit begrüßt wurde, ist er nicht nur ungeeignet, Frieden zu stiften, sondern droht sogar den Krieg wieder aufflammen zu lassen. Die Übergangsregierung regiert nur über einen sehr kleinen Teil von Mogadischu und scheint im Begriff, sich zu einer weiteren Fraktion im somalischen Bürgerkrieg zu entwickeln. ...

... Die Somali sind zweifellos ein Volk - und aus ethnischer, kultureller, sprachlicher und religiöser Sicht sogar ein sehr homogenes. Eben das scheinbare Paradox - der erbitterte Fraktionskampf innerhalb eines homogenen Volkes - hat die Beobachter, die sich erst seit dem Zusammenbruch des somalischen Staates im Jahre 1991 für dieses Land interessieren, am meisten überrascht. Für alle, die Somalia schon viel länger kennen, hat das Geschehen dagegen nichts Überraschendes.

Denn "das somalische Volk" ist im Wesentlichen ein kultureller Begriff. Eine somalische Nation - das heißt ein Gebilde, das bewusst in politischer Form organisiert ist und einen Staat hervorbringt - hat es nie gegeben. Vor der Kolonisierung durch europäische Mächte hat nie ein Staat im heutigen Somalia bestanden. Mehr noch, man könnte sogar sagen, dass die somalische Kultur eine der stärksten antistaatlichen Kulturen war, die es je auf der Welt gegeben hat. Der große britische Fachmann für die Welt der Somali, Ioan Lewis, hat die somalische Gesellschaft wohlwollend als "Hirten-Demokratie" bezeichnet. Eine realistischere Formel, die er zweifellos wegen ihrer abwertenden Beiklangs vermeiden wollte, wäre "Hirten-Anarchie" gewesen. Der Begriff "Anarchie" ist hier wohlgemerkt im politikwissenschaftlichen Sinne und nicht im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu verstehen. Die somalische Kultur ist prinzipiell antiautoritär - nicht weil sie individualistisch wäre (sie ist im Gegenteil völlig kollektivistisch), sondern weil sie antistaatlich ist. Wie die Indianer in den Grasländern Nordamerikas oder die Beduinen im vorislamischen Arabien besaßen die somalischen Nomaden nie die notwendigen wirtschaftlichen Mittel oder die örtliche Stabilität, um einen Staat zu entwickeln. Im Gegenteil: In ihrer Welt, die von ständiger Bewegung geprägt war, war die gesellschaftliche Solidarität an die Herkunft gebunden, an die Familienzugehörigkeit und über die Familie hinaus an die Klan-Zugehörigkeit. Der "Ausweis der Klan-Identität" eines Mannes war gleichzeitig sein Soldbuch, seine Sozialversicherungskarte, seine Nummer im Handelsregister und seine persönliche Visitenkarte. Von seiner Stellung innerhalb des Klans hingen seine Freundschaften und Feindschaften ab, seine Möglichkeiten, Hilfe zu bekommen, und damit seine Chancen, Handel zu treiben, sowie seine Identität, seine Seele. Fern von jedem Staat hat der Somali stets und vor allem als ein Wesen gelebt, das in ein Gewebe gesellschaftlicher Beziehungen - in Klane, Subklane und Lineages - eingebettet ist, die hierarchisch, jedoch nicht autoritär sind. (Klane setzen sich aus Subklanen zusammen und diese aus Lineages. Die gemeinsamen Vorfahren, auf die sich eine Lineage zurückführt, sind den Mitgliedern in der Regel noch bekannt, während sie bei Klanen bereits legendär sein können; Anm. d. Red.) Niemand gehorcht, aber jeder arbeitet mit.

Das Problem ist, dass alle nur entsprechend ihrer Stellung im Klan mitarbeiten. Dies befindet sich zwangsläufig in Konkurrenz zur idealen Organisation des Staates, derzufolge alle Staatsbürger nicht nur gleich, sondern auch gleichwertig sind. Die Somali besitzen jedoch keine Vorstellung von einer abstrakten Staatsangehörigkeit. Jeder weiß durchaus, dass er ein Somali ist, das aber nur insoweit, wie er gegen die Gal (die Christen), die Habash (die Abyssinier) oder die Araber kämpfen muss. Außerhalb dessen ist er kein Somali. Derselbe Somali ist zum Beispiel ein Hawiye, wenn er einem Darod gegenübersteht, ein Habr Gidir, wenn er mit einem anderen Hawiye vom Subklan Abgal zu tun hat; und er ist ein Ayr gegenüber einem anderen Hawiye Habr Gidir aus der Lineage Saad. Unter diesen Bedingungen ist es ihm unmöglich, einen Staatschef (oder auch nur einen Minister oder einen Verwaltungschef) einfach als einen abstrakten somalischen Staatsbürger zu sehen. Er sieht in ihm automatisch den Angehörigen eines Klans, eines Unterklans und einer Lineage.

Das ist nicht unbedingt eine Katastrophe. Viele moderne Somali sehen das völlig vernünftig und wissen sehr gut um ihre Situation. Dennoch ergibt sich aus dieser Lage der Dinge eine unbedingte Regel: Wenn der Aufbau eines Hoheitsträgers in Somalia die geringste Erfolgschance haben soll, dann muss die "Klan-Karte" des Gebiets berücksichtigt werden, in dem diese Hoheit ausgeübt werden soll. Leider erfüllt die Übergangsregierung von Arta diese Grundvoraussetzung in keiner Weise.

Warum nicht? Der erste Grund liegt im Wesen der Gruppe, die die Übergangsregierung geschaffen hat. Die Somali mögen keine Autorität... Wenn sie die Legitimität einer Gruppe anerkennen sollen, die über sie eine gewisse Form von Hoheit ausüben wird, dann muss diese Gruppe mehreren Kriterien entsprechen: Sie muss sich aus reifen Männern zusammensetzen, die geachtet und seit langem bekannt sind sowie aus Regionen kommen, die geografisch nahe oder zumindest kulturell verwandt sind. Zum Beispiel werden Angehörige des Klans der Issaq es akzeptieren, in einem traditionellen Rat, einem shir, mit Darod aus dem Subklan der Dolbahante oder der Warsangeli zu debattieren, zu denen sie seit Jahrhunderten Beziehungen unterhalten (insbesondere durch Eheschließungen). Sie werden hingegen wesentlich weniger leicht akzeptieren, mit Darod aus dem Subklan der Ogaden oder der Marehan zu diskutieren, zu denen sie kaum Beziehungen hatten - und wenn, dann feindliche.

Unter diesem Gesichtspunkt haben die Gespräche von Arta keinerlei Legitimität. Das Pseudo-shir von Arta verhält sich zu einem echten traditionellen shir etwa so wie ein mittelalterliches Schloss in Disneyland zu einer Burg im Rheintal: Es ist eine schwache Imitation, die nur amerikanische Touristen täuschen kann. Viele Delegierte in Arta - und als Erster ist da der Präsident zu nennen - sind aus dem alten Regime hervorgegangen und korrumpiert. Nicht nur, dass mehrere von ihnen Nutznießer der früheren Diktatur waren; viele sind auch Geschäftsleute, die offensichtlich hoffen, aus der Wiederherstellung einer Regierung rasch finanzielle Vorteile zu ziehen. Zum Beispiel hat der reiche dschibutische Geschäftsmann Abd-er-Rahman Boreh die Gespräche in Arta finanziert; er ist ein Geschäftspartner des Ministerpräsidenten Ali Khalif Galayd, und dieser ist geschäftlich mit dem Vetter des Präsidenten Abdikassim Salad Hassan verbunden. Alle diese Geschäftsleute träumen davon, dass die Regierung international anerkannt wird, weil ihnen das Zugang zu rund 125 Millionen US-Dollar an Hilfe von der Europäischen Union verschaffen würde; diese ist für Somalia bestimmt und konnte von Brüssel seit 1991 nicht mehr verteilt werden. ...

Wenn die Zusammensetzung der Konferenz in Arta nach dem Kriterium des Respekts nicht akzeptabel ist, so ist sie es ebenso wenig nach dem Kriterium der geografischen und kulturellen Bindungen. Weshalb sind die zwölf Gesprächsrunden zu Somalia gescheitert, die die UN und verschiedene andere Instanzen zwischen 1992 und 1998 organisiert haben? Vor allem deshalb, weil sie das gesamte somalische Staatsgebiet zu erfassen versuchten. Doch auch wenn es ein somalisches Volk gibt, so gibt es doch keine somalische Nation. Das Volk ist zu groß, zu allgemein und zu abstrakt, als dass daraus sofort ein Staat geschaffen werden könnte. Benötigt werden "pränationale" Zwischenstufen - das heißt im Wesentlichen regionale. Genau das haben die Majertines-Klane verstanden, die 1998 das Puntland geschaffen haben, und das hatten zuvor bereits die Issaq-Klane verstanden, die in den Jahren 1991 bis 1993 Somaliland gebildet hatten. In beiden Fällen hatte es einen echten shir gegeben, das heißt nicht bloß Versammlungen von geachteten Männern, sondern vor allem Versammlungen von Nachbarn. ... Die Hoffnung, dass die Somali direkt von einem System der gesellschaftlichen Beziehungen, das auf echten oder symbolischen Blutsbanden beruht, zu einem System übergehen könnten, dem die abstrakte Staatsangehörigkeit nach dem Muster westlicher Staaten zu Grunde liegt, ist völlig illusorisch.

Und diese Illusion, einen Staat nach westlichem Modell zu fabrizieren, hat bereits viel Schaden angerichtet. Ich sage bewusst fabrizieren statt wiederaufbauen, denn solch ein Staat hat niemals existiert. Der Staat von Siad Barre war ein Abklatsch der autoritären Regierungen der dreißiger Jahre in Europa, wobei ein faschistisches militärisches Fundament anschließend durch stalinistische Organisationen (Geheimpolizei, Einheitspartei, Einheitsgewerkschaft, staatlich kontrollierte Presse) ergänzt wurde.* Er entbehrte jeglicher Legitimität. Nachdem sein Versuch, den somalisch besiedelten Ogaden in Äthiopien wieder an Somalia anzuschließen, im Krieg der Jahre 1977-1978 gescheitert war, brach dieser Staat in sich zusammen, weil ihm jede gesellschaftliche oder kulturelle Verwurzelung fehlte.

Aber die internationale Staatengemeinschaft hat borniert daran festgehalten, in Somalia das zu reproduzieren, was sie bereits kennt. Damit hat sie immer wieder die schlimmsten Tendenzen einer an den Westen "akklimatisierten" somalischen Subkultur begünstigt: systematische Korruption im Bereich der Hilfe aus dem Ausland, eine neo-autoritäre Haltung im Namen der Wiederherstellung des Staates sowie Unterstützung für skrupellose Abenteurer im Namen der Förderung der geheiligten "Zivilgesellschaft". Die Gespräche von Arta, die dreizehnten ihrer Art, sind ein perfektes Beispiel für die kurzsichtige Politik und kulturelle Arroganz der internationalen Staatengemeinschaft. Dass die Somali eine Art Zwischenstadium benötigen, bevor sie sich in das für sie exotische und unangenehme Abenteuer stürzen, einen Staat zu schaffen, scheint den Bürokraten der Vereinten Nationen mit ihrem schablonenhaften Denken nie in den Sinn gekommen zu sein. Für sie ist Somalia nur lebensfähig, wenn es dort einen Staat wie bei uns gibt. ...

Zu den schlimmsten Erpressungsmanövern der internationalen Staatengemeinschaft gehört zweifellos, die in Arta versammelten "guten Delegierten der Zivilgesellschaft" den "bösen Kriegsherren" gegenüberzustellen, die angeblich den Friedensprozess ablehnen, weil ihre üblen Privilegien gefährdet wären. Dieses Argument, das von den Verteidigern des Friedensprozesses häufig benutzt wird, entbehrt jeglicher Logik und das aus mindestens zwei Gründen. Erstens gibt es unter den Kriegsherren, den Warlords, mehrere - etwa Omar Jess, Gabiyow oder Mohamed Hashi Gani -, die für den Friedensprozess eintreten. Manche von diesen, insbesondere Mohamed Hashi Gani, sind wahrhaft von Blut besudelt.

Umgekehrt trifft es zweitens zwar zu, dass Männer wie Ali Osman Aato, Musa Sudi Yalahow oder Hussein Aydid aus schurkischen und nur allzu verständlichen Gründen gegen Arta sind. Aber man findet im Lager der Gegner von Arta auch die Behörden von Somaliland und Puntland, den einzigen Teilen des Landes, die in Frieden leben und von Zivilisten verwaltet werden, sowie die Rahanweyn-Widerstandsarmee (RRA), die vom Kriegsherren Shati Gudud geleitet wird und zwischen den Flüssen Juba und Wabi Schebele ebenfalls ein ziviles regionales Gebilde zu schaffen versucht. Dass ein Kriegsherr ein ziviles Gebilde schaffen will, muss kein Widerspruch sein - auf diese Weise ist Puntland aus den eingefahrenen Gleisen hinausgekommen.

Warum sind auch diese gutwilligen Männer gegen denselben Friedensprozess, den auch die Kriegsherren bekämpfen? Aus zugleich ähnlichen und entgegengesetzten Gründen: Die Kriegsherren und die Leiter der zivilen Regionalverwaltungen fürchten das Gleiche, nämlich dass die Übergangsregierung, um sich durchzusetzen, zunächst einmal alles zerstört, was an Formen der Hoheit besteht - seien diese legitim wie die Zivilverwaltungen oder illegitim wie die Kriegsherren. Die Übergangsregierung stellt sich als einzige legitime politische Macht dar. Und um dem üblichen Bild zu entsprechen, das sich die internationale Gemeinschaft von einer Regierung macht, muss diese das Monopol der legitimen Gewaltanwendung auf das gesamte Staatsgebiet ausdehnen. Dieses Projekt ist offensichtlich gleichbedeutend mit einen erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges. Denn ... die gegenwärtigen Inhaber einer gewissen subnationalen Gebietshoheit ... werden eher kämpfen, als sich einer Übergangsregierung zu unterwerfen, die trotz ihres so genannten nationalen Charakters als wenig legitim empfunden wird.

Daraus ergibt sich jedoch das Problem des Übergangs zum Frieden und der Bedeutung, die der Prozess von Arta dafür hat. Denn selbst wenn man - wie ich - glaubt, dass der Prozess von Arta illegitim und vor allem eine Projektion der Wünsche der internationalen Staatengemeinschaft ist und dass seine Konzeption und seine Verfahrensweise dem somalischen "Kulturgeist" völlig fremd sind, so bleibt doch festzustellen, dass es in Arta vor allem darum ging, die Macht der Kriegsherren zu schwächen oder sogar zu beseitigen. (Die Warlords, die sich dem Prozess angeschlossen haben, sind im Wesentlichen diejenigen, die als Kriegsherren nicht mehr viel Erfolg hatten und nun versuchen, sich zu dem zu bekehren, was der somalische Humor die Peace Lords nennt). Ohne Zweifel muss das auf die eine oder andere Weise erreicht werden, bevor erneut ein normales Leben in Somalia möglich ist.

Doch selbst dafür ist der Prozess von Arta völlig unwirksam. Warum? Weil man durch die Schaffung einer nationalen Regierung, auch wenn sie nur auf dem Papier existiert, die Kriegsherren frontal herausfordert. Und Präsident Abdikassim Salad Hassan und seine Freunde haben nicht die Mittel, diesen Frontalangriff zu gewinnen. Das hat man bereits am 20. Dezember 2000 gesehen, als die Milizen der Übergangsregierung versuchten, Musa Sudi Yalahow in seiner 30 Kilometer vor Mogadischu gelegenen Festung anzugreifen. Sie wurden geschlagen, weil sich niemand spontan den Ordnungskräften anschloss und diese militärisch unterlegen waren. Die Milizen der Übergangsregierung werden von Geschäftsleuten bezahlt, die mit der Bewegung der islamischen Stämme verbunden sind und aus geschäftlichen Gründen eine nationale Regierung wünschen. Ihre Motive werden aber von der Mehrheit nicht geteilt, selbst nicht in Regionen wie Merca oder Barawa, wo sie Einfluss haben.

Was wäre somit zu tun? Genau das Gegenteil dessen, was jede so genannte nationale Regierung tun wird. Der einzige Weg, die militärische Macht der Kriegsherren zu schwächen, ist nicht, sie frontal anzugreifen, sondern sie von der Seite auszuhöhlen. So sind die Regionalverwalter in Puntland und Somaliland vorgegangen, die sich zu Beginn ebenfalls ihren eigenen regionalen Kriegsherren gegenübersahen. Der einzige Weg besteht darin, die Klan- und Familienbindungen zu nutzen, die zwischen der Zivilbevölkerung, die den Frieden will, und den jungen Kämpfern bestehen. Das ist natürlich nur in einer begrenzten Region möglich, wo die Menschen sich kennen. Genau deshalb kann man die Stufe der Regionalverwaltungen nicht überspringen. Nur diese können Klan- und Nachbarschaftsbeziehungen nutzen und so schrittweise die militärische Gefolgschaft der Kriegsherren aushöhlen.

Das geht nur langsam und unvollkommen; denn es gibt immer Kämpfer, die von anderswo stammen und auf die Anreize aus der örtlichen Gesellschaft nicht reagieren. Vor genau diesem Problem stehen zur Zeit die Rahanweyn, die versuchen, eine dritte Regionalbehörde zwischen Xoddur und Baidoa zu schaffen. Das wird ständig dadurch behindert, dass es so viele Klane im Gebiet Digil / Rahanweyn gibt, dass es niemals gelingen wird, alle einzubeziehen.

Für eine nationale Regierung, die aus Angehörigen aller Klane besteht und die keinerlei besondere Beziehung zu den Kämpfern der Regionalmilizen hat, ist dieser Weg nicht gangbar. Sie hat keine andere Wahl als Gewaltanwendung, um diese Milizen zu schwächen. Es ist undenkbar, dass eine nationale Regierung versucht, im gesamten Staatsgebiet Kämpfer von den Milizen "fortzulocken", und zwar aus zahlreichen Gründen:

Der Zustand der Infrastruktur für die Kommunikation im Land lässt das nicht zu; bei einem solchen Unternehmen müsste man langsam, verbal und mit allen rhetorischen Mitteln der somalischen Kultur vorgehen und nicht eine einfache schriftliche Anordnung schicken; und wer die Mittel eines Kriegsherren aushöhlen will, der benötigt eine Art Legitimitätsreserve, die ihn gegenüber dem, den er schwächen will, überlegen macht. Diese Legitimitätsreserve kann aber nur im Prozess eines traditionellen shir entstehen...

Wie weit sind wir somit beim Friedensprozess gekommen, der von den Vereinten Nationen in New York so begeistert begrüßt wurde? Leider nicht sehr weit. Und sehr beunruhigend ist, dass die Beteiligten des Prozesses von Arta ungeduldig werden und beginnen, Hilfe irgendwo zu suchen und irgendetwas zu tun. Da der Prozess keine Fortschritte macht, hat Präsident Abdikassim Salad Hassan Militärhilfe vom jemenitischen Präsidenten Ali Abdallah Saleh erbeten und erhalten: Dieser hat Hassan zum Flughafen von Ballidogle Waffen geliefert.

Da der Westen nicht bereit scheint zu zahlen, hat Hassan auch seine islamischen Beziehungen spielen lassen und eine Hilfszusage in Höhe von 65 Millionen US-Dollar von Saudi-Arabien erhalten. Ali Abdallah Saleh hat auch die Präsidenten Libyens und Ägyptens, Moammar al Ghaddafi und Hosni Mubarak, ersucht, mit ihm zusammenzuarbeiten, um bei Bedarf Streitkräfte zur Unterstützung der Übergangsregierung zu entsenden. Dieser Bitte ist bisher noch nicht entsprochen worden. Doch allein schon dass sie ausgesprochen wurde, hat ausgereicht, um in Äthiopien die Furcht vor einer islamischen Offensivallianz zu schüren. Addis Abeba hat unverzüglich seine Hilfe für die Rahanweyn der RRA und für Puntland und Somaliland erhöht.

Die Übergangsregierung erscheint somit zwangsläufig als eine weitere Fraktion neben anderen. Sie ist jedoch gefährlicher als diese, weil ihr Anspruch auf nationale Legitimität und die mögliche Unterstützung von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft ihr Chancen gibt, besonders aggressiv gegen andere, bereits bestehende subnationale Hoheitsgebilde vorzugehen. Somit bewaffnen sich alle Seiten, weil sie mit einer Wiederaufnahme der Feindseligkeiten rechnen. ...

Doch die somalische Bevölkerung ist äußerst kriegsmüde. In fast 60 Prozent des Staatsgebiets herrscht im Übrigen wieder Frieden. Der könnte auch in die 15 bis 20 Prozent des Staatsgebiets zwischen dem Wabi Schebele und dem Juba zurückkehren, die man als somalisches Zweistromland bezeichnet. Dafür wäre allerdings eine Voraussetzung, dass die Staatengemeinschaft, statt dem Trugbild eines verfrühten Nationalstaates zu folgen, ein bescheideneres Ziel anvisiert: Sie müsste stattdessen den Aufbau von regionalen Klan-Gebilden unterstützen, die seit 1991 bis heute die einzige Erfolgsgeschichte in Somalia sind. Hoffen wir, dass die Vernunft die Oberhand über die falsche Eleganz der Lösungen der Vereinten Nationen gewinnen wird.

Literatur: I. M. Lewis: A Pastoral Democracy, Oxford University Press, Oxford 1959.

* Das darf nicht so verstanden werden, als habe der faschistische Staat von sich aus keine zentral gelenkte Presse, keine staatliche Quasi-Gewerkschaften (Gefolgschaften), keine Geheimpolizei und keine Einheitspartei gekannt und wäre erst durch den Stalinismus zur Übernahme solcher Repressionsinstrumente angeregt worden. (Anmerkung: Pst)

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