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Viele kleine Somalias

Bei der militärischen Intervention des Nachbarlandes Äthiopien geht es vor allem um grössere geostrategische Interessen

Von Norman Paech *

Wer nach einem Beispiel für einen «failed state» - die noch junge Wortschöpfung für einen zerfallenen, kaputten Staat - sucht, kommt schnell auf Somalia. Seit dem Sturz des Diktators Siad Barre 1991 ist dieses Land geprägt von einem politischen Vakuum, das durch drei Begriffe umschrieben ist: Clans, Warlords und Bürgerkrieg. In Somalia gibt es heute offensichtlich nichts mehr, was so etwas wie eine Souveränität nach innen oder aussen darstellen könnte.

Die ehemalige britische Kolonie Somaliland im Nordosten Somalias erklärte 1991 ihre Unabhängigkeit, und 1998 wurde die südlich davon gelegene Region am Horn als autonome Republik Puntland ausgerufen. Was von Somalia übrig bleiben wird, ist unklar, zumal der nordwestliche Nachbar Äthiopien, der nach einer militärischen Intervention nach Weihnachten das Land zu kontrollieren versucht, am liebsten viele Somalias sähe. Der Hauptgrund dafür ist die Grenzregion Ogaden, in der zwanzig Prozent aller SomalierInnen leben. Die Region war von den Kolonialmächten Äthiopien zugeschlagen worden, und Somalia hatte schon im Ogaden-Krieg von 1976 bis 1978 vergeblich versucht, sie zurückzuerobern.

Die Befürchtung, dass die neue Macht in Mogadischu, die im Juni 2006 eingerückte Union of Islamic Courts (UIC), erneut ihre Hand nach Ogaden ausstrecken würde, ist auch die zentrale Begründung für die Invasion der äthiopischen Armee. Die Begründung ist nicht aus der Luft gegriffen, ist doch die Rückeroberung Ogadens ein erklärtes Ziel von Scheich Hassan Dahir Aweys, dem wohl einflussreichsten Clanführer der UIC. Doch liefert diese Gefahr noch keine völkerrechtliche Legitimation, militärisch zu intervenieren.

Alle Bemühungen, eine «präventive Selbstverteidigung» gemäss Artikel 51 der Uno-Charta zu legitimieren, gehen nicht so weit, bereits eine abstrakte Gefahr als Verteidigungsgrund anzuerkennen. Als zweite Begründung wird der Hilferuf der in Baidoa im Süden des Landes eingeschlossenen sogenannten föderalen Übergangsregierung des früheren Präsidenten von Puntland Abdullahi Yussuf Ahmed an die äthiopische Regierung genannt. Sie wäre als international anerkannte Regierung befugt, um fremde Hilfe zu bitten. In einem Bürgerkrieg allerdings sind dritte Staaten zur Neutralität verpflichtet - ein völkerrechtlicher Grundsatz, der aber in dieser Region bisher von kaum einem Staat beachtet worden ist.

In der internationalen Presse wird diese «Übergangsregierung» inzwischen als ein von Äthiopien zusammengekaufter Haufen von «bankrotten Kriegsfürsten und analphabetischen Clanführern» (FAZ vom 3. Juli 2006) bezeichnet. Sie wurde 2004 nach zweijährigen Verhandlungen von einem Exilparlament in Nairobi gewählt und vereidigt. Doch die somalische Hauptstadt Mogadischu blieb ihr versperrt; sie konnte erst 2005 von Nairobi nach Baidoa übersiedeln, blieb aber ohne die Unterstützung der Bevölkerung. Denn diese Übergangsregierung hatte nie die Anarchie und die internen Kämpfe der Subclans und Warlords zu beenden vermocht, da sie selbst ein Teil dieser Unordnung war. Dass die Übergangsregierung überhaupt überlebt hat und den Angriff der UIC überstehen konnte, verdankt sie allein der Unterstützung durch die Regierungen Äthiopiens und der USA.

Das Interesse der USA an dieser chaotischen Region lässt sich nicht allein mit ihrem «Kampf gegen den Terrorismus» erklären. Selbst wenn man dem US-amerikanischen Geheimdienst nicht alles glauben mag, so beinhaltet seine Versicherung, dass dieses «Land ohne Staat» nicht nur Rückzugsgebiet, sondern auch Ausgangspunkt von internationalen Terrorgruppen gewesen ist, eine gewisse Glaubwürdigkeit. Doch wird das Bild erst vollständig, wenn man das Interesse der USA bis in die neunziger Jahre zurückverfolgt. Als die US-Truppen im Dezember 1992 in Mogadischu landeten, konnten sie sich auf die Resolution 792 des Uno-Sicherheitsrats berufen, der sein Interventionsmandat mit dem «Ausmass der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie» begründet hatte. Auch die Entsendung eines deutschen Kontingents von 1.700 SoldatInnen wurde der deutschen Öffentlichkeit mit der Hilfe für die bedrängten Menschen in Somalia erklärt.

Der wahre Grund für das US-amerikanische Interesse ist jedoch ein anderer. Die Landung der US Marines wurde seinerzeit vom Büro des US-Ölkonzerns Conoco in Mogadischu geleitet, der es den US-Truppen als Hauptquartier zur Verfügung gestellt hatte. Ab 1986 waren die US-Konzerne Amoco, Chevron, Conoco, Phillips Petroleum und zeitweise auch die niederländisch-britische Royal Dutch Shell in Somalia auf Ölsuche gegangen und fündig geworden. Siad Barre hatte ihnen Konzessionen für die Ölförderung gegeben, die fast zwei Drittel des Landes umfassten. Die GeologInnen der texanischen Hunt Oil Corporation hatten Mitte der achtziger Jahre in Jemen riesige Ölreserven in Gesteinsschichten entdeckt, die sich bis in den Norden Somalias erstrecken. Auch die Weltbank hatte in einer Studie von 1991 Somalia und Sudan ganz oben auf eine Liste von acht ostafrikanischen Staaten mit reichen Ölvorkommen gesetzt. Die «International Herald Tribune» schrieb damals, dass SomalierInnen, AfrikaspezialistInnen und Hilfsorganisationen grosse Zweifel an den «humanitären Gründen» der US-Intervention geäussert hatten.

Zu diesen offensichtlichen Interessen am Erdöl und Erdgas kommen damals wie heute strategische Interessen, die durch die exponierte Lage Somalias am Golf von Aden, direkt gegenüber den saudi-arabischen Ölquellen, zu erklären sind. Täglich passieren Tanker mit mehr als 3,3 Millionen Barrel Öl sowie immer mehr Handelsschiffe die somalische Küste, da diese an der bevorzugten Handelsroute zwischen Europa und Ostasien liegt. Frankreich hat in Dschibuti 3.000 SoldatInnen stationiert, und auch die deutsche Bundeswehr ist dort mit Fregatten und Versorgungsschiffen im Einsatz. In Khartum im Sudan erzählte mir ein Uno-Beamter, dass man davon ausgehe, dass die USA in absehbarer Zeit Somaliland anerkennen werden, um einen besser gesicherten Zugang zum Hafen Berbera zu haben, der auch als Endstation einer Ölpipeline vom Südsudan an den Golf von Aden infrage käme.

Solche geostrategischen Überlegungen werden heute in der Fachpresse offen diskutiert. So schrieben zwei Mitglieder eines Arbeitskreises der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung im September 2006 in der vom deutschen Verteidigungsministerium mit herausgegebenen Zeitschrift «Strategie und Technik», dass sich die Gesamtstrategie für das Horn von Afrika vor allem an den Interessen zur Sicherung der See- und Transportwege ausrichten müsse. Zu berücksichtigen seien dabei die Stärkung der europäischen Energiesicherheit und ein Zugriff auf die Ressourcen am Horn, die derzeit zu neunzig Prozent an China gehen. Auch die Eindämmung von Migrationsbewegungen und die Verbreitung guter Regierungsführung müssten Teil einer solchen Gesamtstrategie sein. Dazu sei ein «separates deutsches Engagement für das Horn von Afrika» und die Bereitschaft, «sich militärisch in der Region zu engagieren», notwendig.

Dies ist nicht etwa eine Einzelmeinung. In einer Studie der Hans-Seidel-Stiftung vom Oktober 2006 kamen Claas Dieter Knoop, der deutsche Botschafter in Addis Abeba und Repräsentant bei der Afrikanischen Union (AU), sowie ein ehemaliger Beamter des Auswärtigen Amtes zu den gleichen strategischen Überlegungen - auch wenn sie nicht so offen für ein militärisches Engagement plädieren. Die USA wollen diese Aufgabe zurzeit der AU übertragen und werben bei den Mitgliedstaaten um die Bereitstellung von mindestens 8.000 SoldatInnen.

Die Erfahrungen mit der ersten «Friedensmission» der Uno - die Anfang März 1995 mit dem Abzug der letzten 1.850 US-ElitesoldatInnen zu Ende ging - sollten nicht vergessen werden. Der somalische Warlord Mohammed Farah Aidid, der die US-AmerikanerInnen schliesslich zum Abzug gezwungen hatte, gab die Zahl der getöteten SomalierInnen mit 13.000 an. Der US-Sondergesandte Robert Oakley sprach von bis zu 10.000 Opfern allein zwischen Juni und Oktober 2003, dazu kommen rund 45.000 Menschen, die in diesem Konflikt verletzt wurden. Die Kosten für die Operation Unosom - an der insgesamt 38.000 SoldatInnen aus 21 Ländern beteiligt gewesen waren - beliefen sich für die Uno auf 1,66 Milliarden US-Dollar. Doch die «Friedensmission» hatte keines ihrer Ziele erreicht. Zurück blieb ein zerrüttetes und vollkommen desintegriertes Land.

Die Lehre aus diesem Desaster sollte die umgehende Entmilitarisierung des Konflikts und der Rückzug der äthiopischen Invasionstruppen sein. Statt Somalia als offenes Feld für ihre Terroristenjagd zu betrachten, sollten die USA und die in der neuen Kontaktgruppe vertretenen europäischen und afrikanischen Staaten die Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen den Clans und Parteien betreiben und mit humanitärer und politischer Arbeit für den Wiederaufbau dieses kaputten Landes sorgen.

* Der Völkerrechtler Norman Paech ist Abgeordneter des deutschen Bundestags und aussenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.

Aus: Wochenzeitung WOZ, 11. Januar 2007



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