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Somalia: Neun Jahre nach der Intervention immer noch Chaos

Mit dem Land ist kein Staat zu machen

Unter dem Titel "Somalias provisorische Regierung blockiert" veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung am 4. Februar 2001 einen aktuellen Hintergrundbericht über die politische Lage im ostafrikanischen Land. Nachdem im vergangenen Jahr ein paar Nachrichten aufhorchen ließen, wonach es in Mogadischu zur Bildung einer Regierung und zur Festigung des Staatswesens gekommen sei, war man gespannt, Neues aus dem Land zu hören, das vor fast einem Jahrzehnt Objekt einer von den Vereinten Nationen mandatierten Invasion unter Führung der USA und unter erstmaliger Beteiligung der Bundesrepublik geworden war.

Zunächst ein kurzer Blick auf die Ereignisse von damals: Ende Januar 1991 floh der rechtmäßige somalische Präsident Siad Barre vor Rebelleneinheiten, die die Hauptstadt Mogadischu in ihre Gewalt brachten und wenige Tage ihren Führer Ali Mahdi Mohammed vom United Somali Congress (USC) zum neuen Präsident machten. Die "Staatengemeinschaft", so erinnert sich die Neue Zürcher Zeitung, "atmete auf, das drohende Machtvakuum schien vermieden worden zu sein." Die ehemalige Kolonialmacht Italien gehörte zu den ersten Staaten, die das neue Regime diplomatisch anerkannten - in völliger Verkennung der realen Situation, wie sich bald danach herausstellen sollte. Denn es war genau dieser Schritt, der mit dazu beitrug, dass Mogadischu "für fast zwei Jahre Schauplatz eines mörderischen Machtkampfs" wurde. Denn nun begannen erst die Machtkämpfe innerhalb der USC, da sich einer der militärischen Führer der Rebellenorganisation, General Farah Aidid, übergangen fühlte und selbst Anspruch auf mehr Meacht und Einfluss anmeldete. Mit einer ihm ergebenen Truppe marschierte er nach Mogadischu und lieferte den Truppen Ali Mahdis erbitterte Schlachten, in denen ganze Häuserzeilen in Schutt und Asche gelegt wurden.

Die Militärintervention unter Führung der USA zwischen Dezember 1992 und 1995, die Somalia angeblich helfen sollte wieder zu sich zu kommen und Hunger, Elend und Chaos zu überwinden, erwies sich als ein riesiger Flop. Insbesondere die USA hatten es bei ihrem Militärabenteuer ganz auf den Rebellenchef Aidid abgesehen und musten bitteres Lehrgeld bezahlen. In Erinnerung sind die Bilder von toten amerikanischen Elitesoldaten, die nach einer missglückten Militäraktione (es ging um die Jagd auf Aidid) im Oktober 1993 von einer Menschenmenge durch die Strassen der Hauptstadt geschleift wurden. Solche Demütigungen kann sich eine Weltmacht wie die USA nicht gefallen lassen. Mangels einer wirklichen militärischen Erfolgs-, das heißt Siegperspektive rückten die Truppen schließlich 1995 wieder ab - unverrichterter Dinge. Die Alliierten hatten 136 tote Soldaten sowie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten zu beklagen. Das war aber nichts gegen den Preis, den die Somalis selbst für den langjährigen Bürgerkrieg - vor und nach der Intervention - bezahlen mussten. Nach Schätzungen reichen die Opferzahlen an die Millionengrenze.

Fortschreitender Zerfall des States

Der Staatszerfall, der durch die UN-mandatierte Intervention aufgehalten werden sollte, ging unvermindert weiter. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: "Somalia zersplitterte immer mehr in kleine und kleinste Herrschaftsbereiche, die Gesellschaft scharte sich um die traditionellen Machtstrukturen: die Clans, Sub-Clans und Grossfamilien."

Schon 1991 hatte sich im Nordosten des Landes ein Gebiet selbstständig gemacht. Die dem Stamm der Issa angehörende Somalische Nationalbewegung erklärte im Gebiet der ehemals britischen Kolonie Somaliland die Unabhängigkeit dieses Landesteils. Die internationale Anerkennung blieb dem Land bis heute versagt. "Trotz einem relativ weit fortgeschrittenen Aufbau staatlicher Strukturen ist die Republik im Nordwesten immer noch ein labiles Gebilde."

Neben Somaliland hat sich im Nordosten Somalias noch eine andere Region faktisch abgespalten - zumindest vorübergehend. 1998 riefen die Majertein, die hier die Bevölkerungsmehrheit bilden, unter der Führung der Widerstandsgruppe Somali Salvation Democratic Front, die autonome Republik "Puntland" aus. Ihr gehören die drei Procinzen Bari, Nugal und Mudug an. Während indessen Somaliland sich für die staatliche Unabhängigkeit von Somalia entschieden hat, hat sich der führende Darod-Clan der Majertein die Option offen gehalten, dereinst vielleicht wieder "in den Schoß eines somalischen Staats zurückzukehren". "Bedingungen sind aber die Befriedung auch der anderen Regionen und die Errichtung einer föderalistischen Republik mit grosser Autonomie für die Gliedstaaten."

Im Süden Somalias haben sich zwar auch autonome Clans eingerichtet, die Nähe zur Hauptstadt Mogadischu bedeutet aber, dass diese Regionen - unfreiwillig oder freiwillig - viel stärker in die zentralen Auseinandersetzungen um die Zukunft des Landes involviert sind. Selbst die beiden einflussreichsten Gruppen um den früheren General Aidid (er wurde 1996 erschossen, sein Nachfolger ist sein Sohn) und um Ali Mahdi sind an internen Machtkämpfen zerbrochen und in viele kleinere Gruppen zerfallen. Die Bindungskraft des Islam erweist sich als genauso machlos wie die Bindungskraft einzelner Kriegsherren. Das einzige, was zählt, sind der geschäftliche Erfolg und die darauf sich gründende Macht über Menschen.

Eine neue Zentralregierung?

So gesehen musste es wie eine mittelgroße Sensation eingestuft werden, dass sich im Frühjahr 2000 rund 2.500 Vertreter der somalischen Clans und "Stammesführer" aller Couleur in Arta (Republik Dschibuti) trafen, um über die Zukunft des Landes zu beraten. Nach monatelangen Diskussionen verständigten sie sich auf die Errichtung eines Übergangsparlaments (August 2000). Dieses Parlament wählte anschließend den 58-jährigen Abdoulkassim Salat Hassan zum neuen Interimspräsidenten. Mit dessen Macht allerdings dürfte es nicht weit her sein: Die meisten somalischen Warlords blieben nämlich dem Treffen und dem "Parlament" fern. Auch Abgesandte aus Somaliland und Puntland waren nicht gekommen. Und das von Hassan gebildete Kabinett, in dem sich eine Großzahl früherer Barre-Leute auf Ministerposten wiederfanden, dürfte über wenig Kredit im Land verfügen. Salat Hassan selbst war unter Barre Innenminister gewesen.

Ende August siedelte Salat Hassan mit seinem Kabinett nach Mogadischu über, das "Parlament" folgte im November. Sie leben dort aber wie im Belagerungszustand und stehen sozusagen unter dem "Schutz" verschiedener Warlords undprivater Geschäftsleute, die die Bewachung übernehmen. Dies ändert nichts daran, dass die Zahl der Kabinettsmitglieder durch Anschläge seither dezimiert wurde: Im Oktober wurde ein enger Vertrauter von Salat Hassan, der designierte Verteidigungsminister General Talan, auf offener Strasse erschossen. Der Parlamentsabgeordnete Ahmed Elmi wurde ebenfalls auf offener Straße umgebracht. Und im Januar 2001 entkam der Sprecher des "Parlaments, Issak, nur knapp einem Attentat, als sein Wagenkonvoi, in dem auch ein Minister und mehrere Abgeordnete mitfuhren, überfallen wurde.

Äthiopiens Rolle

Gemunkelt wird, dass auch die Regierung in Addis Abeba (Äthiopien) bei solchen Anschlägen die Finger mit im Spiel hat. Äthiopien unterstützt die somalische Widerstandsbewegung RRA (Rahanwein Resistance Army). Über die Hintergründe dieses schon seit längerem bestehenden Bündnisses weiß die Neue Zürcher Zeitung zu berichten:
"Zwar hatte deräthiopische Ministerpräsident Meles bei der Vereidigung Abdikassims im Publikum gesessen,doch damals war auch noch die Rahanwein Resistance Army (RRA) unter ihrem Chef Oberst Nur Shatigudud (Rotes Hemd) in den Prozess von Arta eingebunden gewesen. Shatigudud wurde selber zum Mitglied des Übergangsparlaments gewählt, beklagte sich aber später über angeblich diskriminierende Behandlung der Rahanwein-Clans. Als das Übergangsparlament mit Präsident Abdikassim (=Abdoulkassin Salat Hassan, d. Verf.) Mogadiscio anstelle der 'Rahanwein- Hauptstadt' Baidoa zum Sitz wählte, war es mit Shatigududs Loyalität vorbei. Er gehört seither zu der langen Reihe somalischer Warlords, die von den Übergangsinstitutionen nichts mehr wissen wollen und vor neuen Schüben bewaffneter Konflikte warnen, sollten Abdikassim und seine Regierung versuchen, ihren Einflussbereich auszudehnen.
Das Ausscheren der Rahanwein oder genauer jener Kräfte, die in der RRA unter Shatigudud gebündelt sind, ist darum von grosser Tragweite, weil hinter der RRA die Hand des mächtigen Nachbarn Äthiopien sichtbar wird. Nach mehreren bewaffneten Auseinandersetzungen ist es historisch gesehen naheliegend, dass Äthiopien ein Konglomerat kleinerer Verwaltungseinheiten, möglicherweise in einem losen Bund, einem starken somalischen Staat vorzieht, der allenfalls erneut Gebietsansprüche im Ogaden erheben könnte. Äthiopien hatte die RRA bereits im Kampf gegen Aidid um die Stadt Baidoa unterstützt. Unter dem Vorwand, islamistische Kämpfer von al-Ittihad zu bekämpfen, drangen äthiopische Truppen verschiedentlich tief in somalisches Territorium ein. Als Anfang Januar jeglicher Funkkontakt zu Baidoa für einige Tage unterbrochen war, soll es im Wesentlichen um eine Säuberungsaktion innerhalb der RRA gegangen sein, in die laut diversen Berichten auch äthiopische Kräfte verwickelt waren. Die gegenüber der Übergangsregierung feindlich eingestellte Faktion unter Shatigudud soll sich dabei aller Elemente zweifelhafter Loyalität entledigt haben." (NZZ, 04.02.2001)

Man mag den Versuch, dem geschundenen Land wieder eine gewisse staatliche Kontur zu geben, mit Sympathie begleiten, doch die Zweifel bleiben, ob diesem Versuch auch eine Erfolgsaussicht beschieden sein wird. Die Eigeninteressen der Clans und Warlords sind zu allmächtig, als dass sie sich irgend einer staatlichen Zentralregierung unterordnen würden. Vor allem lassen sich die schätzungsweise 100.000 Milizionäre im Land nicht so ohne weiteres entwaffnen und damit um ihren auf eben diese Waffen gegründeten Einfluss bringen. Hinzu kommt, dass die Geschicke des Landes zu sehr mit den Interessen benachbarter Länder, insbesondere Äthiopiens (aber - spiegelbildlich dazu - auch Eritreas) verknüpft sind. Es zeigt sich, dass auch dieser innerstaatliche Konflikt, der zwischenzeitlich immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt, gleichzeitig ein zwischenstaatlicher Konflikt ist - hierin dem Konflikt im Kongo und um die großen Seen nicht unähnlich. Das Einzige, das positiv stimmt, ist die Tatsache, dass die Interimsregierung von Salat Hassan inzwischen schon mehrere Monate amtiert.
Pst

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