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Baidoa erobert

Somalia: Radikale Islamisten nehmen den Sitz der Übergangsregierung ein. Parlament tagt in Dschibuti

Von Knut Mellenthin *

Wenige Stunden nach dem Abzug der letzten äthiopischen Interventionstruppen haben Einheiten der islamistischen Al-Schabaab am Montag morgen die grenznahe Stadt Baidoa besetzt, in der sich der Sitz des somalischen Parlaments und Regierungsgebäude befinden. Die Einnahme erfolgte nahezu kampflos, da die schwachen Streitkräfte der nicht demokratisch legitimierten Übergangsregierung zuvor geflüchtet waren. Lediglich Milizen regionaler Gruppen und Warlords sollen geringfügigen Widerstand geleistet haben.

Nach unbestätigten Berichten hat Al-Schabaab in Baidoa einige Abgeordnete und Regierungspolitiker festgenommen. Die meisten Parlamentarier befinden sich indessen schon seit dem Wochenende in Dschibuti am Roten Meer, also im Ausland. Dort verhandeln auf mehr oder weniger neutralem Boden die Übergangsregierung und der »gemäßigte« Flügel der islamistischen Opposition über eine Machtteilung. Eine entsprechende Grundsatzvereinbarung, die auch die Schaffung gemeinsamer Sicherheitskräfte vorsieht, wurde bereits im Juni 2008 in Dschibuti unterzeichnet, aber bisher nicht in die Praxis umgesetzt. Al-Shabaab und andere Teile der Opposition lehnen eine Zusammenarbeit mit der Übergangsregierung ab, die ihre Macht bisher hauptsächlich auf die Truppen aus dem traditionell in Somalia verfeindeten christlichen Äthiopien stützte.

Dem Dschibuti-Abkommen zufolge soll die Abgeordnetenzahl des Parlaments von derzeit 275 auf 550 verdoppelt werden. 200 Abgeordnete soll der Reformflügel des Oppositionsbündnisses ARS (Allianz für die Wiederbefreiung Somalias) benennen dürfen. Die übrigen 75 sollen nach einem noch nicht festgelegten Schlüssel von anderen gesellschaftlichen Gruppen benannt werden. Am Montag hat das bisherige Parlament der Erweiterung um die 200 Abgeordneten der ARS zugestimmt. Über die übrigen 75 Sitze wurde anscheinend noch nicht entschieden.

Erste Handlung des erweiterten Parlaments soll die Wahl eines neuen Präsidenten sein. Verfassungsgemäß müßte das bis zum heutigen Mittwoch, einen Monat nach dem Rücktritt des letzten Amtsinhabers Abdullahi Yusuf, geschehen. Er hatte die Verständigung mit der ARS abgelehnt und war zuletzt sogar von seinen früheren Protektoren, den USA und Äthiopien, fallengelassen worden. Sein Nachfolger soll einen neuen Premierminister ernennen, der dann eine Regierungsbildung auf breiterer Grundlage, also zumindest unter Einbeziehung des »gemäßigten« Teils der ARS, vornehmen soll.

Bis dahin sind aller Voraussicht nach noch erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden, die Zeit kosten dürften und an denen die Sache schließlich sogar scheitern könnte. Als einer der ersten Schritte des neuen Parlaments wird daher erwartet, daß es die Präsidentenwahl auf Mitte Februar verschieben wird. Als Kandidat des »gemäßigten« ARS-Flügels steht dessen Vorsitzender Scharif Scheikh Ahmed fest. Er hat wohl auch die größten Erfolgsaussichten. Unter den zahlreichen Mitbewerbern sind drei ehemalige Premierminister (darunter der amtierende und sein Vorgänger) sowie zwei berüchtigte Warlords.

Viele Abgeordnete halten das bisherige Format der Dschibuti-Verhandlungen für zu eng, da der größte und militärisch stärkste Teil der islamistischen Opposition daran nicht beteiligt ist. Die jetzt erörterte Machtteilung könne daher nicht zu einer wirklich umfassenden, dauerhaften Friedensregelung führen. Deshalb plädieren diese Kräfte dafür, sich stärker um die Einbeziehung des anderen Flügels der ARS zu bemühen und tendenziell sogar um eine Mitwirkung von Al-Schabaab oder Teilen dieser Organisation zu werben.

Die Einnahme der Regierungsstadt Baidoa durch die radikalen Islamisten relativiert sichtlich die Bedeutung der in Dschibuti stattfindenden Verhandlungen. Al-Schabaab beherrscht jetzt weitgehend den Süden und Südwesten des Landes, einschließlich der großen Hafenstadt Kismajo, und hat dort eigene Verwaltungsorgane eingesetzt.

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2009


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