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Serbien "in Geiselhaft"

Am Sonntag wird ein neuer Präsident gewählt - wahrscheinlich der alte

Von Zoran Sergievski *

Boris Tadic gibt sich kämpferisch. Der amtierende Präsident Serbiens von der Demokratischen Partei (DS) tritt am morgigen Sonntag gegen den rechtsradikalen Populisten Tomislav Nikolic von der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) an, um in einer Stichwahl sein Amt zu verteidigen.

Knapp 7 Millionen Serben sind aufgerufen, ein weiteres Mal zur Urne zu schreiten. Aus dem ersten Wahlgang am 6. Mai, der parallel zu den serbischen Kommunal- und Parlamentswahlen stattfand, war der ehemalige EU-Feind Tomislav Nikolic mit einem hauchdünnen Vorsprung vor Boris Tadic hervorgegangen. Beide erhielten rund 25 Prozent der Stimmen. Jetzt aber gilt Tadic als klarer Favorit.

War die erste Wahlkampfrunde noch deutlich von sozialpolitischen Themen geprägt, setzte Nikolic vor der Stichwahl auf ein altes Steckenpferd: Kosovo. In einem Fernsehduell griff er seinen Kontrahenten gewohnt scharf an: Tadic habe Kosovo während seiner Amtszeit preisgegeben. Der amtierende Präsident entgegnete ungewohnt martialisch: Die Provinz sei deshalb von Serbien losgetrennt worden, weil sich zum Zeitpunkt der einseitigen Unabhängigkeitserklärung kein einziger serbischer Soldat in Kosovo befunden habe. Diese Äußerung stellt eine - wenngleich nur wahltaktische - ungewöhnlich scharfe Kritik an der NATO-Besatzungstruppe KFOR in Kosovo dar.

Nikolic behauptete weiter, Tadic - bereits seit 2004 Staatsoberhaupt - halte das serbische Volk in »Geiselhaft«. Den Serben gehe es aufgrund der verfehlten Regierungspolitik schlechter als vor fünf Jahren. Tadic hatte in der ersten Wahlrunde damit geworben, dass einzig der Weg in die EU die schwerwiegenden sozialen Probleme des Landes lösen könnte, seine DS hat die Stichwahl denn auch zum »Referendum für die EU« erklärt. Serbien leidet seit Beginn der Wirtschaftskrise unter einer konstanten Arbeitslosenrate von 25 bis 30 Prozent.

Beobachter glauben, dass Nikolic, der nach 2004 und 2008 bereits zum dritten Mal in einer Stichwahl gegen Tadic antritt, zumindest in der Opposition weiter den Ton angeben wird. Ehemals führendes Mitglied der kleinbürgerlich-nationalistischen Radikalen Partei (SRS), gilt er als populärster und schärfster Gegner des alten und vermutlich neuen Präsidenten. Im vergangenen Jahr trat er aus Protest gegen Tadic sogar in den Hungerstreik.

Obgleich die Wahlbehörde mitteilte, bei den Parlamentswahlen vor zwei Wochen sei generell alles mit rechten Dingen zugegangen, setzte sich Nikolic vergangene Woche mit 3000 Stimmzetteln vor dem Belgrader Parlament in Szene. Vor Anhängern sprach er von einem »brutalen Stimmenraub«, da die Zettel »in einem Müllcontainer gefunden wurden«.

Kurz zuvor waren im Internet Videos aus Zajecar aufgetaucht. In der 40 000-Einwohner-Stadt in Ostserbien wurde nachweislich massiver Stimmenklau begangen. Eine Aufnahme zeigt mehrere Personen im Rathaus der Stadt, die verschiedene Stimmzettel offen ausfüllen, in Wahlkuverts stecken und versiegeln. Diese Kuverts wiederum wurden mehrheitlich in große, weiße Säcke gepackt. Manche der Personen scheinen mit mehreren Schritten gleichzeitig betraut zu sein. Angeblich wurden von Ungereimtheiten betroffene Abstimmungen jedoch wiederholt.

Die SNS ging am 6. Mai mit rund einem Viertel der Stimmen offiziell als Sieger aus den Parlamentswahlen hervor. Doch mangelt es ihr an Partnern für ein Regierungsbündnis, so dass sicherlich wieder zu einer Koalition der DS mit der Sozialistischen Partei (SPS) unter dem bisherigen Innenminister Ivica Dacic kommen wird. Übrigens darf der Präsident laut Verfassung kein anderes öffentliches Amt bekleiden, dennoch ist Tadic bis heute DS-Vorsitzender.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012


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