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Rechtsprechung vs. Wahrheitssuche: "Sturm" - Ein Spielfilm über das Jugoslawien-Tribunal

Im September 2009 läuft in den deutschen Kinos der Spielfilm "Sturm" an. Er dürfte wegen seines brisanten politischen Inhalts unterschiedliche Reaktionen hervorbringen. Die beiden im Folgenden dokumentierten Besprechungen (aus der "jungen Welt" und dem "Neuen Deutschland") beurteilen den Film sowohl von der ästhetischen als auch von der politischen Seite.



Gerechtigkeit ist relativ

Wenn Rechtsprechung zum Spielball der Politik verkommt: Hans-Christian Schmids Film "Sturm"

Von Reinhard Jellen *

Hannah Maynard (Kerry Fox) übernimmt am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag die Anklage gegen den serbischen General Goran Duric (Drazen Kuhn), der sich wegen der Ermordung bosnischer Zivilisten verantworten muß. Nachdem die Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen bei der Verhandlung erschüttert wird, entschließt sich das Gericht, dessen Ausführungen vor Ort, im heutigen serbischen Teil von Bosnien, der Republik Srpska, zu überprüfen. Hier wird endgültig klar, daß der muslimische Zeuge gelogen hat, woraufhin sich der junge Mann umbringt. Maynard vermutet ein Motiv hinter der Falschaussage. Bei der Beerdigung des Zeugen begeg­net sie dessen Schwester Mira (Anamaria Marinca), die von Duric 1992 in ein Vergewaltigungslager verschleppt worden war. Da sich die Zeugin, die mittlerweile verheiratet mit einem Deutschen in Berlin lebt, anfangs den traumatischen Erfahrungen nicht stellen will und obendrein von ehemaligen Mitgliedern der serbischen Miliz bedroht wird, muß die Anklägerin einige Überzeugungsarbeit leisten, um Mira zu einer Aussage in Den Haag zu bewegen. Dort stellt sich heraus, daß sowohl Maynard als auch Mira Spielbälle in einem politischen Deal um die EU-Erweiterung geworden sind, denn der Richter unterstützt plötzlich das Anliegen des serbischen Anwalts von Duric, die Aussage von Mira nicht zuzulassen. Obendrein wird offenbar, daß bei diesem Spiel ausgerechnet Hannahs Geliebter, der EU-Diplomat Jonas Dahlberg (Rolf Lassgard) seine Finger mit im Spiel hat. Während Mira in Den Haag vor Gericht ihre Aussage zu Protokoll geben will und damit ihr Leben und das ihres Mannes und Sohnes riskiert, ist Maynard gezwungen, ihre rechtsstaatlichen Illusionen aufzugeben. Erst als sie während der Verhandlung vom vereinbarten Ablauf abweicht und Mira über die Deportation und Ermordung der bosnischen Frauen befragt, muß Duric in Srpska einer neuen Gerichtsverhandlung entgegensehen. Die Karriere der Juristin ist damit beendet, die Zeugin schwebt in Lebensgefahr, aber zum Schluß streichelt Mira Hannah den Arm, und die Sonne der Zuversicht durchbricht vorübergehend die Wolken. Der Film entläßt die beiden Protagonistinnen in eine unsichere Zukunft: Die Verbrecher erweisen sich als zu mächtig und die Institutionen als zu sehr von der Politik abhängig, als daß die Opfer auf Gerechtigkeit hoffen dürften.

Neben der hohen darstellerischen und erzählerischen Qualität gehört zu den Vorzügen des Films, daß er zeigt, inwiefern die Rechtsprechung des Den Haager Strafgerichtshofs als Instrument im politischen Ränkespiel dient. Regisseur Hans-Christian Schmidt (»Requiem«, »Die wundersame Welt der Waschkraft«), der nicht umsonst als Hoffnung des deutschen Films gilt, hat mit dem Drehbuchautoren Bernd Lange und Kameramann Bogumil Godfrejow Beachtliches geleistet. Die Mechanismen des Strafgerichtshofs werden künstlerisch glaubhaft transparent gemacht: Allerorten wird erpreßt, intrigiert, die Politik zieht unsichtbar hinter den Kulissen ihre Strippen, die Zeugen werden nach Maßgabe politischer Opportunität benutzt und wieder fallengelassen. Der Einzelne (der Delinquent, das Opfer, die Anklägerin) erweist sich stets als Rädchen in einem gewaltigen politischen Getriebe. Das unbestreitbar schwache (und vielleicht absichtlich dämliche) Happy End, das die zentrale analytische Aussage des Gerichtsdramas illusionär wieder aufhebt, ist genrebedingt und entspricht den Konventionen des kommerzialisierten Filmbetriebes: Von jeher muß man sich beim überwiegenden Teil der im Windschatten Hollywoods gedrehten Filme die letzten fünf Minuten einfach wegdenken. Das eigentliche Manko aber ist, daß der Film seinerseits politisch instrumentalisierbar ist, weil er ausschließlich die Verbrechen auf serbischer Seite thematisiert und auf der Woge der offiziellen politischen Interpretation der Urteilssprechung des Gerichts in Den Haag schwimmt. Denn in der Realität hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien vorwiegend serbische Angeklagte zu hohen Haftstrafen verurteilt, während Kroaten, Bosnier und Albaner mit vergleichsweise niedrigen Haftstrafen belegt wurden, bzw. gar nicht ins Gefängnis mußten. Dem Journalisten Germinal Civikov ist in seinem Buch »Srebenica. Der Kronzeuge« der Nachweis gelungen, daß sich jener in seiner Aussage über die Massenhinrichtungen auf serbischer Seite in massive Widersprüche verstrickt hat, die kein Gericht in einem normalen Strafverfahren tolerieren würde. Die ehemalige Chefanklägerin Carla Del Ponte schildert in ihrem Buch »Die Jagd - ich und die Kriegsverbrecher«, daß der Gerichtshof Hinweise gesammelt hatte, wonach die UCK 100 bis 300 serbischen Zivilisten Organe entnommen hatte, um sie zu verkaufen. Eine nähere Untersuchung sei aber bereits »im Keim erstickt« worden, weil nur die Verfolgung serbischer Kriegsverbrechen politisch opportun war. Details dieses bizarren Verbrechens wurden von Human Rights Watch ­just an dem Tag veröffentlicht, als der ehemalige UCK-Führer und kurzzeitige Premierminister des Kosovo, Ramush Haradinaj, mangels Beweisen freigesprochen wurde. Vorher waren neun der insgesamt zehn Hauptbelastungszeugen umgebracht worden. Der Zehnte verweigerte daraufhin die Aussage. Hätte sich Hans-Christian Schmidt dieses Stoffes angenommen, wäre wohl kein Gerichtsdrama, sondern ein Splatterfilm daraus geworden.

»Sturm«, Regie: Hans-Christian Schmid, Dänemark/Deutschland/Niederlande 2009, 103 min

* Aus: junge Welt, 10. September 2009


Die Frage der Tribunale

Hans-Christian Schmids Kinofilm "Sturm" und die Wahrheit über den Jugoslawienkrieg

Von Gunnar Decker **


Was macht man mit einem Krieg, wenn er vorbei ist? Man versucht ihn zu vergessen, aber das gelingt nicht. Außen ist der Krieg beendet, innen aber bleibt er gegenwärtig. Wie sollen Täter und Opfer damit leben? Wirklicher Frieden beginnt mit dem Beiseite-Räumen jenes Lügenschutts, den jeder Krieg anhäuft.

Hans-Christian Schmid hat einen Film darüber gemacht, was nach dem Krieg kommt. In Den Haag gibt es ein Tribunal über die Kriegsverbrechen in Jugoslawien (im Bürokratenkürzel: »ICTY«). Findet man dort die Wahrheit über den Krieg auf dem Balkan, finden die Opfer dort Gerechtigkeit? Hans-Christian Schmid und sein Drehbuchschreiber Bernd Lange fragen mit »Sturm« nach den Möglichkeiten einer »juristischen Aufarbeitung« des Krieges - und stoßen überall an ihre Grenzen. Der Film, im konventionellen Stil eines Gerichtsthrillers gehalten, zeigt Richter, Ankläger, Angeklagte, Verteidiger, Zeugen, Opfer - inmitten der zäh laufenden juristischen Ermittlungsmaschine. Vermutlich beschneidet die von Schmid und Lange gewählte Erzählform des »New Hollywood« ihre Ausdrucksmöglichkeiten mehr als sie zu fördern. Der Schlagabtausch der Parteien vor Gericht führt dann doch eher in Richtung gängiger Mainstream-Muster, er scheint unpassend bei diesem Thema, weil Spannungsmomente erzeugend, um die es letztlich nicht geht. Sollen wir vor allem davon gebannt sein, ob der vermutlich Schuldige, ein hoher Offizier, nun vor dem Tribunal überführt und bestraft werden kann? Hier droht der Film auf die falsche Ebene zu geraten. Die Schuldfragen, um die es eigentlich gehen sollte, sie werden nicht vor einem Tribunal in Den Haag verhandelt - sondern vor der Geschichte. Das hätte auch der Maßstab für »Sturm« sein sollen.

Dieser Film versucht - trotz Prozessdetails in Fülle - nicht, das tatsächliche Geschehen auf dem Balkan in den 90er Jahren dokumentarisch zu rekonstruieren. Begann nicht alles mit separatistischen Auflösungsbestrebungen Jugoslawiens und voreiliger internationaler Anerkennung der Teilstaaten? Trotzdem glaubt man Schmid, dass er wissen will, was die Geschichte mit Menschen macht. Doch sein Zugang zum Thema erscheint ein wenig arglos. Was wir sehen: vom Schrecken des Erlebten Gezeichnete. Auch die, die glauben, nachträglich die Kriegsfolgen »heilen« zu können, sind irgendwann frustriert, denn in der UNO konkurrieren verschiedene politische Ziele. Immer wieder erweist sich der juristische Rahmen als zu eng, die unheilvollen Möglichkeiten der Geschichte zu begreifen. Der Krieg weckt alle schlechten, alle perversen Seiten im Menschen, darum eben ist jeder noch so faule Frieden besser als ein Krieg, in dem sich die Gewalt immer weiter fortzeugt.

Hans-Christian Schmids bisherige Filme wie »Lichter« und »Requiem« haben große Vorzüge: Es sind immer auch Beschreibungen seelischer Landschaften und ihrer Verwerfungen. Mit »Requiem« entdeckte er Sandra Hüller, für »Sturm«, eine internationale Produktion, bei der auf Englisch gedreht wurde, gewann er die Neuseeländerin Kerry Fox (»Intimacy«) und die Rumänin Anamaria Marinca (»4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage«). Ihretwegen sollte man diesen Film sehen, ihre Figuren sind unbedingt glaubwürdig. Zwei Frauen, die der Balkan-Krieg auf unterschiedliche Weise verletzt hat. Anamaria Marinca ist hier eine hinter dem Schutzpanzer scheinbarer Normalität ihren wütenden Schmerz verbergende Bosnierin, die nun in Berlin lebt. Vergeblich versucht sie, die Vergewaltigungen durch serbische Soldateska zu vergessen. Als die Anklägerin Hannah Maynard (kühl bis auf Widerruf: Kerry Fox) sie überzeugt, vor dem Tribunal auszusagen, beginnt für sie eine Odyssee durch die Justiz-Maschine.

Die Unmöglichkeit, die Tragödie dieses Krieges strafrechtlich zu fassen, wird augenfällig. Aber ist das, was in Den Haag geschieht, wenigstens das der Justiz Mögliche? Sehr verschiedene Interessenlagen greifen in die Prozessverläufe ein, auch das zeigt Schmid. An manchen Aussagen - wie hier der jungen Bosnierin - ist das Tribunal nicht interessiert. Indem er beide Frauen in den Mittelpunkt stellt, verinnerlicht »Sturm« deren Blick auf dieses europäische Balkan-Drama - das ist die starke Seite des intensiv erzählten Films: Ganz unterschiedliche Erfahrungswelten werden in der Nahdistanz sichtbar und fühlbar.

Das fast völlige Beiseite-Lassen der geschichtlichen und politischen Zusammenhänge bleibt jedoch die Schwäche von »Sturm«. Kein Hinweis darauf, dass der Jugoslawienkrieg nicht nur ein Krieg der Serben, Kroaten und Albaner untereinander war, sondern dass die NATO, dass also auch Deutschland Krieg auf dem Balkan führte. Wir sind in diesem Krieg keine unbeteiligten Zeugen und erst recht keine Richter, wir sind Kriegspartei. Das sollte man nicht ignorieren, wenn man es mit der Wahrheitssuche im Jugoslawienkrieg ernst meint und Kriegsverbrechen nicht einfach vergessen will.

** Aus: Neues Deutschland, 9. September 2009


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