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Freiheit größer, Horizont kleiner

Serbien: Brennendes Kosovo-Problem, sinkende EU-Zustimmung, verständliche Jugo-Nostalgie

Von Michael Müller, Belgrad *

»Nehmen Sie doch auch noch von den Aprikosen! Oder vielleicht lieber diese Birnen?« Mujo Sehovic lässt nicht locker. Der bunte, täglich frische Bauernmarkt von Novi Pazar gleicht einer Oase. Denn diese Sommertage sind es hier in Südserbien beständig knackig heiß. Herrn Sehovic ficht das natürlich nicht an. Er und seine muslimische Familie leben seit Generationen in dieser Gegend. »Hier und auch drüben in Kosovo. Da sind jetzt an der Grenze gerade wieder beiderseits Dummköpfe am Werk«, will er loswettern, hebt dann aber nur die Schultern und winkt ab.

Das mit den Dummköpfen bezieht sich auf die Krawalle an zwei nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Zollstationen zwischen Serbien und Kosovo. Die Fernsehbilder davon flimmern seit Tagen über die Sender beiderseits der Grenzlinie. Doch die Ortsnamen Dolni Jarinje und Brnjak tauchen im Zusammenhang mit ähnlichen Rangeleien bereits seit Anfang 2008 auf. Damals hatte sich das zu 90 Prozent albanisch-muslimisch bevölkerte Kosovo von Serbien, dem jahrhundertelangen Mutterland, losgesagt. Viele der 100 000 Serben, die nach der Vertreibung 300 000 weiterer Nicht-Albaner in Kosovo blieben, wollen sich damit nicht abfinden. Und Serbien selbst hat Kosovo als Staat nicht anerkannt (wie übrigens immer noch die meisten UNO-Staaten und auch fünf der 27 EU-Länder nicht).

Doch auch die jetzt ramponierten Zollhäuschen und die paar ausgebrannten Autos werden kaum zu einer Eskalation führen. Kosovo ist inzwischen – mit seinem Kerncamp bei Ferizaj (amerikanisch Bondsteel) – zum weltweit größten Militärstützpunkt der USA ausgebaut worden. Und die USA, die NATO und die EU dürften momentan an nichts weniger interessiert sein als an einer Stichflamme in Südosteuropa.

Auch die Ethnien und Religionen dieser Region selbst sind sich nicht von Natur aus spinnefeind; sie lassen sich aber – wie übrigens auch anderenorts in Europa und der Welt – von furchtbaren eigenen und äußeren Dummköpfen gegeneinander aufhetzen. Die Jahre seit 1990 zeigen es leidvoll. Historisch gesehen ist indes das Zusammenleben das Normale. Nicht zuletzt die serbische Stadt Novi Pazar und ihr weiter Umkreis, der Sandschak, zeigen das. Vier Fünftel der rund 90 000 Einwohner sind slawisch sprechende Muslime, ein Fünftel Serben. »Das war und ist nicht immer einfach, aber fast immer friedlich«, sagt Senat Halitovic, der 32-jährige Imam der Arap-Moschee, einer von über 20 in der Stadt. Studiert hat er übrigens an der Islamischen Fakultät von Sarajevo (heute Bosnien-Herzegowina), die zu jugoslawischen Zeiten eingerichtet worden war.

Als er zum Mittagsgebet ruft, hat Händler Mujo Sehovic seinen Gebetsteppich schon ausgebreitet, wohingegen sein serbisch-orthodoxer Kollege am Nachbarstand fleißig weiter Kunden lockt: »Vielleicht nehmen sie ja diese Birnen von mir, oder doch lieber die Aprikosen?« Hilft vielleicht ein »Grundlagenvertrag«?

Wenn auch glücklicherweise von gedämpfter Brisanz, wird das aus der Sicht des offiziellen Belgrads offene staats- und völkerrechtliche Kosovo-Problem die serbische Politik noch geraume Zeit beschäftigen. Sezession, Selbstverwaltung, Wiederangliederung oder gar Anerkennung, schwirrt es in den politischen Debatten in Medien und Gremien durcheinander. Auch die Kompromisslösung, wie sie DDR und BRD 1972 einst mit dem »Grundlagenvertrag« fanden, wird, wie dieser Tage in der überregionalen »Danas«, kolportiert und diskutiert.

»Doch wie auch immer: Die völkerrechtliche Crux, hier territoriale Integrität, dort Selbstbestimmungsrecht, da sind sich wohl zumindest alle maßgeblichen Spieler einig, muss friedlich gelöst werden«, bekräftigt Professorin Sonja Gavrilovic, die an der Belgrader Uni Internationale Politik lehrt. Vor allem aus humanistischem, aber auch aus ganz pragmatischem Grund: Serbien und auch Kosovo sollen eine reale EU-Perspektive bekommen. »Die Auslieferung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Goran Hadzic waren aktuell wichtig. Das Kosovo-Problem zu lösen, aber wird mittelfristig immer drängender.«

Der »Mitte-Links«-Regierung in Belgrad droht die Zeit wegzulaufen. Man will nämlich möglichst noch 2011 den offiziellen EU-Kandidatenstatus erlangen und sich diesen Kurs bei den für Mai 2012 vorgesehenen Parlaments- und Kommunalwahlen absegnen zu lassen. Doch dafür ist es allerhöchste Eisenbahn! Laut jüngster Umfrage sank die EU-Zustimmungsquote in Serbien binnen drei Jahren von über 70 auf 55 Prozent.

Noch schlimmer. Der EU-Hoffnungsbonus verflog in den letzten Monaten, obwohl sich die soziale Lage im Land in den vergangenen drei Jahren weiter verschlechterte. Das durchschnittliche Monatseinkommen, weiß Sasa Djogovic vom Belgrader Institut für Marktforschung, sank seit 2008 von 420 auf 330 Euro, die reale Arbeitslosenquote liegt heute bei über einem Drittel. Und die EU-Sympathiewerte sinken trotz der Aussicht, dass allein die Jahre eines Kandidatenstatus einige Milliarden Euro aus Brüssel ins Land spülen würden. Noch sprechen PR-Experten der Regierung von »temporären Kommunikationsproblemen«, wie in der Tageszeitung »Vecernje Novosti« dieser Tage zitiert. Doch in alltäglichen Gesprächen klingt das etwas anders.

»Die EU hat auf längere Sicht mit ihrer Krise zu tun, so dass für unsere Sorgen schwerlich Platz sein dürfte«, meint jedenfalls Dragana Kocic, pensionierte Lehrerin, sehr bestimmt. Im Belgrader Kalemegdan-Park betreibt sie einen gut sortierten Buch- und Ansichtskartenstand. »Wenn ich nur daran denke, was wir in Jugoslawien damals alles aus eigener Kraft geschafft haben«, sinniert sie wohl mehr für sich als für den Reporter. »Warum packen es bloß die jungen Menschen heute nicht ähnlich wie wir damals?«

Dubravka Stojanovic, Historikerin an der Belgrader Uni, nimmt die Jugend in Schutz. Aus volkswirtschaftlichen wie politischen Gründen. »Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und ihre Märkte sind einfach zu klein«, und außerdem spiele selbstredend keines dieser Länder auch nur annähernd eine internationale Rolle wie einst Jugoslawien als eine Führungsmacht der Nichtpaktgebundenen. »Doch die jungen Leute haben ein sehr positives Bild von Jugoslawien«, analysiert sie als Fazit einer großen Umfrage, die sie gerade abgeschlossen hat. Was im Kontrast zu heute nicht unbedingt überrascht, denn der damalige föderale Staat war das wohlhabendste und freizügigste sozialistische Land. Oder wie der französische Publizist Oliver Guez kürzlich den serbischen Schriftsteller Goran Petrovic in einem Aufsatz zitierte: »Jugoslawien war kein Paradies, sondern eine Diktatur. Dennoch fällt es schwer, keine nostalgischen Gefühle aufkommen zu lassen. Denn heute leben wir alle in klaustrophoben Ländern, die einem wilden Kapitalismus huldigen. Sicher haben wir heute mehr Freiheit, aber der Horizont ist beschränkter.«

TANJUG und »I love YU«

Der Serbe Petrovic beschreibt eine Gefühlslage, auf die man in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in verschiedenen Nuancen immer häufiger trifft. Kann daraus trotz des historischen Zurechtstutzens auf Kleinstaaterei neues Selbstbewusstsein wachsen? Sicher nicht dadurch, dass die staatliche serbische Nachrichtenagentur nach wie vor TANJUG (Telegrafska agencija nove Jugoslavije) heißt, die größte Fluggesellschaft sich weiter JAT (Jugoslovenski Aerotransport) nennt und die T-Shirts Tausender Heranwachsender das Bekenntnis »I love YU« ziert. Was aber tun?

Predrag Pavlicic, der in der Fußgängerzone der Vojvodina-Hauptstadt Novi Sad im Norden Serbiens ein Café betreibt, weiß es auch nicht. Aber er zitiert ein, wie er sagt, Sprüchlein seines Vaters: »Der Hund, der über die Donau geschwommen ist, wird wieder schwimmen.« Novi Sad liegt an eben dieser Donau, und die NATO-Luftangriffe 1999 hatten nicht nur viele Menschen in den Tod, sondern auch alle Donaubrücken in den Abgrund gerissen. »Und dann brauchen wir natürlich Helden«, ist er sicher. Etwa solche wie Novak Djokovic, den diesjährigen Wimbledonsieger. Ganz Serbien spielt in diesem Sommer Tennis! Was wohl passieren würde, wenn eine Serbin den Chemie-Nobelpreis erhielte oder ein gebürtiger Serbe der nächste Mann auf dem Mond wäre?

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2011


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