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"Ständig politischer Gewalt ausgesetzt"

Solidaritätsfahrten nach Mitrovica: Serben im Kosovo fühlen sich von Regierung in Belgrad im Stich gelassen. Ein Gespräch mit Benjamin Schett *


Benjamin Schett studiert in Wien Osteuropäische Geschichte und beteiligt sich an Solidaritätsaktionen für die Serben im Kosovo.


Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am vergangenen Freitag mit Blick auf die Auseinandersetzungen im Kosovo konstatiert, Serbien sei nicht reif für EU-Beitrittsverhandlungen. Das Land werde den Anforderungen des Prozesses »nicht gerecht«. Sie sehe bei Serbien keinen Kandidatenstatus. Wie ist die Nachricht bei der serbischen Bevölkerung angekommen?

Diejenigen, die ihr Vertrauen in die Heilsamkeit eines EU-Beitritts bereits verloren haben oder ein solches noch nie hatten, dürften dies vor allem als einen weiteren Beweis dafür ansehen, daß von den NATO-Staaten nichts anderes als Erpressung zu erwarten ist – und dies nicht erst seit heute. Das geht so seit 20 Jahren. Jene, die nach wie vor auf einen EU-Beitritt hoffen, werden ihren Ohren nicht getraut haben: Seit dem Sturz des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic vor elf Jahren hat Serbien dem Westen so ziemlich jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, unter völliger Preisgabe seiner nationalen Souveränität. Von ungehemmter Privatisierung bis hin zur Auslieferung seiner Staatsbürger an ein »Tribunal«, welches von den NATO-Staaten finanziert wird, um derem Version der Ereignisse in den jugoslawischen Bürgerkriegen quasi rechtskräftig werden zu lassen. Doch all das reicht nicht aus: Obwohl nicht einmal alle EU-Staaten die »Republik Kosovo« anerkannt haben, wird dies von Serbien verlangt, um »Europa-tauglich« zu werden.

Daß die Kritik aus Deutschland kommt, macht die Sache nicht gerade besser: Von einem Land, das Serbien im 20. Jahrhundert dreimal angegriffen hat und eine Tradition der Zusammenarbeit mit Rechtsaußenkräften in Kroatien pflegt, will man sich ganz sicher nicht belehren lassen.

Von Belgrad aus starten Busse mit Unterstützern zu den protestierenden Serben im Norden des Kosovo, die sich der von Pristina 2008 proklamierten Sezession verweigern. Was ist das Ziel dieser Solidaritätsfahrten?

Die Kosovo-Serben fühlen sich von der prowestlichen Regierung im Stich gelassen. Premier Boris Tadic hat unlängst sogar die Beseitigung der Straßensperren gefordert. Es geht also nicht zuletzt um moralische Unterstützung und darum, auf die Belange der Menschen, die dort für ein Leben in Würde kämpfen, aufmerksam zu machen, in Serbien und weltweit. Außerdem werden humanitäre Güter – warme Kleidung, Öl, Mehl etc. – in die Region transportiert. Eine Gruppe serbischer Schriftsteller hat unlängst 3000 Bücher für die Bibliothek in Kosovska Mitrovica beigesteuert.

Sind weitere Fahrten geplant?

Ja. Reisebusse werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Fahrt beginnt in Belgrad und endet in Kosovska Mitrovica, von wo aus diverse Barrikaden besucht werden. Die Teilnahme von Personen aus dem Ausland ist ausdrücklich erwünscht und würde helfen, die Aufmerksamkeit für das Thema über die Grenzen Serbiens hinaus auszudehnen. Wer sich dafür interessiert, kann sich an John Bosnitch (jbosnitch@gmail.com) wenden, der die Fahrten organisiert.

Wie sind die Lebensbedingungen der serbischen Bevölkerung im NATO-kontrollierten Kosovo?

Schlecht, so wie in den meisten Teilen Serbiens. Selbst in Belgrad hört man die Leute sagen, Tadics Regierung sei die unsozialste, die das Land je gehabt habe. In Kosovska Mitrovica gibt es nur unregelmäßig Strom. Verhungern muß keiner, aber viel mehr ist nicht drin. Hinzu kommt die permanente Anspannung. Man muß sich vor Augen halten, daß diese Menschen seit mehr als zwölf Jahren ständig, mal mehr mal weniger, politischer Gewalt ausgesetzt sind, und eine dramatische Verschlechterung der Lage jederzeit möglich ist.

In der vergangenen Woche wurde eine Delegation der kosovo-albanischen Regierung aus Pristina im Deutschen Bundestag empfangen, darunter Politiker, die Kriegsverbrechen begangen haben sollen bzw. Prozesse gegen Kriegsverbrecher blockieren, jW berichtete. Hat das in Serbien eine Rolle gespielt?

Die staatlichen und somit prowestlichen Medien halten sich natürlich zurück, den Unmut in der Bevölkerung noch zu vergrößern und berichten wenig über diese Vorgänge. Abgesehen davon glaube ich, daß solche Ereignisse die Menschen in Serbien zwar nach wie vor sehr aufregen, aber als überraschend kann man sie ja nicht mehr bezeichnen. Man denke nur daran, wie der mutmaßliche Organhändler und Terrorist ­Hashim Thaci von sämtlichen Politikern des Westens gehätschelt wurde und so vom Banditen zum Kosovo-»Premier« aufsteigen konnte.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, 8. Dezember 2011


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