Kosovo zwischen Nationalismus und Großmachtinteressen
Vorläufiger Kompromiss bedeutet kein Ende der Konflikte zwischen Serben und Albanern
Von Inge Höger und Carsten Albrecht *
Der Grenzkonflikt im Norden Kosovos hat in den letzten Wochen derart an Schärfe gewonnen, dass
der Kommandeur der NATO-Truppen in Kosovo, Erhard Bühler, ein »Blutbad« nicht ausschließen
wollte.
General Bühler sagte, er habe Ende Juli »ein Blutbad verhindert«, indem er seinen Truppen nicht
befohlen habe, serbische Sitzblockaden aufzulösen. Da ein solches »Blutbad« den heimischen
Medien schlecht zu vermitteln gewesen wäre, einigte sich die NATO-Mission KFOR mit Serben und
Albanern letztlich auf einen Kompromiss, um die Lage vorerst zu beruhigen. Bis Mitte September
sollen KFOR-Truppen die beiden Grenzübergänge Jarinje und Brnjak kontrollieren und den Boykott
serbischer Waren durchsetzen. Nur unter starkem Druck aus Belgrad haben die Kosovo-Serben
angekündigt, ihre Straßenblockaden diese Woche zu räumen. Unklar bleibt, was nach dem 15.
September passiert.
Inzwischen sind 700 Soldaten des KFOR-Reservebataillons ORF (Operational Reserve Forces) in
die Region verlegt worden. Dazu gehören 550 Deutsche vom Raketenartilleriebataillon 132 aus
Sondershausen in Thüringen. Bislang waren 5500 NATO-Soldaten in Kosovo stationiert, davon 917
Deutsche.
Der jüngste Kosovo-Konflikt ist symptomatisch für die Balkan-Politik der NATO und ihrer
Verbündeten. Ablenkmanöver und Großmachtinteressen machen die Bewohner Nordkosovos
gleichsam zu Spielgeld. Serbische nationalistische Kreise instrumentalisieren sie für den Versuch,
Kosovo wieder in den serbischen Staat zu integrieren. Für die Kosovo-Regierung wiederum ist es
praktisch, mit den Serben als »innerem Feind« einen Sündenbock zu haben. Und der NATO dienen
die ethnischen Auseinandersetzungen in Kosovo als Begründung für die fortdauernde
Truppenpräsenz.
Die »internationale Gemeinschaft« hat tüchtig geholfen, nationalistischen Kräften in Kosovo Aufwind
zu verschaffen. In der Miloševic-Ära wurden die Kosovo-Albaner von der serbischen Regierung
tatsächlich als Bürger zweiter Klasse behandelt. Doch war dies nicht der Grund, warum die NATO
und ein Großteil der EU-Staaten die Abspaltungswünsche kosovo-albanischer Nationalisten
unterstützt und befördert haben. Es entsprach dem »euro-atlanischen« Interesse, die Völker des
ehemaligen Jugoslawiens gegeneinander aufzubringen. Viele kleine nationale Eliten lassen sich
einfacher unter Kontrolle bringen als eine breite, kritische Masse. Hintergrund ist das Interesse der
NATO-Staaten, den Balkan als Übergangsregion zwischen Mitteleuropa und dem Bosporus
langfristig zu kontrollieren und als Auffangbecken für Flüchtlinge aus Nahost zu nutzen.
In den 12 Jahren, in denen Kosovo als »inoffizielles Semiprotektorat der EU und der Vereinigten
Staaten« (so in der FAZ genannt) existiert, hat sich die NATO nicht nur gegen Serben, sondern auch
gegen Albaner gewandt, wenn es zu Ausschreitungen kam, die die »Stabilität« in Frage stellten.
Zuletzt im März 2011, als 15 000 Kosovo-Albaner an verschiedenen Orten teils gewaltsam gegen
die Gefangennahme eines UÇK-Kriegsverbrechers demonstrieren, den sie als Nationalhelden
betrachten. Nachdem die NATO-Truppen der Vertreibung von Serben aus Kosovo so gut wie
tatenlos zugesehen und die Abspaltung der südserbischen Provinz umso tatkräftiger unterstützt
hatten, versuchten sie in den letzten Jahren als Schutzmacht der serbischen Minderheit aufzutreten.
Das gelang ihnen nur mäßig. Gerade im Norden, wo Serben in der Mehrheit sind, hielten sich die
Ressentiments gegen die KFOR, wie es die jüngsten Ausschreitungen demonstrieren.
In den serbischen Enklaven im übrigen Kosovo stellt sich die Lage etwas anders dar. KFORSoldaten
bewachen einige der Klöster, die für die serbisch-orthodoxe Kirche von großer Bedeutung
sind. »Im Osmanischen Reich haben türkische Soldaten unser Klöster vor den Albanern bewacht. Im
Zweiten Weltkrieg waren es die italienischen Carabineri. Und heute ist es die NATO.« Nüchtern
analysierte Bischof Teodosije vom Kloster Gracanica nahe Priština die Situation kürzlich gegenüber
einer Delegation der Linksfraktion im Bundestag.
Eine Lösung des Konflikts ist nicht ohne tiefgreifende Veränderungen im sozialpolitischen und
wirtschaftlichen Bereich denkbar. Geschätzte 50 Prozent der Bevölkerung Kosovos sind ohne
Arbeitsplatz. Vor diesem Hintergrund wies der Balkan-Experte Jonas Reese in einem Interview mit
dem Deutschlandfunk darauf hin, dass die Perspektivlosigkeit der Jugend eine wichtige Ursache der
Unruhen in Nordkosovo sei.
Für die Regierung Kosovos und die »internationale Gemeinschaft« sind die ethnischen Konflikte
durchaus von gewissem Nutzen, lenken sie doch die Wut der Massen auf einen Stellvertreterfeind –
die Kosovo-Serben. Damit wird die Bevölkerung nicht nur von der sozialen Misere abgelenkt,
sondern auch vom Organhandel-Skandal, in den die Regierung verstrickt ist. Außerdem redet
niemand mehr von den Vorwürfen der Wahlfälschung. Wie die Pariser »Le Monde« am 28. Juli
berichtete, haben internationale Beobachter weiter große Zweifel am korrekten Ablauf der Wahlen
2010.
Auf serbischer Seite profitiert neben der Regierung auch die radikale Rechte vom
Wiederaufflammen des Kosovo-Konflikts. Die großen serbischen Tageszeitungen sind dieser Tage
voll von nationalistischem Pathos. Der Aufruf zur »nationalen Einheit« ist allgegenwärtig und
behindert auch die Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen Serbiens, wie Armut oder
Korruption.
* Inge Höger, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, und ihr Mitarbeiter Carsten Albrecht haben Kosovo Ende Juni besucht.
Aus: Neues Deutschland, 9. August 2011
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