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"Gültig für einmalige Reise nach Pristina"

10 000 in Deutschland lebende Roma müssen ihre Abschiebung nach Kosovo befürchten, doch was wird dort aus ihnen?

Von Detlef D. Pries, Mitrovica und Pristina *

Die deutsche Bundesregierung hat angekündigt, in den nächsten Jahren schrittweise 14 000 »ausreisepflichtige« Kosovaren abzuschieben. Rund 10 000 davon sind Roma. Sie gelten als die am meisten benachteiligte und »verwundbarste« Minderheit in Kosovo, denn sie haben weder eine Lobby noch ein »Mutterland«.

Markttag in Kosovska Mitrovica oder Mitrovicë, wie es albanisch heißt. Brennholz und Kartoffeln, riesige Kohlköpfe und gebrauchte Mobiltelefone sind im Angebot. Burim Nebihu steuert den Jeep des Dänischen Flüchtlingsrates (DRC) vorsichtig durch das Marktgedränge. Als die Trauben von Händlern und Kunden passiert sind, öffnet sich der Blick auf eine weite Fläche, auf der zwei oder drei Ruinen, ein paar neue, ansehnliche Mehrfamilienhäuser und eine Reihe ziegelroter, unverputzter Gebäude unterschiedlicher Form und Größe verteilt sind. Kinder tollen auf freien Plätzen, einige mit halbnacktem Bauch, was nicht weiter bemerkenswert wäre, wenn kein Schnee läge und das Thermometer nicht Minusgrade anzeigte.

Roma-Mahalla heißt die Siedlung südlich des Flusses Ibar, der Mitrovica heute faktisch in einen serbischen (nördlichen) und einen albanischen (südlichen) Teil trennt. Das Wort »Mahalla«, ein Erbe aus der Zeit osmanischer Besetzung, kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie »Nachbarschaft«. Das Romaviertel von Mitrovica zählte 1999 rund 8000 Bewohner. Bis es im Juni jenes Kriegsjahres »platt gemacht« wurde. »Schrecklich sah es hier aus«, sagt der Albaner Burim über das Zerstörungswerk seiner Landsleute, die ihren Hass und ihre Wut an den ungeliebten Nachbarn ausgelassen hatten. Sie beschuldigten die Roma unterschiedslos der Kollaboration mit den Serben oder gar der Teilnahme an Plünderungen während des Krieges und glaubten sie durch die Zerstörung ihrer Häuser endgültig vertreiben zu können. Einst lebten in Kosovo 150 000 Roma, heute sind es 35 000.

Flüchtlingslager auf verseuchtem Boden

Auch die Roma aus der Mahalla flohen – nach Serbien, Montenegro, Mazedonien, ins westliche Europa. Viele retteten sich nur in den nördlichen Teil von Mitrovica, wo sie in Lagern unterkamen, provisorisch, für 45 Tage, wie es damals hieß. Etliche leben zehn Jahre später noch dort, unter schwer beschreiblichen Bedingungen.

Jasmina Dalipovic, Projektmanagerin des Dänischen Flüchtlingsrats, will uns die Lager unbedingt zeigen. Über die Ibar-Brücke fährt sie in den serbischen Teil Mitrovicas. Osterode heißt das eine Lager, dessen Baracken und Wohncontainer früher von französischen KFOR-Truppen genutzt wurden. Ein paar Romaburschen stellen sich freudig für eine Aufnahme durchs Autofenster in Positur. Aussteigen lässt Jasmina uns lieber nicht. Auch nicht in Cesmin Lug, einen Steinwurf von Osterode entfernt, nur dass der Anblick der ärmlichen Bretterbuden noch weit trostloser ist. Insgesamt 1600 Menschen sollen in den Lagern auf engstem Raum leben. Beide liegen nahe einer ehemaligen Bleischmelze, die den Boden verseucht hat. Bluttests unter Aufsicht der UNICEF haben bei 30 Prozent der Kinder in Cesmin Lug erhöhte Bleiwerte ergeben. Das Lager müsste sofort geschlossen werden. Aber wohin sollten die Bewohner gehen?

Die Mahalla im Süden blieb jahrelang eine Geisterstadt, bis im März 2007 mit großem Bahnhof der Beginn der Rückkehr der Roma-Gemeinde begangen wurde. Der damalige Chef der UN-Mission in Kosovo (UNMIK), Joachim Rücker, feierte das Ereignis zweckoptimistisch als Beweis dafür, dass und wie herzlich die Stadt Mitrovica alle Rückkehrer willkommen heiße. Knapp drei Jahre später leben etwa 600 Menschen in der Roma-Mahalla – von einst 8000. Häuser für weitere 600 sollen in den nächsten zweieinhalb Jahren wiederaufgebaut werden, mit Zuwendungen der EU und der US-amerikanischen USAID.

Die Stadt aber habe den Rückkehrern nichts zu bieten, weder Behausungen noch gesundheitliche Betreuung, weder Ausbildung noch Arbeit, weiß Jasmina Dalipovic, deren DRC sich inzwischen als einzige ausländische Nichtregierungsorganisation um die Roma in Mitrovica kümmert. Die offizielle Arbeitslosenrate in ganz Kosovo beläuft sich auf 43 Prozent, in der Roma-Mahalla geht sie gegen 95 Prozent. Mit Hilfsgeldern aus Norwegen und Irland unterstützt der DRC deshalb die Einrichtung und den Betrieb einfacher Containerwerkstätten für Schmiede, Zimmerleute, Schweißer und Maler. Eines Tages könnte sich daraus ein Recyclingbetrieb entwickeln, den die Mahalla-Bewohner selbst betreiben. Auch Industriewäscherei, Näherei und Kindergarten gehören zu dem Projekt. Aber das alles wird nicht reichen, die Gemeinde wirtschaftlich nachhaltig zu stabilisieren. »Zusätzliche Ankömmlinge erschweren unsere Situation«, gibt Jasmina zu bedenken. Niemand kümmere sich bisher um Zwangsdeportierte, unterstützt würden allenfalls »freiwillige« Rückkehrer.

Zu denen, die im September 2008 aus Deutschland abgeschoben wurden, zählt die sechsköpfige Familie Hajdari. Neun Jahre lebte sie im baden-württembergischen Blaubeuren. Vater Nexhmedin arbeitete für eine Leihfirma, zuletzt hatte er sogar eine feste Anstellung. Als sein Chef eines Morgens anrief und fragte, warum er nicht zur Arbeit erscheine, konnte er nur antworten, dass er mitsamt der Familie bereits am Flughafen sei, weil er abgeschoben werde. Der Familienvater zeigt seine Dokumente: »Gültig für die einmalige Reise von Söllingen nach Pristina.«

»Das war total schrecklich«, wirft die 13-jährige Fatima in bestem Jugenddeutsch ein. Sie konnte sich nicht einmal von ihren Mitschülerinnen verabschieden. Englisch sei ihr Lieblingsfach gewesen, zurück in Kosovo habe sie jedoch ein ganzes Schuljahr verloren, weil sie kein Albanisch konnte. Dafür hat sie im letzten Halbjahr nicht einen einzigen Schultag versäumt. Mag sein, dass Fatima eine Ausnahme ist. Die Zahl der Schulabbrecher unter den Romakindern ist groß, merkt Jasmina an. Wer keine Chance auf bezahlte Arbeit sieht, habe auch wenig Interesse an Bildung.

Die Hajdaris sind durchaus nicht wohl gelitten in der Mahalla: Die aus den Lagern kommen, beneiden sie, weil sie in Deutschland gelebt haben. »Das ist total verrückt in dieser Straße mit den ganzen Zigeunern«, platzt es völlig unkorrekt aus Fatima heraus, was ihr einen Rüffel vom Vater einbringt. Nexhmedin ist seit der Abschiebung beschäftigungslos, die Familie lebt von 70 Euro Unterstützung im Monat, »und die bekommen wir nur, weil der Kleine noch nicht fünf Jahre alt ist. In einem halben Jahr bekommen wir gar nichts mehr«, weist Fatima auf ihren Bruder. Furchtbar beengt leben die Hajdaris in dem eigenartig schlanken Haus der Großeltern, in dem sie nach ihrer Ausweisung untergekommen sind: Über der kleinen Wohnküche im Erdgeschoss liegt der Schlafraum, den man über eine Außentreppe erreicht. Das ist alles.

Ein paar Häuser weiter lebt der 36-jährige Osman Osmanaj mit seiner Frau, fünf Kindern, von denen zwei in Deutschland geboren wurden, und einer behinderten Mutter. In Böblingen hat er »bei Daimler« gearbeitet, sieben Jahre. Da habe er seine Familie ernähren können, bis er im August 2008 abgeschoben wurde. Eigentlich stammen die Osmanajs aus Klina im Westen Kosovos. Dorthin will er nicht zurück: »Da gibt es keine unsere Leute.« Von der Mahalla-Gemeinde wird die Familie aber auch nicht akzeptiert. Roma leben in fest gefügten Verbänden, Fremde haben es da schwer. »Niemand hilft uns«, klagt Osman, und seine Frau ergänzt: »Ich lebe mit meinen Kindern von der Straße.«

»Ein sehr großes Problem für Kosovo«

Darf man Roma angesichts dieser Lage nach Kosovo abschieben? Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im Europäischen Parlament, konstatiert an Ort und Stelle: »Die Roma werden abgeschoben in große Armut, in Diskriminierung und an Orte, wo sie niemand haben will. Dabei sollte die deutsche Regierung gegenüber den Roma eine besondere Verantwortung spüren, denn Hunderttausende fielen einst dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer.« Die Abgeordnete kann sich auf den Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, Thomas Hammerberg, berufen, der im Dezember in einem Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte, auf neue Abschiebungen zu verzichten. Eine Rückkehr nach Kosovo setze voraus, dass die Betroffenen »würdevoll und sicher« aufgenommen und integriert werden können, diese Voraussetzung sei aber nicht gegeben.

Dagegen beruft sich etwa das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes, wonach es keine Anzeichen dafür gebe, »dass allgemein bei Angehörigen der Roma aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen die Abschiebung auszusetzen wäre«.

Gespräche in Pristina erhellen politische Hintergründe: EU- und NATO-Mächte haben ihrem Protektorat eine der fortschrittlichsten Verfassungen Europas vorgeschrieben. Kosovos Parlamentspräsident Jakup Krasniqi erklärt denn auch, Minderheiten genössen in Kosovo alle Rechte, die europäischen Menschenrechtsstandards entsprechen. In seinem Parlament vertreten fünf Abgeordnete Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter. Soziale Probleme gebe es in allen Gruppen, in diesen freilich besonders. Schon der niedrige Bildungsgrad erschwere es ihnen, sich am Markt zu behaupten. 10 000 weitere Rückkehrer aus Deutschland? »Das wird ein sehr großes Problem für Kosovo.« Das gehe nur Schritt für Schritt – wenn man ihnen hilft. Auf jeden Fall brauche Kosovo mehr Zuwendungen von der EU.

Fisnik Rexhepi, Berater im Innenministerium, wird deutlicher. Kosovo erstrebe für seine zwei Millionen Bürger Visafreiheit im EU-Raum. Voraussetzung dafür ist die vertragliche Verpflichtung der Regierung in Pristina, die in EU-Staaten lebenden Flüchtlinge zurückzunehmen. »Wir können zwei Millionen Kosovaren nicht zu Geiseln der verhältnismäßig kleinen Gruppe machen, die repatriiert werden muss«, sagt Rexhepi. Einige Staaten hätten sogar gedroht, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, wenn Pristina seine »ausreisepflichtigen« Bürger nicht zurücknehme (fünf EU-Staaten erkennen die Unabhängigkeit der Region ohnehin nicht an). Also werden Rücknahmeabkommen ausgehandelt und unterschrieben, obwohl alle Beteiligten wissen, dass die Kosovo-Behörden weder finanziell noch institutionell fähig sind, den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Armut gebe es schließlich auch in anderen Ländern, hört man da schon mal.

»Setzt sie nicht einfach auf dem Flugplatz ab!«

Bekim Syla arbeitet für das Roma- und Aschkali-Dokumentationszentrum (RADC). Als Dolmetscher für die OSZE habe er gesehen, wie »die eigenen Leute leiden«. Syla ist selbst Aschkali. »Irgendwer muss sich um sie kümmern.« Die Kosovo-Regierung unterzeichne zwar wohlformulierte Verträge, aber nur um der EU zu gefallen. Eine vor Jahresfrist beschlossene Roma-Integrationsstrategie sei geradezu perfekt, nur sei nach ihrer Verabschiedung nichts passiert. »Wir sind der Papiere müde, lasst uns Realitäten sehen«, verlangt Syla. Er räumt ein, dass Roma in der Regel nicht hoch qualifiziert sind, »aber ihnen wäre schon geholfen, wenn man sie als Putzkräfte anstellen würde. Sie wollen gar nichts Exklusives. Doch wie kann man leben, wenn sie überall die Türen zumachen?«

Er ist nicht gegen die Rückkehr der Roma aus Deutschland, bittet aber: »Setzt sie nicht einfach auf dem Flugplatz ab. Sie brauchen Unterstützung.« Anderenfalls landen sie in den Lagern, die eigentlich geräumt werden sollen. Sylas RADC zitiert in einem Report Xhevat Salihaj, einen Angestellten der Gemeinde Shtime (Štimlje): »Für die Leute, die nach Kosovo zurückkehren, wäre es am besten, sie gingen ins Gefängnis. Die Lebensbedingungen unserer Häftlinge sind besser als die der meisten in den Romagemeinden.«

* Aus: Neues Deutschland, 4. Januar 2010


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