Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die Chancen für Serbien sind besser geworden"

Über den Kosovo-Vorschlag von UN-Vermittler Martti Ahtisaari, die Position Rußlands und die Stimmung in Belgrad nach den Wahlen. Gespräch mit Srdja Trifkovic *



Frage: Am Mittwoch hat das serbische Parlament mit über 90 Prozent Mehrheit den Kosovo-Vorschlag von UN-Vermittler Martti Ahtisaari als unannehmbar zurückgewiesen. Sehen Sie das genauso?

Srdja Trifkovic: Absolut. Der Plan, den Ahtisaari am 2. Februar veröffentlicht hat, ist die Erfüllung aller albanischen Wünsche und würde das Kosovo von Serbien abspalten. Zwar vermeidet das Dokument das Wörtchen »Unabhängigkeit« für den künftigen Status der Provinz. Aber abgesehen vom U-Wort soll das Kosovo alle Insignien und Souveränitätsrechte eines eigenen Staates erhalten: eigene Armee, eigener Geheimdienst, eigene Flagge sowie das Recht auf Mitgliedschaft in Weltbank, Internationalem Währungsfonds und eventuell in der UNO.

Ahtisaari behauptet, die Rechte der nicht-albanischen Minderheiten blieben gewahrt.

Lokale Autonomierechte für die paar verbliebenen serbischen Gemeinden – das ist doch nur ein Feigenblatt. Was die grundsätzliche Frage des verfassungsrechtlichen, juristischen und politischen Status der Provinz angeht, sollen die Albaner alles und die Serben nichts erhalten. Die Kompetenzen, die Serbien in der UN-Resolution 1244 vom Juni 1999 zugestanden wurden, erlöschen völlig. Die Zugehörigkeit der Provinz zu Serbien, die in dieser UN-Resolution bekräftigt wurde, wäre bei Annahme des Ahtisaari-Plans passé. Aber nicht nur das: Indem der Ahtisaari-Plan die Abtrennung eines Fünftels des serbischen Staatsgebietes vorsieht, bedeutet er eine Verletzung der UN-Charta und der Helsinki-Schlußakte von 1975. Dort wird allen Staaten die territoriale Integrität und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zugesichert.

Seit Verabschiedung der UN-Charta 1948 und der Helsinki-Dokumente 1975 wurden aber ständig neue Staaten gegründet oder bestehende liquidiert.

Das stimmt. Aber entweder geschah dies aufgrund von Beschlüssen der Machtorgane der jeweiligen Staaten beziehungsweise des UN-Sicherheitsrates, oder die Veränderungen auf der Landkarte waren die Konsequenz völkerrechtswidriger Akte. Dies wäre auch jetzt der Fall, wenn das Kosovo entgegen den eindeutigen Festlegungen der serbischen Verfassung, der serbischen Regierung und des serbischen Parlaments abgetrennt würde.

Der Ahtisaari-Plan könnte vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet und damit als völkerrechtskonform dargestellt werden, auch wenn Serbien dagegen ist.

Der russische Präsident Putin hat am vergangenen Wochenende in München wiederholt, daß Rußland gegen jede Lösung der Kosovo-Frage, die nicht von den Konfliktparteien vor Ort mitgetragen wird, sein Veto einlegen wird. De facto bindet er damit das russische Stimmverhalten in der UNO an die Position Belgrads. Darüber hinaus hat er mehrfach bekräftigt, daß das Kosovo einen Präzedenzfall für das Völkerrecht darstellt, egal, wie entschieden wird. Würde es unabhängig, so müßte das Sezessionsrecht auch für ähnlich gelagerte Territorialkonflikte in anderen Weltgegenden Anwendung finden. Explizit hat Moskau auf die pro-russischen Regionen Abchasien und Südossetien in Geor­gien und auf Transnistrien in Moldawien hingewiesen. Ebenfalls am vergangenen Wochenende hat Außenminister Sergej Iwanow von einer »Kettenreaktion« gesprochen, die »auch Regionen in Europa« betreffen könnte – eine Anspielung etwa auf das Baskenland und Katalonien. Rußland warnt also den Westen, daß diesem ein Eingriff ins Völkerrecht per Saldo mehr Verluste als Gewinne bringen könnte.

Wenn Moskau seine Position von derjenigen Belgrads abhängig macht, könnte es aber auf sein Veto in der UNO verzichten, wenn man in Belgrad selbst schwankend wird. Da es genug käufliche Politiker in Serbien gibt – muß man nicht genau das befürchten?

Wie man bei der Parlamentsabstimmung am Mittwoch gesehen hat, ist die Ablehnung des Ahtisaari-Plans über alle Parteigrenzen hinweg sehr stark – 225 von 244 Abgeordneten votierten für den entsprechenden Antrag der Regierung. Trotzdem ist die Härte der Ablehnung unterschiedlich, und das will der Westen ausnutzen. Stabil ist die Position von Ministerpräsident Vojislav Kostunica von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS). Nicht belastbar erscheint mir dagegen die Haltung seines Gegenspielers Boris Tadic, des Staatspräsidenten. Er gehört der von Zoran Djindjic gegründeten Demokratischen Partei (DS) an.

Wo liegt der Unterschied, wenn beide Nein zu Ahtisaari sagen?

Tadic hat geäußert, er werde »das Äußerste« tun, um Kosovo zu verteidigen – aber gleichzeitig behauptet, wahrscheinlich werde er damit nicht erfolgreich sein. Weiter wiederholt er immer wieder, unabhängig vom Ausgang der Kosovo-Entscheidung müsse Serbien seine Mitarbeit in den sogenannten euro-atlantischen Institutionen weiter fortführen und verstärken – also genau in den Gremien, die das Kosovo abspalten wollen. Demgegenüber droht Kostunica den Staaten, die völkerrechtswidrig ein unabhängiges Kosovo anerkennen würden, ziemlich unverblümt mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen – also eine Art serbischer Hallstein-Doktrin.

Mit der Hallstein-Doktrin legte sich die Adenauer-BRD darauf fest, mit allen Staaten die diplomatischen Beziehungen zu beenden, die die DDR anerkannten. Doch der Schuß ging nach hinten los, Mitte der sechziger Jahre wurde die Doktrin aus dem Verkehr gezogen. Ist das nicht ein stumpfes Schwert?

Sie müssen die Kombination sehen. Wenn Serbien über einen unabhängigen Staat Kosovo den Boykott verhängt, kann das eigentliche Ziel Brüssels, dieses Kosovo in die EU zu integrieren, nicht klappen. Denn alle schnellen Verkehrsverbindungen aus dem Kosovo nach Mittel- und Westeuropa laufen über Serbien. Wird diese Grenze dicht gemacht, müßte der gesamte Handel zwischen der EU und Kosovo über Montenegro, Mazedonien und Albanien laufen, also die anderen Anrainer. Aber die Straßen aus diesen drei Staaten in das Kosovo sind schlecht, laufen über Gebirge und sind im Winter oft unpassierbar; eine Eisenbahnverbindung fehlt völlig. Mit anderen Worten: Ohne die Zustimmung Serbiens würde sich die Distanz zwischen Kosovo und der EU vergrößern, nicht verringern.

Kehren wir noch einmal zurück zum Bakschisch. Sehen Sie nicht auch die Gefahr, daß der Westen die halbe Skupstina einfach kaufen könnte, um eine entsprechende Aufweichung bei der serbischen Haltung zum Kosovo zu erzielen? Genug albanisches Drogengeld ist da, damit man das finanzieren könnte.

Wenn der Westen einen Deal vorschlagen würde, müßte er gar nicht individuell bestechen. Die Mehrheit in der Skupstina und vielleicht auch in der Bevölkerung würde sich das Kosovo abhandeln lassen, wenn man wirklich etwas dafür bekäme. Würde Brüssel etwa anbieten, daß Serbien innerhalb von Jahresfrist EU-Mitglied werden könnte und die Serben dann ohne Visa in die EU einreisen könnten, käme die Mehrheit in Versuchung. Oder wenn der Westen einen Tausch vorschlagen würde: Ihr gebt das Kosovo her, und wir schaffen das Haager Tribunal ab. Aber solche Angebote gibt es nicht.
Was individuelle Verlockungen angeht, könnten die Abgeordneten der DS versucht sein – aber das sehe ich sogar positiv.

Das müssen Sie erklären.

Es hängt mit der Situation nach den Parlamentswahlen am 21. Januar zusammen. Die DS hat zwar ihre Stimmen auf knapp 23 Prozent fast verdoppelt. Aber um eine pro-westliche Regierung bilden zu können, braucht sie neben kleineren Partnern vor allem die DSS von Kostunica, die es auf über 16 Prozent brachte. Kostunica wiederum hat schon klar gemacht, daß die DSS nur dann einer Koalitionsregierung beitreten würde, wenn er selbst wieder Premier wird. Dann hätte er die Richtlinienkompetenz, auch und gerade was das Kosovo angeht. In der DS gibt es durchaus Leute, die dagegen gar nichts hätten, so lange sie selbst ihren Schnitt machen. Diese Leute könnte Kosunica mit dem Angebot befriedigen, daß die DS genau jene Ministerien bekommen könnte, wo man viel Geld machen kann – also etwa Energie, Handel oder Industrie. Denn im Jahr 2007 stehen einige wirklich kostbare Betriebe zur Privatisierung an, so etwa der Stromerzeuger Elektroprivreda Serbije oder der Mineralölkonzern Nafta Industrija Serbije. Wenn DS-Politiker als Minister den Verkauf dieser Filetstücke abwickeln dürften, könnten sie sich eine goldene Nase verdienen. Im Gegenzug würden sie Kostunicas harte Haltung in bezug auf das Kosovo unterstützen. – Ein solches Einknicken der DS vor Kustinca will der Westen auf alle Fälle vermeiden, und deswegen hat eine rege Reisetätigkeit nach Belgrad eingesetzt: EU-Erweiterungskommisar Olli Rehn, der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Portugals Außenminister Manuel Lobo Antunes, der Wiener US-Chefunterhändler Frank Wiesner, Javier Solana als EU-Troubleshooter und einige andere haben sich in den vergangenen zwei Wochen die Türklinke in die Hand gegeben. Sie üben Druck aus, damit Tadic nicht Kostunica nachgibt und Kostunica nicht den Radikalen.

Die Radikalen sind mit über 28 Prozent wieder stärkste Partei geworden. Warum geht Kostunica nicht mit ihnen zusammen und bildet eine Regierung?

Der Westen würde das nicht zulassen. Aber es ist vorstellbar, daß sich eine DSS-geführte Minderheitsregierung von den Radikalen stillschweigend tolerieren läßt, so wie sie sich in der letzten Legislaturperiode von den Sozialisten tolerieren ließ.

Der Westen würde das nicht zulassen? Was kann er tun, um eine ihm genehme Regierung zu erzwingen?

Den Druck auf Serbien auch in anderen Fragen erhöhen. Zum Beispiel, was die Frage der Vojvodina angeht.

Das heißt die Provinz im Norden Serbiens, die der reichste Landesteil ist.

Auch dort gibt es autonomistische und separatistische Tendenzen. Sie haben keine Aussicht auf die Mehrheit. Aber die dortige ungarische Minderheit ist über einen ihrer rabiaten Sprecher, Nenad Canak, auf der Liste der Liberaldemokratischen Partei LDP ins Parlament eingezogen. Er kann die Tribüne der Skupstina nutzen, um eine Unterdrückung der Ungarn in der Vojvodina zu behaupten und damit ein Einfallstor für westliche Einmischung auch in dieser Frage zu schaffen.

Die LDP ist bekanntlich auch für die Preisgabe des Kosovo.

Genau. Diese neue Partei hat zwar mit 5,3 Prozent nur knapp den Einzug in die Skupstina geschafft, gehört jedoch in den Augen des Westens ganz selbstverständlich zu den pro-europäischen Kräften, die nun die neue Regierung bilden sollen. Aber Kostunica hat sich schon dagegen ausgesprochen.

Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Ahtisaari macht Druck. Vor den Wahlen wollte er seinen Plan nicht präsentieren, um die Aussichten für die prowestlichen Parteien nicht zu schmälern. Nach den Wahlen hat er es umso eiliger, obwohl noch keine Regierung gebildet wurde. Der Respekt vor einem souveränen Staat hätte erwarten lassen, daß er die Amtseinführung einer neuen Administration abwartet. Aber offensichtlich will er genau die Schwäche der serbischen Seite in dieser Phase des Interregnums ausnutzen: Die gegenwärtige Regierung ist nur noch kommissarisch im Amt und hat keine Mehrheit von den Wählern mehr bekommen, deswegen kann sie auf der internationalen Bühne nicht so auftrumpfen.
Im März kommt der Ahtisaari-Plan in den Sicherheitsrat. Moskau wird sein Veto einlegen, der Streit wird eskalieren. Schon im April könnte es dann Neuwahlen in Serbien geben. In jedem Fall sind die Chancen für Serbien in den letzten Wochen besser geworden.

Das Kosovo ist nicht de jure, wohl aber de facto seit 1999 von Serbien getrennt und wird von UN und NATO verwaltet. Ist es überhaupt realistisch, daß nach so langer Zeit die Provinz zum Mutterland zurückkehrt?

Denken Sie an das Elsaß, Herr Elsässer. Nach der Kriegsniederlage Frankreichs im Jahre 1871 wurde Elsaß-Lothringen vom Deutschen Reich annektiert. Aber 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wurde die Annexion revidiert, und die Provinz fiel an Frankreich zurück. Da waren nicht sieben Jahre vergangen, wie jetzt im Falle des Kosovo, sondern 47 Jahre.

* Srdja Trifkovic war in den neunziger Jahren Berater der bosnisch-serbischen Präsidentin Biljana Plavsic und des damaligen Oppositionspolitikers Vojislav Kostunica (heute Premier Serbiens). Der US-amerikanische Staatsbürger arbeitete immer wieder als Publizist, u.a. für Voice of America, The Times und die BBC. Er lebt heute in Chicago und ist Redakteur des konservativen Magazins Chronicles.

Aus: junge Welt, 17. Februar 2007 (Interview: Jürgen Elsässer)


Zurück zur Serbien-Seite

Zur (früheren) Jugoslawien-Seite

Zur (früheren) Serbien-Montenegro-Seite

Zur Seite "NATO-Krieg gegen Jugoslawien"

Zurück zur Homepage