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Kosovo-Anerkennung: Islamische Welt übt Zurückhaltung

Von Maria Appakowa *

Die Zahl der Staaten, die zur Anerkennung des Kosovo bereit sind, nimmt allmählich zu. Doch viele, darunter arabische und islamische Länder, schwanken, obwohl Washington sie dazu anregt, mit den im Kosovo lebenden Muslimen Solidarität zu üben. Was ist der Grund?

Bei einem Presse-Briefing begrüßte US-Vizeaußenminister Nicholas Burns die Kosovo-Anerkennung durch die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und folglich durch die Regierungen ihrer Mitgliedsländer. "Unserer Meinung nach ist es ein sehr positiver Schritt, dass heute ein moslemischer Staat, ein Staat mit moslemischer Mehrheit, geschaffen worden ist."

Ob Burns Recht hat oder nicht, darüber haben die Europäer zu entscheiden. Ohnehin sind die westlichen Medien, darunter die in den USA, voller Befürchtungen, weil mitten in dem vorläufig noch hauptsächlich christlichen Europa eine muslimische Enklave entstanden ist. Die Frage der europäischen Selbstidentität gehört zu den schmerzhaftesten. Sie stellt sich ständig - demnächst in Bezug auf die EU-Verfassung und die Perspektiven des EU-Beitritts der Türkei. Sie stellt sich auch im Zusammenhang mit den Einwanderungsproblemen oder mit den Pogromen nach der Publikation von Karikaturen des Propheten Muhammad in den europäischen Medien. Doch diese Diskussion ist wie gesagt eine Sache der Europäer - ebenso wie auch die abermaligen Versuche Washingtons, den islamischen Faktor auszuspielen.

Am aktuellsten ist im Moment die Frage, ob das Kosovo einen Präzedenzfall für andere Gebiete sein wird. Gerade das ist der Grund für die Unentschlossenheit vieler - darunter islamische Länder - bei der Frage der Anerkennung der Kosovo-Unabhängigkeit. Der Faktor der islamischen Solidarität, mit dem die USA rechneten, geht bislang nicht auf.

Zu den OIC-Ländern, die die Kosovo-Unabhängigkeit gleich in den ersten Tagen anerkannt haben, gehören die Türkei, Afghanistan und Senegal. Drei von den fast 60 Mitgliedern dieser Organisation. Die übrigen warten ab, vor allem wegen der potentiellen Gefahr einer inneren Spaltung und/oder einer möglichen Destabilisierung der Situation in den Nachbarländern. Hier seien nur einige der potentiell gefährlichen Zonen genannt: Iran mit seinen kurdischen und aserbaidschanischen Enklaven, Marokko mit dem Westsahara-Streit sowie den immer wieder ausbrechenden Unruhen unter der berberischen Bevölkerung. Das gleiche Berber-Problem besteht auch in Algerien. Die bedeutenden schiitischen Gemeinden gibt es in den Monarchien am Persischen Golf. In Bahrein macht die schiitische Bevölkerung rund 75 Prozent, in Saudi-Arabien etwa 15, in Katar elf und in den Vereinigten Arabischen Emiraten 17 Prozent aus. Die Beziehungen zwischen diesen Gemeinden und der Zentralmacht sind alles andere als einfach. Potentiell explosiv ist die Situation auch in Syrien. Bei aller scheinbaren Stabilität braucht die Zentralmacht nur eine Schwäche zu zeigen, schon werden die Konflikte zwischen den Gemeinden an die Oberfläche kommen. Allerdings ist dieses Land noch weit davon entfernt, was im Libanon und Irak geschieht.

Im Übrigen hat sich in den erwähnten explosiven Gebieten noch niemand entschlossen, laut und vernehmlich zu erklären, dem Kosovo-Beispiel folgen zu wollen. Es liegt nicht daran, dass es vom juristischen und politischen Standpunkt aus nicht ganz richtig ist, all diese Situationen mit dem Kosovo zu vergleichen. Die Gefahr der Kosovo-Unabhängigkeit besteht vor allem darin, dass ein Beschluss ohne eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, nur dank der Unterstützung der USA und einiger europäischer Länder angenommen wurde. Die politische Konjunktur brach also das Völkerrecht. Folglich können jene, die dem Beispiel der Kosovo-Albaner folgen möchten, das gleiche Spiel spielen. Alles hängt davon ab, was für Washington günstig ist. Und gerade das versuchen sowohl jene zu verstehen, die potentiell den Weg des Kosovo gehen könnten, als auch jene, die eine solche Entwicklung in ihren Ländern befürchten.

Es ist kein Zufall, dass sich die Kurden in den ersten Tagen nach der Ausrufung der Kosovo-Unabhängigkeit nicht jenen angeschlossen haben, die diesem Beispiel folgen wollen. Dabei erwähnen viele Beobachter und die Medien, darunter amerikanische und türkische, im Zusammenhang mit dem Kosovo gerade das Kurden-Problem. Sie stellen die Frage: Wie soll den Kurden auch weiter "Nein" gesagt werden, wenn das Kosovo das "Ja" bekommen hat?

Die Situation um die Kurden gleicht dem Fall Kosovo am meisten. Aber die politische Kräftekonstellation ist für die Kurden ungünstig. Sie leben hauptsächlich in vier Ländern: in der Türkei, in Irak, Iran und Syrien. Washington mag Damaskus und Teheran noch so sehr reizen, aber die Interessen von Ankara, seinem alten Partner und Verbündeten, wird es nicht untergraben. Mehr noch: die Amerikaner behindern in keiner Weise die türkischen Militäroperationen gegen die "kurdischen Separatisten". Was die irakischen Kurden betrifft, so brauchen sie selbst die Unterstützung seitens der USA, denn sie garantiert die Sicherheit sowie ganz beträchtliche politische und wirtschaftliche Vorteile. Ebendeshalb streben die Kurden nicht danach, als Erste dem Beispiel der Kosovo-Albaner zu folgen und verkündet Ankara kühn die Anerkennung der Kosovo-Unabhängigkeit.

Im Unterschied zu den Kurden schwiegen die Palästinenser nicht. Am Vortag erklärte Jassir Abed Rabbo, Berater von Präsident Mahmud Abbas, die Palästinenser könnten nach dem Beispiel des Kosovo einseitig einen Staat ausrufen, falls der Dialog mit Israel nicht die erwünschten Ergebnisse zeitigt. Freilich wurde das sofort von anderen hochgestellten palästinensischen Politikern widersprochen, darunter auch von Abbas, der sich für weitere Verhandlungen einsetzt. Wiederum kommt es nicht darauf an, ob die Kosovo- und die Palästina-Situation einander ähneln wie sehr sich Washington auch bemühen mochte, das zu bestreiten. Dazu hatten die Amerikaner immer wieder behauptet, die Ausrufung der Kosovo-Unabhängigkeit sei ein einmaliger Fall. Alles ist viel einfacher: Im Moment unterstützen die USA auf jede Weise die Fortsetzung der palästinensisch-israelischen Verhandlungen, ja treiben sie an und bestehen auf einer baldigsten Ausrufung der Unabhängigkeit Palästinas. Wenn aber die Konstellation sich ändern wird, werden sich die Palästinenser zweifellos an das Beispiel Kosovo erinnern. Dann werden sie von anderen in der arabischen und islamischen Welt unterstützt werden.

Inzwischen rechnen die meisten Regierungen durch, was teurer zu stehen kommt: die Kosovo-Unabhängigkeit anzuerkennen oder Neutralität zu wahren.

* Die Meinung der Verfasserin muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 21. Februar 2008; http://de.rian.ru



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