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"Dutzende Kosovos weltweit"

Serbien warnte im UNO-Sicherheitsrat vor Folgen der Abspaltung

Serbien ist beim UNO-Sicherheitsrat mit seinem Versuch gescheitert, die Abspaltung der Provinz Kosovo für ungültig erklären zu lassen.

New York/Belgrad (Agenturen/ND). Es sei »bedauerlich«, dass der Sicherheitsrat keine gemeinsame Position gefunden habe, sagte der serbische Außenminister Vuk Jeremic in New York nach einer zweitägigen Dringlichkeitssitzung. Serbiens Präsident Boris Tadic warnte vor einem »Präzedenzfall« Kosovo und einer Gefahr für die internationale Ordnung. Nach den USA erkannten unter anderem Großbritannien, Frankreich und Australien die ehemalige serbische Provinz als Staat an. Als Konsequenz zog Serbien Botschafter aus den Staaten ab. Deutschland und die meisten EU-Staaten wollen die Anerkennung in Kürze vollziehen. EU-Chefdiplomat Javier Solana reiste am Dienstag als erster ranghoher Auslandsvertreter in das unabhängige Kosovo.

In einem Schritt, der Spannungen mit Peking auslösen dürfte, hat auch Taiwan am Dienstag Kosovo diplomatisch anerkannt. Außenminister James Huang stellte dem wirtschaftlich schwachen Zwergstaat auch finanzielle Hilfe in Aussicht, wenn das Land seinerseits Beziehungen mit der Inselrepublik aufnehmen möchte.

Serbien werde weiter alle diplomatischen und politischen Möglichkeiten nutzen, um gegen die »illegitime« Handlung Kosovos vorzugehen, sagte Außenminister Jeremic. Zu den diplomatischen Konsequenzen meinte er, wer sich dafür entscheide, internationales Recht sowie die Souveränität und territoriale Integrität der Republik Serbien mit Füßen zu treten, könne nicht weiter normale Beziehungen zu Serbien pflegen.

Präsident Tadic erklärte im Sicherheitsrat, die »eigenmächtige Entscheidung« Kosovos vom Sonntag stelle einen »Präzedenzfall« dar, welcher der Weltordnung »irreparablen Schaden« zufügen werde. Es gebe »Dutzende Kosovos in der Welt«, die alle darauf warteten, dass die Abspaltung anerkannt werde. Serbien werde nicht mit Gewalt gegen die Loslösung Kosovos vorgehen, versicherte Tadic. Es werde die Unabhängigkeit aber niemals anerkennen. Serbiens Parlament annullierte die Abspaltung am Montagabend in einer Sondersitzung in Belgrad durch einstimmiges Votum.

Der russische UNO-Botschafter Vitali Tschurkin sagte in New York, die Unabhängigkeit Kosovos bedrohe den Frieden und die Stabilität auf dem Balkan. Er nannte das Vorgehen der kosovarischen Führung »illegal«. Moskau werde weiter »die Republik Serbien in ihren international anerkannten Grenzen« anerkennen. Tschurkin und Tadic forderten UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon auf, den Leiter der UNO-Mission in Kosovo, Joachim Rücker, anzuweisen, die Unabhängigkeitserklärung für »null und nichtig« zu erklären. Ban appellierte im Sicherheitsrat an die Konfliktparteien, auf Handlungen oder Äußerungen zu verzichten, die den Frieden gefährden und zu Gewalt anstacheln könnten.

Mehrere hundert Serben haben am Dienstag zwei UNO-Kontrollpunkte an den Grenzübergängen zwischen Kosovo und Serbien verwüstet. Die Anlagen am Übergang Janjine wurden angezündet, die Einrichtungen bei Leposavic durch Sprengstoff zerstört. Die Angreifer hätten auch mehrere UNO-Fahrzeuge angezündet, bestätigte die Kosovo-Polizei der dpa in Pristina.

Die Kosovo-Polizei zog sich nach den Angriffen zurück. Inzwischen habe die NATO-Truppe KFOR die Kontrolle übernommen, wie ein Sprecher sagte. Er bezeichnete die Lage vor Ort als »sehr ernst«. Die beiden Übergänge sind für den Verkehr gesperrt. Die Serben protestierten mit der Gewaltaktion gegen die am Sonntag ausgerufene Unabhängigkeit ihrer früheren Provinz Kosovo.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Februar 2008



Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Zustimmung des Kabinetts zur völkerrechtlichen Anerkennung des Kosovo

Der Sprecher der Bundesregierung, Ulrich Wilhelm, teilt mit:

Das Bundeskabinett hat heute der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kosovo sowie der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zugestimmt. Die förmliche Anerkennung sowie die Erklärung der Bereitschaft zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen erfolgen durch ein Schreiben des Bundespräsidenten an den kosovarischen Präsidenten.

Am 17. Februar 2008 hat die Parlamentarische Versammlung in Pristina eine Unabhängigkeitserklärung verabschiedet. Daraufhin hat sich der Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (RAA) in seiner Sitzung am 18. Februar 2008 auf Ratsschlussfolgerungen geeinigt. Diese stellen unter anderem fest, dass die EU-Mitgliedstaaten über ihre Beziehungen zum Kosovo in Übereinstimmung mit ihrer nationalen Praxis und dem Völkerrecht entscheiden werden.

In den Ratsschlussfolgerungen werden insbesondere die in der Unabhängigkeitserklärung enthaltene Zusicherung zum Schutz der Serben und anderer Minderheiten, zum Schutz des kulturellen und religiösen Erbes sowie zur internationalen Überwachung zur Kenntnis genommen.

Der Rat begrüßt ferner die Fortsetzung der internationalen Präsenzen auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Die EU hat unterstrichen, dass die Lösung der Statusfrage des Kosovo einen ganz besonderen Fall betrifft, der keineswegs als Präzedenzfall angesehen werden kann.

Die Bundesregierung ist zusammen mit einer Vielzahl von Partnern in der EU, aber auch darüber hinaus der Überzeugung, dass eine rasche Anerkennung der Republik Kosovo durch eine möglichst große Anzahl von Staaten geeignet ist, dauerhafte Stabilität für die gesamte Region zu fördern. Die mehrjährigen, vergeblichen Verhandlungen des Sondergesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Martti Ahtisaari und der Kosovo-Troika, haben gezeigt, dass eine einvernehmliche Lösung der Statusfrage nicht möglich ist.

Zu den Staaten, die Kosovo bereits anerkannt haben, gehören unter anderem. Frankreich, Großbritannien, die USA, Australien und die Türkei. Eine Vielzahl weiterer Staaten, darunter viele EU-Mitgliedstaaten, folgen in diesen Tagen.

Die EU hat bereits mehrfach ihre Bereitschaft erklärt (unter anderem auf dem Europäischen Rat vom 14. Dezember 2007), ihrer Verantwortung für die Stabilität der Region gerecht zu werden. Sie wird die Entwicklung des neuen Staates mit ihrer bisher größten ESVP-Mission rechtsstaatlich begleiten. Einen entsprechenden Beschluss hat die Gemeinschaft bereits getroffen.

Deutschland wird dabei mit besonderer Aufmerksamkeit die Erfüllung der Verpflichtungen der Republik Kosovo im Bereich der Menschenrechte, des Minderheitenschutzes und der Flüchtlingsrückkehr verfolgen und mit Nachdruck die Heranführung Serbiens an die EU unterstützen. Die Bundesregierung will insbesondere das bereits paraphierte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Serbien unterzeichnen und vertraut darauf, dass die hierfür notwendigen Voraussetzungen bald erfüllt werden.

20. Februar 2008



Kosovo: Fehlgeburt aus der EU-Retorte?

Von Alan Kassajew *

Die serbische Provinz Kosovo hat jetzt also ihre Unabhängigkeit ausgerufen.

Nun warten weltweit die Politiker darauf, wer wann diese Unabhängigkeit anerkennt.

Allerdings genügt das noch nicht ganz, damit diese Provinz als vollberechtigter und legitimer Staat zum weltweiten "Klub" gehört. Zuerst muss das Kosovo den Vereinten Nationen beitreten. Hier aber gibt es gewisse Schwierigkeiten. Laut Art. 4 der UN-Charta steht die Organisation allen friedliebenden Staaten offen, die die in der Charta enthaltenen Verpflichtungen übernehmen und nach Urteil der UNO imstande und gewillt sind, sie zu erfüllen. Hier scheint alles durchsichtig und völlig lösbar zu sein (wie das Kosovo seine Verpflichtungen in Wirklichkeit erfüllen wird, ist nicht von Belang, es kommt vielmehr darauf an, wer diese Erfüllung beurteilen wird). Aber im nächsten Punkt in Art. 4 heißt es: "2. Die Aufnahme jedes solchen Staates in die Organisation erfolgt durch einen Beschluss der Vollversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrats."

Folglich ist der Sicherheitsrat, in dem das Vetorecht gilt, das Schlüsselorgan bei der Frage nach der UN-Mitgliedschaft jedes Staats. Hierbei kann auch nicht das höchste UN-Organ den Sicherheitsrat übergehen. Wir reden von der Vollversammlung, die alljährlich zu ihren Tagungen zusammentritt. Sie ist berechtigt, Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit zu fassen, außer jenen, die im Sicherheitsrat als Streitigkeit in der Diskussion stehen. Gestellt werden solche Bedingungen in Art. 12 der UN-Charta. Doch Widersprüche ("Streitigkeiten" gemäß der Charta) in Bezug auf das Kosovo bestehen sehr wohl - und zwar in einer Art, die es kaum ermöglicht, sie innerhalb des Sicherheitsrats zu lösen. Russland kann ohne eigenen Schaden gegen jeden Beschluss zur Kosovo-Problematik, der ihm nicht genehm ist, ein Veto einlegen. Ungefähr die gleiche Position bezieht China, das im Sicherheitsrat ebenfalls ein Vetorecht hat. Der Unterschied zu Russland besteht nur in der öffentlich ruhiger vorgetragenen Form der Kritik. Es dürfte schwer fallen, Peking in der Frage der Kosovo-Anerkennung zu übergehen, da bereits seit mehr als 60 Jahren die Frage nach der internationalen Anerkennung Taiwans besteht. Dabei sind die chinesischen Behörden zu keinem Kompromiss bereit und folglich nicht an der Schaffung eines wie auch immer gearteten Präzedenzfalls interessiert.

Wahrscheinlich ist auch eine Lösung auf der Ebene der Europäischen Union unmöglich. Zwar gibt es noch keine europäische Verfassung, dennoch wird sich die EU wohl kaum dazu entschließen, die Frage der Kosovo-Anerkennung unter Verstoß gegen das Konsensprinzip zu lösen, zumal mindestens zwei EU-Mitglieder (Spanien und Zypern) dagegen sind. Deshalb werden die Verfechter der Staatslegitimierung des Kosovo ihre Anstrengungen darauf richten, ein loses Gefüge von Sympathisanten unter den Staaten zu formen. Es werden also, gleichsam nach alter bolschewistischer Tradition, Versuche unternommen werden, durch die zahlenmäßige Stärke, durch Quantität wider der Qualität Druck auszuüben. Das wären dann Versuche, die die unvorhersagbarsten Folgen nach sich ziehen können, da mehrere Länder, die der EU beitreten wollen, keineswegs der "Mehrheit" zustimmen können, wenn sie nicht ihre eigenen vitalen Interessen schmälern wollen. Zu solchen gehören beispielsweise die für Europa recht wichtigen Länder Georgien, Armenien und Aserbaidschan, potentielle EU-Kandidaten und zugleich Mitglieder des Europarats, der PACE, der OSZE und anderer quasieuropäischer Vereinigungen. (Übrigens wird das Kosovo gezwungen sein, ihnen ebenfalls beizutreten, damit eine formelle, doch zugleich für ein europäisches Land in jedem Fall obligatorische Legitimierung zustande kommt.)

Was wird geschehen, wenn das Kosovo von den USA, den "europäischen Acht" und weiteren beinahe hundert Mitgliedern der Weltgemeinschaft anerkannt wird? Es wird ein vom Standpunkt des heute gültigen Völkerrechts sehr merkwürdiger Staat entstehen. Er wird nicht UN-Mitglied sein. Wird nicht der Kontrolle des europäischen Sicherheitssystems, das sich vorläufig noch auf die OSZE stützt, unterstehen. Wird nicht unter die Jurisdiktion des Europarats und seiner juristischen Strukturen wie das Menschenrechtsgericht fallen. Wird außerhalb des Kontrollbereichs der bekannten ODIHR liegen. Somit wird die Anerkennung durch etliche Staaten dem Kosovo es nicht ermöglichen, die Barrieren auf dem Weg zu seiner internationalen Anerkennung zu überwinden und sich in den Rahmen des Völkerrechts einzufügen. Zugleich bleibt das gleiche Kosovo eine von allen wichtigen internationalen Verpflichtungen freie Zone. Werden dort demokratische Institutionen wirken, freie und gleiche Wahlen durchgeführt oder schließlich die elementaren Menschenrechte wahrgenommen werden? All das wird für die europäische und die gesamte Weltgemeinschaft unklar bleiben.

Ebenso unklar ist, auf welche Weise auch jene Institutionen funktionieren, die als „Standardset“ zu den Hauptfunktionen jedes geachteten und sich respektierenden Staats gehören. Beispielsweise werden die Verteidigungs- und Sicherheitsfunktionen des Quasistaates der Kosovaren ebenfalls außerhalb des legitimen internationalen Kontrollbereichs bleiben. Genauso wie das Zollamt als wichtiges Instrument, das verhindern muss, dass sich das Kosovo in ein „schwarzes Loch“ für geklaute Autos und sonstiges Diebesgut verwandelt.

Derzeit bemühen sich die Mitgliedsländer des vorläufig noch informellen Klubs der Kosovo-Freunde offene Fragen unbeantwortet zu lassen - ja sie tun so, als gäbe es solche Fragen gar nicht. Erleben wir denn wirklich einen wahrlich historischen Moment, da die traditionell russischen Werte vom Schlage des berühmten "russischen Awos" (etwa: aufs Geratewohl) vom Westen als Handlungsanleitung übernommen werden?

Gegenwärtig richtet sich die gesamte Energie der Kosovo-Verbündeten darauf, das russische (und nicht nur russische) Argument zu zerreißen, dass die Kosovo-Anerkennung einen Präzedenzfall für Abchasien und Südossetien darstellt. Moskau wird heftig Angst eingejagt: Nur ja niemand anders anerkennen, das Kosovo sei ein einmaliger Fall und keinesfalls ein Präzedenzfall. Einem solchen Herangehen könnte man zustimmen, wäre es allumfassend und ehrlich. Gewiss, der Kosovo-Fall ist einzigartig und präzedenzlos. Aber genauso einzigartig ist der Fall Abchasien. Ihm absolut unähnlich ist der Fall Südossetien. Aus dieser Mythos-Reihe fällt irgendwie der Fall Berg-Karabach raus. Ihnen völlig unähnlich ist der der Casus Transnistrien. Soll da noch die völlige Einzigartigkeit des Falls Ost-Timor oder des etwas früheren Falls Eritrea erwähnt werden?

Alle nicht anerkannten Staaten sind auf ihre Art nicht anerkannt. Dafür sind alle anerkannten Staaten in gleicher Weise anerkannt: im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen.

* Zum Verfasser: Alan Kassajew ist Leiter der RIA-Novosti-Redaktion für GUS und Baltikum.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti; http://de.rian.ru



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