Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kosovo vor der einseitigen Unabhängigkeit - Ergebnis von Versäumnissen und Fehlern des Westens?

Interview mit Dr. Jens Reuter in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Moderation (Andreas Flocken):

Schwer tut sich das (NATO-)Bündnis .. mit dem Kosovo-Konflikt. Die Provinz gehört offiziell zu Serbien, auch nach der geltenden UN-Resolution 1244. Doch die Kosovo-Albaner wollen die Unabhängigkeit. In den nächsten Wochen - so die Erwartung - werden sie einseitig ihre Unabhängigkeit erklären. Über den Konflikt habe ich mit dem Balkan-Experten Jens Reuter gesprochen. Ich habe ihn gefragt, ob die Unabhängigkeitserklärung unvermeidbar ist:

Reuter: Ja, sie scheint unvermeidbar zu sein. Zum einen, weil die Vereinigten Staaten sehr stark drücken in diese Richtung, und weil eben auch die großen Länder der EU, wie Frankreich Großbritannien, Deutschland und Italien nach langem, inneren Ringen und nach langen Problemen zu dem Entschluss gekommen sind, dass also nur die Unabhängigkeit geeignet sei, das Kosovo-Problem, wenn nicht zu lösen, so doch zu beruhigen. Eine wichtige Rolle dabei haben auch die gewaltsamen Unruhen gespielt, die es im März 2004 im Kosovo gegeben hat. Man hatte ganz große Angst, dass es erneut zu unkontrollierbaren Ausbrüchen von Gewalt kommen würde, und dass man praktisch damit überfordert wäre und die Lage nicht mehr im Griff haben könnte. Man muss natürlich auch sehen, dass es Kreise zieht, wenn das Kosovo unabhängig wird. Es gibt jetzt schon Politiker unter den bosnischen Serben, die eine Loslösung aus dem bosnischen Staatsverband und einen Anschluss an Serbien befürworten. Damit hat man also auch zu rechnen, dass es solche Tendenzen gibt. Auch bei den Albanern in Makedonien, die da ja 25 Prozent der Bevölkerung stellen, gibt es ein lautes Nachdenken über eine eventuelle Sezession, das heißt, auch dort muss man also mit Unruhen rechnen.

Flocken: Hat es nicht auch Alternativen zu einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gegeben. Es war ja auch eine Teilung als Option gesehen worden. Wie sehen Sie das?

Reuter: Es ist vollkommen klar, das dies keine denkbare Lösung ist, denn die Kosovo-Albaner selbst würden sich niemals mit einer Teilung abfinden. Es würden sich sofort terroristische Gruppen bilden, um eine neue Grenze gar nicht erst entstehen zu lassen, oder sie würden diese, wenn sie doch entstehen sollte, mit allen Mitteln bekämpfen. Und um diese Grenze überhaupt aufrecht erhalten zu können, die also den Nordteil vom Kosovo etwa abtrennen würde, da müsste man Dinge einführen, die man in Europa längst überwunden glaubt: Nämlich Stacheldraht und Wachtürme und Minen und Hunde und Schüsse an der Grenze. Das will im Endeffekt auch niemand.

Flocken: Eine einseitige Unabhängigkeit des Kosovo ohne neue UN-Resolution ist ja letztlich ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Macht der Westen nicht genau dort weiter, wo er 1999 angefangen hat? Denn beim Kosovokrieg hat es ja auch kein UN-Mandat gegeben. Wird durch diese Art des Vorgehens das Völkerrecht nicht erneut geschwächt?

Reuter: Eine einseitige Unabhängigkeit ohne UN-Resolution, ohne den Sicherheitsrat, ist sicherlich nicht mit dem Völkerrecht zu vereinbaren. Man kann selbstverständlich die These vertreten, dass das Völkerrecht dadurch geschwächt wird, muss aber auch sagen, dass das keineswegs zum ersten Mal geschehen würde. Man hat ja allenthalben eine Schwächung des Völkerrechts und eine Schwächung der Vereinten Nationen zu beobachten. Auch eine Ablösung der UN-Verwaltung durch eine EU-Administration hat keine einwandfreie juristische Grundlage. Es gibt da einen Trick, den man ins Auge gefasst hat, nämlich den UN-Generalsekretär einzuschalten und ihn um diese Ablösung der Administration bitten zu lassen. Und das erscheint mir auch äußerst fragwürdig.

Flocken: Die internationale Staatengemeinschaft hat ja nun mehr als acht Jahre Zeit gehabt für eine Lösung des Kosovo-Problems. Man hat trotzdem keine Lösung gefunden. Wo sind Ihrer Meinung nach die Hauptversäumnisse der internationalen Staatengemeinschaft, dieses Problem anzugehen, dieses Problem zu lösen?

Reuter: Ich denke, die internationale Gemeinschaft hat jahrelang nicht wirklich nach einer Lösung gesucht. Man wollte keine schlafenden Hunde wecken und dachte, wenn man da nicht dran rührt, dann wird sich da auch nichts Negatives entwickeln. Dann kamen die gewaltsamen Demonstrationen vom März 2004. Und die wirkten wie ein Warnschuss. Jetzt glaubten die Amerikaner, sie müssten das Problem nahezu im Alleingang lösen. Noch vor drei Jahren schätzte man die Position der USA als so stark ein, dass mit einem ernsthaften russischen Widerstand nicht gerechnet wurde. Das aber hat sich geändert. Da ist der Faktor Präsident Putin, aber auch die wirtschaftlichen Dinge. Russland ist wiedererstarkt aufgrund seiner Naturschätze: Erdöl, Erdgas, Gold und Diamanten. Dazu parallel erfolgte die Schwächung der USA durch die Kriege in Afghanistan und im Irak. Und so war es praktisch vollkommen klar, dass die Amerikaner ihren Willen nicht mehr einseitig durchsetzen konnten, sondern dass sie praktisch am Veto der Russen im Sicherheitsrat scheitern würden.

Flocken: Die EU soll ja bei einer Unabhängigkeit des Kosovo eine entscheidende Rolle spielen, auch im Kosovo selbst. Wie ist denn Ihre Einschätzung: Übernimmt sich die EU letztlich nicht mit dieser Aufgabe?

Reuter: Ich denke, dass die EU natürlich nicht dieses militärische Gewicht hat, wie die Vereinten Nationen, die im Zweifelsfalle auf die amerikanische Unterstützung rechnen können, dass man also als militärischen Faktor die EU nicht so fürchtet, wie man die UN, beziehungsweise dann die NATO und die Vereinigten Staaten fürchten würde. Man muss natürlich auch berücksichtigen: Was sind denn für Szenarien denkbar? Ich glaube, dass man - rein theoretisch gesagt - mit einem Eingreifen der serbischen Armee noch ganz gut zurechtkommen könnte, dass das nicht so problematisch wäre. Die Russen würden sich sowieso heraushalten aus einem eventuellen militärischen Konflikt. Aber es gibt ein anderes Szenario, was für die EU nicht günstig aussieht: Es gab ja diese gewaltsamen Demonstrationen vom März 2004. Und da sind wohlorganisierte Menschenmengen vorgegangen gegen serbische Kirchen, Klöster, Siedlungen. Aber in den vordersten Reihen dieser Demonstrationen befanden sich immer Kinder und alte Leute und die Soldaten der KFOR wussten überhaupt nicht, wie sie reagieren sollten. Denn mit solchen Menschenmengen umzugehen, die auch gewalttätig werden, ist eigentlich eine polizeiliche Aufgabe. Dazu braucht man polizeiliche Waffen und eine polizeiliche Ausbildung. Da braucht man Wasserwerfer, Tränengas und alles Mögliche, um solche Mengen unter Kontrolle zu halten. Die Soldaten wissen nur zu schießen. Sie wissen aber auch, sie haben keinen Schießbefehl. Sie dürfen nicht auf diese Demonstranten schießen. Und das heißt, man muss immer damit rechnen, wenn es in dieser Hinsicht mal zur Wiederholung kommen sollte, also auch die Kosovo-Albaner mit gewissen Dingen sehr unzufrieden sein können, die die Verwaltung macht oder die die internationale Streitmacht tut. Dann kann es äußerst problematisch werden.

Flocken: Ist denn sichergestellt, dass die serbische Minderheit dann auch geschützt ist und in Ruhe und Frieden dort leben kann? Oder gibt es da nicht weitere, neue Konflikte, die sich auftun?

Reuter: Das ist sicherlich ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe bisher bei all den zahllosen Plänen eine Patentlösung nicht entdecken können, wie man jetzt die Serben im Kosovo wirklich effizient schützen möchte und wie man ihnen ein normales und natürliches Leben ermöglichen kann. Ich glaube, das ist eine äußerst schwierige Frage. Man hat sich da auch so ein bisschen um die Lösung herumgedrückt, weil natürlich niemand den Mut hatte zu sagen: Wenn das Kosovo unabhängig wird, gibt es für die Serben im Kosovo keine Zukunft, dann müssen sie ihr Land verkaufen und nach Serbien gehen. Nein, man hat ja immer davon gesprochen, dass der multiethnische Charakter gewahrt werden muss. Wie dann aber die Serben in solch einem Staat ein menschenwürdiges Leben führen sollen, das hat bisher noch niemand beantwortet.

Flocken: Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass viele der heutigen Politiker und Entscheidungsträger im Kosovo aus dem kriminellen Milieu kom-men, aus der organisierten Kriminalität. Der ehemalige Ministerpräsident Haradinaj muss sich derzeit in Den Haag unter anderem wegen Mordes verantwor-ten. Auch dem amtierenden Regierungschef Thaçi wurde vorgeworfen, in Verbrechen verstrickt zu sein. Ist das nicht ein Problem, auch für die EU, mit solchen Leuten zu verhandeln?

Reuter: Ich denke einmal, man muss da auch sehen, dass die Situationen auch in anderen Ländern ja ähnlich gewesen sind. Dass es also praktisch immer auch Terroristen gegeben hat, wie zum Beispiel den ersten Staatspräsidenten von Israel, Ben Gurion, der sich aktiv beteiligt hat am Krieg. Dass es also immer sehr schwierig war - Arafat kann man auch als ein Beispiel nennen, der später den Friedensnobelpreis bekam. Dann ist es sehr, sehr schwierig, immer den klaren Trennungsstrich zu ziehen. Wenn man also in einer illegalen Befreiungsorganisation arbeitet, dann ist man manchmal auch gezwungen, oder macht dies auch aus freien Stücken, sich an kriminellen Aktionen zu beteiligen, die dann der Geldbeschaffung dienen oder dazu, den eigenen Einfluss zu vestärken. Sicherlich ist es im Großen und Ganzen gesehen ein Problem, sich mit solchen Leuten an einen Tisch zu setzen und die Probleme der Zukunft zu regeln und zu lösen. Auf der anderen Seite sieht man an zahlreichen Beispielen, dass Leute mit einem derartigen Hintergrund durchaus zu wichtigen und zent-ralen Figuren in einigen Ländern der Welt geworden sind.

* Quelle: NDR, Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, gesendet am 26.01.2008 / 19.20-19.50 Uhr

Im Internet: www.ndrinfo.de



Zurück zur Serbien-Seite

Zur Seite "NATO-Krieg gegen Jugoslawien"

Zurück zur Homepage