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Kosovo oder die Quadratur des Kreises

Die antiserbische und pro-albanische Haltung der USA und der meisten EU-Mitgliedsländer erschweren eine Kompromisslösung

Von Pawel Kandel, Moskau *

Der Kosovo-Konflikt ist nicht komplizierter als etwa das Nahost- oder das Zypern-Problem. Die Lösung all dieser Probleme wird allerdings durch die sich gegenseitig ausschließenden Forderungen der Seiten und die große symbolische Bedeutung der jeweils umstrittenen Gebiete erschwert.

Für die Kosovaren ist das Kosovo nicht nur ihre Heimat, sondern auch die Region, in der die albanische nationale Wiedergeburt ihren Ursprung hat. Um die Unabhängigkeit haben mehrere Generationen von Kosovo-Albanern gekämpft. Ihr „Befreiungskrieg“ hat zahlreiche Opfer gefordert. Für die Serben aber ist diese Region eine Art serbisches Jerusalem, die Wiege der serbischen Staatlichkeit und der orthodoxen Religion. In Volkssagen wurde die Kosovo-Schlacht von 1389 besungen. Diese Provinz bildet das Kernstück der Identität des Volkes.

All das schränkt den Spielraum für die politischen Eliten stark ein. Für die albanischen Spitzenpolitiker würde ein Verzicht auf die Unabhängigkeit bedeuten, den „heldenhaften Befreiungskrieg“ in Frage zu stellen und dessen Opfer abzuwerten. Jeder serbische Politiker aber, der die Provinz „gehen lassen“ würde, würde damit nicht nur politischen Selbstmord begehen - er würde Gefahr laufen, als Verräter in die Geschichte seines Vaterlandes einzugehen.

In einer solchen Situation wäre ein Kompromiss nur unter drei Voraussetzungen möglich. Erstens: Beide Parteien müssten einsehen, dass keine von ihnen ihr Ziel in vollem Umfang erreichen kann. Zweitens: Beide Parteien müssten eine andere lebenswichtige Aufgabe formulieren. Und drittens: Erforderlich ist ein starkes und symmetrisches Zusammenwirken äußerer Kräfte, die beide Parteien zu einer beiderseitig annehmbaren Lösung bewegen würden.

Sowohl Serbien als auch das Kosovo haben sich die EU-Mitgliedschaft zum Ziel gesetzt. Das könnte günstige Voraussetzungen für die Lösung dieses Problems schaffen. Die asymmetrische, subjektiv antiserbische und pro-albanische Haltung der USA und der meisten EU-Mitgliedsländer hat aber den Spitzenpolitikern der Kosovo-Albaner jeden Anreiz nicht nur für Zugeständnisse, sondern überhaupt für beliebige Verhandlungen genommen. Eine Unabhängigkeit wurde ihnen schon im Voraus versprochen.

Die USA drohen dauernd, diese Unabhängigkeit einseitig und an der UNO vorbei anzuerkennen. Deshalb ist es für die Albaner logisch, stur zu bleiben, keinen Kuhhandel aufzunehmen und auf eine Erfüllung der Versprechungen zu warten. Damit haben die Amerikaner den Verhandlungsprozess im Voraus torpediert und unternehmen nun alles, damit dieser Prozess unproduktiv bleibt. Wozu sie das machen - das steht auf einem anderen Blatt. Eine Antwort darauf ist wohl nicht im Kosovo, sondern vielmehr in der Haltung der USA zur EU und zum Anspruch der Europäer auf eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu suchen.

Zu unterscheiden sind auch ideale, optimale und reale Lösungsvarianten. Hätten sich die USA und die NATO-Länder wirklich von den Zielen leiten lassen, die sie früher deklariert hatten (Wiederherstellung der Rechte der Kosovo-Albaner und Gewährung einer substantiellen Autonomie an diese), so hätte die Lösungsvariante, die die Serben heute anbieten, als ideal gelten können. Immerhin stimmt Serbien einer faktisch umfassenden Selbständigkeit der Provinz zu. Einwände hat es nur gegen eine juristische Unabhängigkeit des Kosovo. Angesichts des antiserbischen Kurses der westlichen Mächte ist selbst dieses maximale Zugeständnis weder für die Kosovo-Albaner, noch für ihre amerikanischen Schutzherren annehmbar.

Zu den Zeiten des Milosevic-Regimes wäre eine solche Haltung zumindest verständlich gewesen. Eine Fortsetzung des gleichen Kurses nun gegenüber dem heutigen Serbien, das demokratisch ist und in Europa integriert werden möchte, ist aber kontraproduktiv - sowohl für die Regelung des Kosovo-Problems als auch für eine „Europäisierung“ des Balkan. Eine „Weimarer Republik Serbien“ wäre ein schlechtes Geschenk für Europa.

Optimal unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre eine abgestimmte Aufteilung der Provinz Kosovo bei ausreichenden Entschädigungen für die Zwangsumsiedler. Vorerst haben sich beide Seiten dagegen ausgesprochen. Die Albaner hoffen darauf, dass sie das versprochene Stück ganz bekommen. Die Serben, die ihre Position auf den Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität aufgebaut haben, möchten diese nicht mit einer viel zu schnellen Zustimmung abwerten.

Außerdem ignoriert die Variante der Teilung, die besonders oft vorgeschlagen wird, die kulturell-religiösen Aspekte des Problems. Wenn die Serben gemäß dieser Variante den nördlichen Teil der Provinz bekämen, würden die meisten für das serbische Bewusstsein heiligen orthodoxen Kathedralen und Klöster außerhalb ihrer Heimat bleiben. Einer solchen Lösung kann auch die Serbische Orthodoxe Kirche, die in der serbischen Gesellschaft das größte Vertrauen genießt, nicht zustimmen. Da müssen die serbischen Politiker die Meinung der Kirche berücksichtigen.

Damit die Aufteilung für Serbien annehmbar ist, müssten diese „heiligen Stätten“ zumindest als serbische Exklaven weiter bestehen. Sollten sich die Amerikaner und die Europäer die Mühe geben, ihre albanischen Schützlinge davon zu überzeugen, dass dies ein durchaus annehmbarer Preis für die Unabhängigkeit ist, die widrigenfalls überhaupt nicht zustande kommen könnte, so würde Serbien eine solche Variante kaum ablehnen. Denn bei aller Bedeutung des Kosovo als wichtiges Symbol stellt diese Region für Serbien eine wachsende demografische Bedrohung, eine kaum tragbare wirtschaftliche Bürde und eine ständige Quelle unlösbarer politischer Konflikte dar.

Es wäre aber naiv, zu erwarten, dass die USA, die eine beschleunigte Gewährung der Unabhängigkeit an das Kosovo initiiert haben, ihre Positionen nun aufgeben würden. Dementsprechend haben auch die Albaner keinen Grund, ihre maximalistischen Forderungen zu dämpfen.

Aber auch die serbischen Politiker, die nun aufgefordert werden, einen wichtigen Teil des Territoriums ihres Landes gratis herzugeben, würden kaum ihre Zukunft opfern wollen. Denn die wahrscheinlichste Folge eines Verlustes des Kosovo wäre eine politische Krise in Serbien, nach der radikale Nationalisten an die Macht kommen würden. Genauso hat Russland, das nun eine massive Offensive des Westens gegen seine Interessen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Sicherheit erlebt, kaum Beweggründe, bei der Lösung des Kosovo-Problems flexibel zu sein. Insofern wird die reale Entwicklung wie immer von der idealen und der optimalen weit entfernt sein.

Unter den entstandenen Bedingungen wäre es am besten, die Regelung des Kosovo-Status bis zu dem Zeitpunkt zu verschieben, zu dem die Aufnahme Serbiens und des Kosovo in die EU aktuell wird. Dann würden beide Parteien viel kompromissbereiter sein. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates über die Verlängerung des provisorischen internationalen Mandats und über dessen Übertragung von der UNO an die EU wäre das Maximale, was Brüssel mit Moskau und Belgrad vereinbaren könnte. Dazu müssten aber die Europäer Härte zeigen und erklären, dass eine einseitig ausgerufene Unabhängigkeit der Provinz Kosovo von Europa nicht anerkannt würde. Es ist aber äußerst fraglich, ob sie zu einer solchen Selbständigkeit fähig sind.

* Pawel Kandel ist Leiter des Sektors für ethnopolitische Konflikte des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 24. Oktober 2007; http://de.rian.ru



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