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Der Phyrrus-Sieg der Demokratie in Montenegro

Das positive Ergebnis des Referendums über Montenegros Unabhängigkeit hat eine bedenkliche Kehrseite

Von Soja Klimenko, RIA Nowosti*

MOSKAU, 24. Mai. Das Referendum, von dessen Notwendigkeit die Regierung in Montenegro so lange gesprochen hatte, ist nun vorbei. Laut vorläufigen Angaben haben die Anhänger einer "souveränen und international anerkannten Republik Montenegro" ihren Sieg mit einer Überlegenheit von einigen wenigen Prozent-Bruchteilen errungen. Das lässt übrigens die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse fragwürdig erscheinen, wenn man die administrative Ressource und eventuelle statistische Fehler berücksichtigt. Da könnte höchstens eine wiederholte manuelle Stimmenzählung helfen, um so mehr, als sich das in Montenegro mit seinen 600 000 Einwohnern (von denen 200 000 Serben sind) recht schnell machen ließe.

Die vorläufigen Ergebnisse des Montenegro-Referendums sehen wie folgt aus: 55,4 Prozent bzw. 219 683 Teilnehmer stimmten für die Unabhängigkeit, 44,6 Prozent bzw. 176 515 Bürger stimmten für die Aufrechterhaltung eines Einheitsstaates. Angaben aus 45 Wahllokalen, in denen 25 000 Bürger abgestimmt haben, liegen noch nicht vor. Die Beteiligung lag bei 86,3 Prozent der Stimmberechtigten. Als ungültig erwiesen sich lediglich 0,87 Prozent der Stimmzettel, was von einer sorgfältigen Erläuterungsarbeit der Referendumsstäbe zeugt.

Die meisten Befürworter der Unabhängigkeit wurden in den von überwiegend Albanern bewohnten Regionen des Landes (79 Prozent und mehr) sowie in Cetinje (mehr als 86 Prozent) registriert. In Podgorica stimmten laut vorläufigen Angaben 53,8 Prozent dafür. In den anderen Städten lag der Anteil der Befürworter zwischen 27 und 60 Prozent. Am geringsten war ihr Anteil in den Regionen mit überwiegend serbischer Bevölkerung (rund 69 Prozent), z. B. in Andrijevica.

Für die Unabhängigkeit mussten mindestens 55 Prozent stimmen, damit diese Entscheidung gültig wäre. Dieser Vorschlag der Europäischen Union war von beiden Blöcken anerkannt worden. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der vorläufigen Ergebnisse rief Javier Solana, der für die Außenbeziehungen zuständige EU-Kommissar, dem übrigens die Republik Serbien und Montenegro ihre Entstehung zu verdanken hat, die EU auf, den Willen der Bürger von Montenegro zu respektieren.

Um den Referendumssieg zu sichern, riefen die Behörden die im Ausland lebenden Montegriner auf, daran teilzunehmen. Viele von ihnen folgten dem Aufruf und stimmten für ein unabhängiges Montenegro. Die Teilnahme der Montegriner aber, die außerhalb der Republik im Nachbarland Serbien leben und vorwiegend für die Beibehaltung eines gemeinsamen Staates sind, konnte dessen Weiterbestehen nicht gewährleisten.

Das knappe Ergebnis kann den Anhängern eines einheitlichen Serbien-Montenegro einen Anlass geben, das Ergebnis anzufechten. Wie aber die Erfahrungen mehrerer Präsidentenwahlen in Serbien nach dem Sturz Slobodan Milosevics zeigten, waren die Versuche der Anhänger Vojislav Kostunicas, gegen gefälschte Wahlergebnisse anzugehen, immer ergebnislos. Kostunica hatte regelmäßig eine Stimmenmehrheit bekommen, bekam jedoch infolge von Machenschaften mit Wählerlisten den Sieg nicht zugesprochen.

Insofern sollte man davon ausgehen, dass Montenegro von jetzt an ein unabhängiger Staat ist. Natürlich entsteht die Frage seiner Lebenfähigkeit in der modernen Welt, in der eine harte Konkurrenz zwischen den Teilnehmern des Systems der internationalen Beziehungen im Gange ist. Neben wirtschaftlichen könnten es da für Montenegro auch gewisse politische Schwierigkeiten geben.

Einerseits wird die Trennung von Serbien Montenegro als der letzten jugoslawischen Republik die Möglichkeit geben, aus der internationalen Isolation und aus dem Schatten des Internationalen Tribunals für Ex-Jugoslawien hervorzutreten. Nachdem 1999 mehrere führende Repräsentanten der damaligen SRJ angeklagt wurden, Militärverbrechen begangen zu haben, musste Montenegro gemeinsam mit Serbien in dieser Isolation bleiben. Seit der Zeit wurden die SRJ und später Serbien-Montenegro in internationalen Organisationen beschuldigt, das Land weigere sich, mit dem Tribunal zusammenzuarbeiten, dessen Forderungen zu erfüllen und die Angeklagten auszuliefern.

Zugleich entsteht allerdings auch die Frage, welche Funktionen einige aus Montenegro stammende ranghohe Beamte von Serbien-Montenegro (der Staatspräsident, Chefs der diplomatischen Vertretungen der Staatengemeinschaft in führenden Metropolen der Welt usw.) nun übernehmen sollen. Ihre Ernennung in diese Ämter war nämlich Zugeständnissen der Behörden Serbiens im Interesse der Staatseinheit zu verdanken gewesen.

Andererseits wird die Unterstützung der Unabhängigkeit Montenegros durch die albanischen Wähler unweigerlich ihren Preis haben. Ganz bestimmt werden die gegenwärtigen Verhandlungen über den Status der Provinz Kosovo die Haltung der in Montenegro lebenden Albaner beeinflussen.

Noch Anfang 2004 wurden Projekte über die Bildung einer speziellen territorialen albanischen Einheit im Bestand Montenegros unterbreitet. Nun muss sich die Regierung in Montenegro dessen bewusst sein, dass dieser potentielle Herd der Instabilität nach der Erlangung der Unabhängigkeit real werden kann, während Montenegro selbst kaum Mittel hat, auf diesen im Interesse der Aufrechterhaltung der Souveränität und der territorialen Integrität einzuwirken.

Zu berücksichtigen ist auch die Tendenz zur Verringerung der montenegrinischen Bevölkerung in der Republik (von 380.000 im Jahre 1991 auf rund 270.000 im Jahre 2004). Es entsteht auch das Problem des Status der in Serbien lebenden montenegrinischen Bürger, die nach der Trennung ihrer Heimat zu Ausländern im eigenen Land werden, was ihnen wohl kaum gefallen wird.

Unmittelbar nach der Bekanntgabe der vorläufigen Ergebnisse bekundete Montenegros Präsident Filip Vujanovic die Absicht, sich dem Nato-Programm "Partnerschaft für den Frieden" anzuschließen und Verhandlungen mit der EU über die Stabilisierung im Interesse eines EU-Beitritts fortzusetzen. Bisher stand dem die Weigerung Belgrads, General Ratko Mladic auszuliefern, im Wege. Die Unabhängigkeit Montenegros wird der Nato die Möglichkeit bieten, ihre Präsenz auf dem Balkan ganz legitim nun auch auf diesen Teil Ex-Jugoslawiens zu erweitern - bisher waren dort Nato-Kontingente nur im Kosovo präsent.

Damit beginnt nun die Allianz das zu realisieren, was 1999 nicht erreicht werden konnte, nämlich eine Okkupation von ganz Jugoslawien. Zusätzlich wird eine Isolierung Serbiens erreicht, und zwar sowohl in geographischer Hinsicht - es wird vom Meer abgeschnitten, womit ein jahrhundertelanger Traum des serbischen Staates durchkreuzt wird - als auch in der Politik. Serbien wird zum einzigen Land auf dem Balkan, das dem Internationalen Tribunal die wichtigsten Angeklagten immer noch nicht ausgeliefert hat.

* Soja Klimenko ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Russischen Instituts für strategische Studien.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti ("Analysen und Kommentare"), http://de.rian.ru


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