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Kosovo und Kosova

Gedanken eines ehemaligen Balkan-Korrespondenten

Von David Binder, New York

Wenn es um Kosovo (Serbisch) und Kosova (Albanisch) geht, gibt es einen Punkt, dem jeder zustimmen sollte: Es ist entsetzlich schwierig, vielleicht sogar unmöglich, unbefangen zu sein. Das gilt für die Hauptparteien, Serben und Albaner, es gilt aber auch für die internationalen Akteure, die sich angemaßt haben, über das Schicksal dieses unglückseligen Landstrichs zu bestimmen. Sie scheinen erheblich voreingenommen zu sein – zu Gunsten der albanischen Seite.

Mehr als vier Jahrzehnte lang habe ich Serben und Albaner beobachtet, wie sie einander in und über Kosovo malträtiert haben. Jetzt, da Verhandlungen über den künftigen Status des Gebiets stattfinden, bin ich immer noch unschlüssig, wem Kosovo zuzusprechen wäre.

Kosovo geht auch die Deutschen an, nicht nur als Mit-Europäer, sondern auch der Geschichte wegen: Deutschland hat in beiden Weltkriegen die Albaner bevorzugt und die Serben als Erzfeinde bekämpft. Kaiser Wilhelm stimmte seinem Kampfverbündeten Kaiser Franz Josef bei, dessen Schlachtruf »Serbien muss sterbien!« war. 1941 befahl Hitler, Belgrad zu zerbomben. Drei Jahre später ließ er die SS-Division Skanderbeg gründen, die in seinem Vasallenstaat (Groß-)Albanien gegen serbische Partisanen kämpfte. Seither haben wir die Bekanntschaft moderner deutscher Serbenfresser gemacht, von rechts wie von links: Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Joschka Fischer, Rudolf Scharping, Christian Schwarz-Schilling und die FAZ-Redaktion.

Serben, so wie ich sie kennen gelernt habe, würden Kosovo besingen, Eide auf Kosovo schwören und versprechen, fast alles für Kosovo zu tun – außer dorthin zu gehen (oder Albanisch zu lernen).

Selbst in den ruhigen Perioden der letzten 100 Jahre wanderten Serben in Kosovo eher aus als ein (400 000 verließen die Region zwischen 1945 und 1990). Ausnahmen bildeten einige Massenbesiedlungen, die von Belgrad aus organisiert wurden. Natürlich gab es auch Massenvertreibungen, betrieben durch Albaner unter ausländischer Schirmherrschaft. Wobei ich weder den freiwilligen Emigranten noch den braven Seelen zu nahe treten will, die dem Trend widerstanden.

Der große Zustrom von Albanern begann an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, als Zehntausende Serben nordwärts flohen. Die Einwanderung landhungriger Albaner hat eigentlich bis zum heutigen Tag nicht nachgelassen. Nicht zu vergessen: Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten Tausende von Kosovo-Albanern auf der Suche nach Arbeit und besserem Leben nach Nordeuropa, Nordamerika und sogar nach Australien.

Wenn alte Geschichte als Kriterium für Zugehörigkeit diente, wäre Serbien klar im Vorteil. Kosovo war unwiderlegbar die Wiege der serbischen Nation und der auserkorene Boden des ersten serbischen Staates. Eine Fülle von Denkmälern, manche älter als 800 Jahre, zeugen davon, wie auch der Name Kosovo selbst, der aus dem Serbischen stammt und von der Amsel abgeleitet ist. Vergleichbare albanische Spuren gibt es nicht. Doch wenn die moderne Geschichte das Kriterium wäre, würde sich die Waage zu den Albanern neigen, zumindest aus Gründen der Demografie.

Ein Ausflug in die Statistik über die Jahrhunderte: Ein türkischer Steuerzensus im Jahre 1455 zeigte die Serben weit überlegen, Albaner machten weniger als ein Prozent der Bevölkerung Kosovos aus. Noch 1871 stellten die Serben nach einer österreichischen Militärerhebung 64 Prozent der Bevölkerung. 1948 aber repräsentierten die Albaner bereits 68 Prozent und expandierten weiter. Heute machen sie 90 Prozent der Bevölkerung von rund 2 Millionen aus. Der Großteil des Bodens ist in albanischen Händen, häufig besetzt nach der Flucht der serbischen Eigentümer. Die Albaner und ihre internationalen Unterstützer argumentieren gemäß dem alten englischen Sprichwort: »Der Besitz bestimmt neun Zehntel des Rechts.« Ein amerikanisches Rechtslexikon stellt allerdings fest, dass dieses Sprichwort »ein Gesetz der Gewalt und nicht des Rechts ist«.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg erkannten die Großmächte Serbiens Souveränität über Kosovo an. Völkerbund und Vereinte Nationen bestätigten sie, als Serbien Teil Jugoslawiens war. So akzeptierten auch die NATO und die EU diese Souveränität. Schieben die Großmächte unserer Tage das einfach so beiseite? Betrachtet man die Leichtigkeit, mit der die Vereinigten Staaten samt ihrer Verbündeten im Falle des früheren Jugoslawiens legale Bedenken weggewischt haben, ist das durchaus vorstellbar.

Trotz der triumphalen Töne der jetzigen Führer in Pristina wirkt Kosovo wie am Rande des Untergangs – ohne Zugang zur Küste, mit maroder Infrastruktur und hoffnungslos veralteten Fabriken. Die Arbeitslosenrate wird auf 60 Prozent geschätzt. Rechnungen werden großteils von ausländischen Regierungen und durch Überweisungen von Albanern im Ausland bezahlt.

Schwerer als diese Defizite wirkt meiner Meinung nach, dass es trotz leidenschaftlicher Behauptung einer nationaler Identität in Albanien keine Tradition der Staatsbildung gibt. Die einzige staatliche Form, die mehr als ein Dutzend Jahre überdauerte, war die Volksrepublik Albanien unter Enver Hoxha, einem eifrigen Stalin-Schüler. Noch unlängst machten sich viele Albaner keine Gedanken über die grundlegende Bedeutung einer Staatsverfassung. 1997 kommentierte Pavil Qesku, ein albanischer Diplomat, die offensichtliche Abneigung gegenüber dem grundlegenden Konzept der Staatlichkeit: »Solange der Staat und ausländische Invasoren als eins angesehen werden, ist der Staat in den Augen des albanischen Urtyps, in einfachen Worten, die Quelle allen Übels.«

Man könnte meinen, dass die Kosovo-Albaner die Fähigkeiten zu Leitung eines eigenen Staates von den 10 000 Ausländern gelernt haben, die seit 1999 für die Vereinten Nationen arbeiten. Aber es stellt sich heraus, dass die UN-Mission und ihre europäischen und amerikanischen Beigaben den Albanern nicht vertrauen oder zutrauen, irgendetwas zu entscheiden oder umzusetzen.

Was die Wahrscheinlichkeit der Anerkennung einer staatlichen Autorität durch die Kosovo-Albaner angeht, beobachtete der frühere Kosovo-Ombudsmann Marek Antoni Nowicki: »Die Gesellschaft wird von einem engmaschigen Netz großer albanischer Familien dominiert, die die Region auf klanhafte Weise regieren... In diesem Teil der Welt ist Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz nie geschätzt worden und wird verachtet.«

Was ist also der wirkliche Grund dafür, Kosovo der albanischen Mehrheit zu überlassen? Ein Spitzenbeamter der Bush-Regierung verriet kürzlich vertraulich, es werde so kommen, »weil die Albaner bereit sind, dafür zu kämpfen und zu sterben«. In sechs Jahren NATO-Besatzung gab es dagegen keinerlei Zeichen dafür, dass die Serben für Kosovo zu kämpfen geschweige denn zu sterben bereit wären.

Aber wenn die Gefahr kosovo-albanischer Gewalt wirklich das Motiv für die internationale Gemeinschaft ist, sich dem Verlangen nach Unabhängigkeit zu beugen, wäre das wie 1938, als Frankreich und England Hitler das Sudetenland zugestanden, weil er drohte, in die Tschechoslowakei einzumarschieren. Obwohl es lächerlich wäre, die Kosovo-Freischärler mit der Wehrmacht zu vergleichen. Den Gewaltdrohungen nachzugeben, ob taktisch oder offen, bedeutet für mich eine Einladung zu mehr Gewalt – früher oder später.

Erinnern wir uns an Josip Broz Tito, der Kosovo 1974 weitreichende Autonomie gewährte, genauso wie er den Kosovo-Albanern sechs Jahre zuvor die Nutzung ihrer albanischen Flagge erlaubt hatte. Manche demonstrierten damals schon gewaltsam für eine »Republik Kosovo«. Doch viele Albaner, mit denen ich sprach, waren recht zufrieden mit dem damaligen Grad der Autonomie. Selbstverständlich gab es damals keine internationalen Kräfte in der Region, sondern nur serbische Polizei.

Meine Vorstellung für Kosovo und Kosova wäre, es weder den Serben noch den Albanern zu übergeben, sondern beiden. Man gebe den Albanern einen hohen Grad an Autonomie, wahre jedoch die Souveränität Serbiens und garantiere eine angemessene internationale Aufsicht mit dem Mandat, Albaner und Serben voreinander zu schützten – in Dörfern und Regierungsgebäuden. Beide Seiten müssten dann beauftragt werden, eine gemeinsame Zukunft auf dem Balkan aufzubauen.

*David Binder (75), USA-Journalist, berichtete für die »New York Times« viele Jahre lang vom Balkan wie auch aus Bonn und Berlin.

Aus: Neues Deutschland, 22. März 2006


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