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Ökonomische Kolonisierung

Serbien – zerbricht das Land? Neuordnung am Rande Europas

Der nachfolgende Beitrag erschien in der Tageszeitung "junge Welt" in zwei Teilen am 4. und 5. Februar 2004.


Von Hannes Hofbauer

Das ganze Elend Serbiens und der Serben zusammenfassend, sagt der bekannte Belgrader »Politika«-Kommentator und Kirchenjournalist Zivica Tucic: »Ich lebe in einem Land und weiß nicht einmal, wie groß dieses Land ist. Dieses Land ist seelisch mehr ruiniert, als man es wahrhaben will. Erniedrigt von innen und von außen, ist unsere Situation tragischer, als wir es uns selbst eingestehen. Außerhalb interessiert unser Zustand ohnedies niemanden. Zehn Jahre Sanktionen und 78 Tage Bombenkrieg haben tiefe Wunden in unser Bewußtsein gerissen. Offen gesagt: Ich kann nicht mehr ehrlich lachen, mich nicht mehr entspannen. Die Erfahrungen sind so bitter, die Demütigungen so nachhaltig ...«

Der Theologe erklärt mir, niemals Pessimist gewesen zu sein, auch nicht in den für ihn schlimmen Zeiten der Milosevic-Ära. Was ihm die Fröhlichkeit genommen habe, sei die Enttäuschung der vergangenen drei Jahre. Konnten Intellektuelle seines – oppositionellen – Schlages noch Ende der 1990er Jahre auf eine bessere, demokratischere, offenere Zukunft hoffen, so haben sie drei Jahre Wirklichkeit nach der »Bulldozer-Revolution« im Oktober 2000 eines Schlechteren belehrt. Nun scheint die ganze politische Kaste vor dem Volk diskreditiert, westliche Banken und Konzerne regieren über internationale Finanzorganisationen das Land.

Territorialer Schwebezustand

Serbien lebt in einer Art Wartestellung. Die Parlamentswahlen vom 28. Dezember 2003 haben – nach mehreren vergeblichen Anläufen für eine präsidentielle Entscheidung – keine Konsolidierung gebracht. Das Land befindet sich in der Schwebe. Ungeklärt ist zuallererst der substantielle Kern jeder Staatlichkeit: die Territorialität. Die von EU-Europa forcierte Union mit Montenegro hat außer einem pittoresken internationalen Autokennzeichen – SCG – nichts gebracht. Wer diese Unklarheit kleinredet, argumentiert mit den viel größeren, weil näherliegenden Problemen sozialer Verelendung und wirtschaftlicher Talfahrt, die das Land bedrücken. Die territoriale Frage zu vernachlässigen, wäre dennoch kurzsichtig, fallen doch ökonomische Entscheidungen auf Basis eines gesicherten staatlichen Umfeldes, und auch soziale Sicherheit ist ohne administrative Rahmenbedingungen nicht einmal mehr im Dorfleben möglich, das auch in Serbien längst mit großräumiger Arbeitsteilung verwoben ist.

Die territoriale Unsicherheit betrifft indes keineswegs nur die Union mit Montenegro, daran hängt freilich auch die Statusfrage des Kosovo. Im Anschluß an den Vertrag von Kumanovo vom 9. Juni 1999, der den Abzug der serbischen Polizei und der jugoslawischen Volksarmee aus der Provinz Kosovo-Metochien regelte, machte die UN-Resolution 1244 – fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit und auch in Serbien kaum zur Kenntnis genommen – aus der ehemaligen serbischen Provinz offiziell einen Teil Jugoslawiens. Mit der von der DOS-Allianz und Präsident Vojislav Kostunica unter tatkräftiger Mithilfe der Europäischen Union im Februar 2003 zu Grabe getragenen südslawischen Föderation ist der Status des Kosovo prekärer denn je. Doch auch Serbien selbst ist territorial nicht gefestigt. Die Autonomiebestrebungen der Vojvodina wachsen proportional zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Kernland. Bereits unmittelbar nach den NATO-Bombardements meldete sich eine »Reformistische Koalition Vojvodina« zu Wort, einer ihrer Wortführer, der Völkerrechtler Dejan Jenca, meinte im Sommer 1999: »Die Regionalisierung ist die Schlüsselfrage der Opposition«. 1) Er träumte davon, Serbien in fünf autonome Gebiete zu teilen: die Vojvodina, den Sandzak, Südostserbien, Nordwestserbien und Groß-Belgrad. Nach der Machtübernahme durch die Oppositionsparteien im Oktober 2000 mischten sich offen sezessionistisch argumentierende Gruppen wie die »Liga der Sozialdemokraten in der Vojvodina« ins politische Geschehen. Ihr Führer, Nenad Cacak, fordert eine Neudefinition der seit 1974 bestehenden Autonomie. Von Ungarn aus hat sich der Druck auf Serbien durch das bereits in Kraft getretene Status-Gesetz erhöht, das Menschen ungarischer Herkunft aus der Slowakei, Transsilvanien und der Vojvodina u. a. privilegierten Zugang zu Bildungs-, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen in Ungarn sichert und damit teilweise die staatlichen Hoheitsrechte der einzelnen Länder untergräbt.

Die ungeklärte Territorialität Serbiens spiegelt sich auch in der fruchtlosen Verfassungsdebatte wider. Während unter Slobodan Milosevic – offiziell – eine offene Verfassung dem multinationalen Erbe des Landes Rechnung trug und jedem Bürger auf dem Territorium der Republik, gleich welcher Ethnie oder Religion er angehörte, die gleichen Rechte gewährte, diskutiert man seither in politischen und akademischen Kreisen über eine Nationalisierung der Bürgerrechte, wonach demnächst die serbische Nationalität – wie die kroatische in Kroatien – das Staatsvolk bilden könnte.

Der Schwebezustand kann dauern. Manche haben sich darin eingerichtet. Nutznießer der staatlichen Provisorien ist vor allem eine wirtschaftliche Halbwelt, deren Wurzeln meist in die Milosevic-Ära zurückreichen und die sich im kurzen »Demokratie«-Zeitalter ganze Wirtschaftszweige untertan gemacht hat. Namen wie Bogoljub Karic und Maureen Miskovic, die weite Teile der Telekommunikation, des Automobilimports, eine Bank und viele andere Geschäfte ihr eigen nennen, bestimmen Serbiens Politik weit mehr, als politische Parteien dazu in der Lage sind. Folgerichtig betreiben die rasch wechselnden Parteiallianzen weniger Ideologie als Seelenfängerei, wenn sie mit sozialen Versprechungen ihre ökonomische und politische Ohnmacht zu übertünchen trachten.

Diese fatale Geisteshaltung, die das wirtschaftliche und politische Leben Serbiens prägt und jenen Schwebezustand hervorbringt, ist jedoch keineswegs »hausgemacht«, wie das die westlichen Medien, die seit kurzem auch über die Aktienmehrheiten auf dem serbischen Zeitungsmarkt verfügen, weismachen wollen. Da ist zuerst einmal die militärische Besatzung des Kosovo im Gefolge eines völkerrechtswidrigen Krieges, beides hat der Rechts- und Gesetzesgläubigkeit schwer zugesetzt. Wenn sich die stärkste Militärmacht der Welt ohne jede rechtliche Legitimation auf ein Land stürzen kann, weil ihr die gewählte Regierung nicht behagt und sie es versteht, ethnische Konflikte im Kosovo für sich zu instrumentalisieren, dann darf sich niemand wundern, daß im täglichen Leben Serbiens Unrecht als etwas Selbstverständliches Platz greift und der eigene Vorteil zur Moral erhoben wird. Auch die rund um Serbien stehenden militärischen Einheiten, die das Land förmlich umzingeln, rauben Staat und Nation das für einen Neustart nötige Selbstbewußtsein. US- und EU-Truppen im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und Makedonien demonstrieren nicht nur dort, sondern auch der Bevölkerung Serbiens, daß die Region unter Fremdherrschaft steht. Und genau dies ist das eigentliche Problem, mit dem Belgrad zu kämpfen hat.

Die Naivität der Reformer

Besonders drastisch äußert sich diese Fremdbestimmtheit in der Ökonomie. »Die Zukunft der Föderativen Republik Jugoslawien ist überschattet von der niederschmetternden Bürde ihrer Auslandsschulden«, schreiben Miroljub Labus und Mladjan Dinkic in ihrer Eigenschaft als Außenwirtschaftsminister bzw. Zentralbankchef im Mai 2001 an den Internationalen Währungsfonds. 2) Serbien steht Anfang 2004 bei den internationalen Finanzorganisationen und Banken mit zwölf Milliarden US-Dollar in der Kreide, das sind etwa vier Milliarden mehr als vor den UN-Sanktionen im Jahr 1992. Ohne wirtschaftlichen Austausch zwischen Belgrad und dem Rest der Welt sind die Schulden des Landes in diesen zwölf Jahren – nur der Zinsen wegen – um ein Drittel gestiegen. Kurz nach der »Bulldozer-Revolution« hatte der jugoslawische Zentralbankchef Dinkic im offensichtlich revolutionären Übermut bei der Weltbank um einen Forderungsverzicht auf jene vier Milliarden angefragt, die in der außenwirtschaftlich »toten« Ära Milosevic angefallen sind und in diesem Zusammenhang sogar von »Ansprüchen« gesprochen, die das neue, demokratische Jugoslawien auf eine Schuldenstreichung hätte. Die Erwartungshaltung, die Gläubiger würden auf die kapitalisierten Zinsen der Jahre 1992 bis 2000 verzichten, zeigte die ganze Naivität der Belgrader Reformer. Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) ließen sie abblitzen. Zwar ist über die Jahre eine Umschuldung und Teilstreichung von Zinsen im sogenannten Pariser Klub durchgeführt worden, um eine offizielle Zahlungsunfähigkeit, ein Schuldenmoratorium, zu vermeiden; Fazit bleibt jedoch: Belgrads Außenschuld beträgt zwölf Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2005, wenn die volle Rückzahlung der Kreditzinsen wieder aufgenommen werden muß, droht ein finanzielles Debakel, wie auch der zuständige Experte des renommierten »Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche«, Vladimir Glogorow, feststellt: »Wenn die Schulden nach 2005 wieder bedient werden müssen, wird das (staatliche) Defizit ein unerträgliches Niveau erreichen.« 3) Für das Jahr 2003 betragen die Auslandsschulden übrigens sagenhafte 259 Prozent der Gesamtexporte des Landes, das sind mehr als in Albanien (141 Prozent) oder in Bulgarien (180 Prozent). 4)

Clanwirtschaft

In der Zwischenzeit hatte sich die alte DOS-Regierung in ihrem »Letter of Intent« vom Mai 2001 gegenüber den internationalen Finanzorganisationen als Gegenleistung für die Umschuldungsmodalitäten verpflichtet, »die Inflation niedrig zu halten«, »Preisverzerrungen zu reduzieren«, eine »Steuerreform durchzuführen« und vieles andere mehr. 5) Sie folgt damit den scheinbar ewigen Regeln der imperialen Wirtschafts- und Währungshüter: Durchsetzung einer restriktiven Geldpolitik sowie Beendigung staatlicher Förderungen für Wirtschaft und Soziales, was in der Folge das Eindringen (und den nachfolgenden Abzug) ausländischen Kapitals garantieren soll sowie zu einer größeren sozialen Ungleichheit führt. »Nach dem Oktober 2000 erfüllte das Land die Forderungen des IWF auf Punkt und Komma«, meint dazu der frühere Minister im Kabinett Milosevic und Wirtschaftsprofessor Oskar Kovac mir gegenüber. 6) Und Mile Jovic vom »Institut für Wirtschaftswissenschaften« in Belgrad sieht für die Jahre nach 2005 das wirtschaftliche Chaos heraufziehen. »Um dann den Schuldendienst begleichen zu können, müßten Serbiens Exporte jährlich um 15 Prozent wachsen«, was der Fachmann für gänzlich unrealistisch hält. Jovic hält die »nicht gehaltenen großzügigen Versprechen des Westens« vom Oktober 2000 für die »Basis der Misere im Land«. 7)

Territorialer Schwebezustand und wirtschaftlicher Würgegriff provozieren geradezu eine Mafiotisierung der politischen Elite. Ohne eigenständige Handlungsfähigkeit auf nationaler Ebene, die militärisch von der NATO und ökonomisch von IWF und Weltbank beschnitten wird, beginnt sich in einem krisengeschüttelten Land die Clanwirtschaft gegenüber der Volkswirtschaft durchzusetzen. Westliche Medien und Politiker bzw. deren Spezialisten wie Vladimir Gligorow stellen gerne die Logik auf den Kopf. Sie sprechen – aus der Innensicht gesehen zu Recht – von Serbien und Montenegro als einem »gefangenen Staat« in den Händen der Mafia. »Das serbische Parlament«, so Gligorow über das nachrevolutionäre Serbien, »war in seinen Möglichkeiten zum Handeln sehr beschränkt, es war mehr ein unwilliger Agent dieser (mafiotischen, d. A.) Organisationen als eine Reformkraft für politische Entscheidungen.« 8) Doch die Hände waren (und sind) dem Parlament nur scheinbar hauptsächlich wegen der internen gesellschaftlichen Strukturen gebunden; eine entscheidende Rolle spielen jene westeuropäischen und nordamerikanischen Kräfte, die eigenständige Politik auf nationaler Ebene erst gar nicht zulassen und damit der Clanwirtschaft Vorschub leisten.

Freibrief für Ausverkauf

Ein wesentlicher Schritt hin zur ökonomischen Kolonisierung Serbiens gelang im Gefolge der »Bulldozer-Revolution« vom Oktober 2000. Damals koordinierte der IWF-geeichte Miroljub Labus die überall im Lande auftretenden sogenannten Krisenkomitees, die die Führungsetagen von Fabriken und Büros von Anhängern der Milosevic-Zeit säuberten. Dieser politisch motivierte Personalaustausch funktionierte indes nicht. Zwar wurden Tausende Fachkräfte aus alten Tagen auf die Straße gesetzt, es rückte aber kein entsprechend geschultes Personal nach. »Die ganze Sache war dumm, weil sie ungeduldig und enthusiastisch verlief, ohne einen sinnvollen Übergang zu schaffen«, meint Mile Jovic vom »Institut für Wirtschaftswissenschaften« rückblickend. »Manager auszutauschen und sie durch Leute ohne Erfahrung zu ersetzen, das war ein Fehler.« Was Jovic volkswirtschaftlich als Fehler einschätzt, hatte indes politisch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Denn auch im Zusammenhang mit der rasch einsetzenden Privatisierung waren diese ohnedies aus Milosevic-Zeiten bereits maroden Betriebe nach drei, vier Monaten unter Leitung der Krisenkomitees gänzlich heruntergewirtschaftet und billig zu haben. Freunde der alten DOS-Allianz sowie internationale Investoren konnten sich ohne großes Risiko bereichern; wo es lukrativ schien, taten sie es.

Das Privatisierungsdekret

Das Privatisierungsdekret vom Mai 2001 komplettierte den Ausverkauf der serbischen Ökonomie. Es war bereits der vierte oder fünfte Anlauf zur Zerschlagung des gesellschaftlichen Eigentums, und diesmal schien es zu klappen. Bereits zuvor waren unter der letzten gesamtjugoslawischen Regierung von Ante Markovic 1990 ca. zehn bis 20 Prozent der in Arbeiterselbstverwaltung befindlichen Betriebe privatisiert worden. 1991 versuchte dann Slobodan Milosevic sein Glück, Geld aus dem Volksvermögen zu requirieren. 1994 wurden Privatisierungen in Serbien wieder zurückgenommen, um 1997 – unter dem serbischen Vizeministerpräsidenten (und anschließenden Privatisierungsgewinner) Bogoljub Karic – die Betriebe erneut zum Verkauf an Privatinvestoren freizugeben, Bereicherungen der damals herrschenden Schicht inklusive.

Im Mai 2001 setzte die DOS-Allianz schließlich, ähnlich dem kroatischen Vorbild, den Verkauf allen gesellschaftlichen Eigentums durch. Das kam faktisch einer Verstaatlichung gleich, um die entsprechende Behörde überhaupt erst in die Lage zu versetzen, das formal in den Händen von Arbeitern und Managern befindliche Eigentum Privaten anbieten zu können. Über das entsprechende Dekret ließ man lapidar verlauten, daß die Regierung jedes Unternehmen verkaufen dürfe, das sich nicht in privater Hand befindet. Das Verfahren soll bis 2007 abgeschlossen sein.

Diesem Freibrief zum Ausverkauf gesellschaftlichen Eigentums folgte eine Phase der Desorientierung, war doch der Wert der Unternehmen noch nicht festgesetzt. Über Ausschreibungen für große und Versteigerungen für kleinere Betriebe hofften die Liberalen um Miroljub Labus und Meadjan Dinkic, Geld für das nationale Budget zu bekommen. Allein: Bis Ende 2003 flossen aus diesen Privatisierungen – laut Auskunft von Dusan Pavlovic, einem Ökonomen des liberalen G17-Instituts, – magere 1,2 Mrd. US-Dollar ins Staatsbudget, was einem Zehntel der serbischen Auslandsschuld entspricht. Der schwache Erlös ist auch auf die vielen ungeklärten Forderungen der einzelnen Firmen zurückzuführen, die gegenüber den großen, mittlerweile von Staats wegen geschlossenen jugoslawischen Banken bestehen. Investoren schrecken vor massiven Unsicherheiten in den Bilanzen zurück.

Wirklich zugegriffen haben multinationale Konzerne wie die Zigarettenunternehmen Philip Morris (z. B. Marlboro) und British American Tobacco/BAT (z. B. Lucky Strike), die sich die führenden serbischen Fabriken von »Dunavska Industrija« in Nis und Vranje teilen, der französische Bauriese Lafargue sowie der deutsche Chemiemulti Henkel, die die serbischen Marktführer erworben haben, und der US-Stahlgigant US Steel, der die größte und wichtigste Schmiede Serbiens in Smederevo erstand. An diesem »Kauf« von US-Steel kann der Eigentümerwechsel in der Phase der Tranformation übrigens idealtypisch studiert werden. Für lediglich 23 Millionen US-Dollar erwarb der in ganz Osteuropa (z. B. im slowakischen Kosice) aktive US-Konzern 2001 das Sartid-Werk in Smederevo.

Die Schulden des Werkes wurden im Verein mit der serbischen Regierung elegant aus den Bilanzbüchern gestrichen, indem der Stahlkocher formal zuerst geteilt wurde und damit jenes Unternehmen, das US Steel kaufte, schuldenfrei übergeben werden konnte. Weil aber deutsche, österreichische und britische Gelder im alten Sartid-Werk steckten, kam es zu Streitigkeiten, die nun vor Gericht verhandelt werden. Wären es keine Schulden bei ausländischen Investoren – unter Führung der österreichischen Bank-Austria – gewesen, sondern bloß beim Volk von Jugoslawien bzw. bei den Arbeitern der betreffenden Firma, hätte es sicher keinerlei Empörung über diese Art der Privatisierung gegeben.

Wohl einzigartig in der osteuropäischen Wendezeit verlief die Neuerrichtung eines privaten Bankensystems in Serbien. Die vier größten Banken – Beobanka, Beogradska Banka, Jugobanka, Investbanka – wurden per staatlichem Dekret mit einem Schlag aus dem Verkehr gezogen, indem man ihnen einfach – wie im Januar 2002 geschehen – die Lizenz entzog und so den Markt für Private freiräumte. Von liberalen Ökonomen wird behauptet, die großen alten jugoslawischen Banken seien ohnedies nur mehr »leere Schalen« gewesen, die seit dem Einfrieren der Devisenkonten in den früheren 1990er Jahren kein Vertrauen in der Bevölkerung mehr genossen hätten.

Das mag stimmen, erklärt aber nicht, warum die vom Staat übernommene Haftung für die Konten heute einen lebhaften Kapitalmarkt geschaffen hat, auf dem in Form von »Bonds« mit diesen Schuldverschreibungen gehandelt wird. Der Staat ist also für die offenen, meist eingefrorenen Forderungen an die Banken eingesprungen und hat dafür Bonds in der Höhe von insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar emittiert. Diese Bonds werden wie Staatsschuldscheine gehandelt und machen einen Gutteil des Kapitalmarktes in Serbien aus. Auch die Banken leben von dem Geschäft. So leer können also die Schalen nicht gewesen sein. Das Vertrauen in diese »Bonds«, die sich letztlich aus Sparguthaben aus alten, besseren Tagen speisen, wird freilich nur mühsam aufrechterhalten – solange der IWF weitere Umschuldungen erlaubt und damit die Liquidität des Staatssäckels aufrechterhält.

In die Bankenlandschaft Serbiens haben seit dem Regimewechsel 2000 neue, global agierende Unternehmen aus dem Ausland eingegriffen. Das erfolgreichste unter ihnen ist die österreichische Raiffeisenzentralbank (RZB). Bereits unmittelbar nach der Oktoberwende des Jahres 2000 war sie vor Ort, und im März 2001 erhielt sie als erste Auslandsbank eine staatliche Lizenz. Anfang 2004 betreibt sie mit 500 Angestellten bereits 18 Filialen im Land. Ihr Aufschwung beruht im wesentlichen auf drei Säulen: dem reichlich vorhandenen ausländischen Kapital, der staatlichen Auflösung potentieller Konkurrenten und der Einführung des Euro.

Von der Schließung der großen Banken profitierte die RZB schon deshalb, weil mit einem Schlag Tausende geschulte Bankangestellte auf der Straße standen, aus deren Reihen sie sich die besten aussuchen konnte. Und die Euro-Einführung am 1. Januar 2002 trieb der RZB Zigtausende Kunden ins Geschäft, die ihre unter dem Kopfkissen gehorteten DM in Euro umtauschen mußten. »Als wir kamen, waren wir extrem liquid, weil wir wegen der Euro-Umstellung von Privatkundengeldern überschwemmt wurden«, meldet dazu stolz RZB-Chefmanager Oliver Rögl. In wenigen Monaten konnte die Raiffeisenzentralbank damit 20 Prozent Kundenanteil in Serbien gewinnen, wofür unter anderen, normalen Umständen, gibt Rögl freimütig zu, ein Jahrzehnt nötig gewesen wäre.

Halbdurchlässiger Liberalismus

Aus diesen drei Elementen setzt sich – grob gesprochen – die Wirtschaftspolitik der unmittelbaren Nachwendezeit zusammen. Restriktive Geldpolitik ist das Vorzeigeprojekt der Neoliberalen weltweit. In Serbien hat es zu einer Verknappung der Geldmenge geführt, die nun, zwei Jahre nach der Euro-Wechseleuphorie, für jedermann spürbar wird. Dieselbe währungs- und geldpolitische Stabilität war bereits in den Jahren 1990/91 angestrebt worden, scheiterte damals aber an der Tatsache, daß Milosevic die Notenpresse in Gang setzen ließ. Auch der Außenhandel wurde bereits zu Zeiten Markovic’ einseitig, das heißt bei Importen total, bei Exporten von den EU-Regeln abhängig, liberalisiert. Die auf nationale Eigenständigkeit bedachte Politik der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) und die UN-Sanktionen brachten diese Liberalisierung zum Scheitern. Nach 1999 ging die Schere zwischen Exporten und Importen wieder extrem auseinander. Zwischen 2000 und 2003 hat sich ein Handelsbilanzdefizit von zehn Milliarden US-Dollar angehäuft, allein im Jahr 2003 wurden Waren für 4,5 Milliarden US-Dollar mehr importiert als exportiert.

Die nach dem Euro-Umtausch relativ hohe Liquidität in der Bevölkerung ist – wegen der von Serbien einseitig erklärten Importliberalisierung – im Massenkonsum verpufft. Die Exporte, die großteils aus Rohmaterialien und Nahrungmitteln bestehen, machen wertmäßig gerade ein Drittel der Importe aus, das höchste Defizit besteht, wie könnte es anders sein, gegenüber den Ländern der Europäischen Union (vgl.Vladimir Gligorow, Serbia and Montenegro: Transition with Organized Crime. Current Analyses Nr. 19, Juli 2003, S. 25). Dorthin dürfen zwar generell 95 Prozent aller Güter zollfrei bzw. mit Präferenzsystem exportiert werden, die restlichen fünf Prozent stellen allerdings für Länder wie Serbien 95 Prozent ihrer Exportmöglichkeiten dar. Im Klartext: High-Tech-Hubschrauber dürfen ohne große Zollzahlungen in die EU geliefert werden, landwirtschaftliche Produkte, Rohstoffe oder Textilien aber werden mit hohen Zöllen belegt bzw. dürfen nur mit niedrigen Quoten in die Brüsseler Union.

Diese Art halbdurchlässiger Liberalismus führte zu drastischen wirtschaftlichen Problemen. Viele Produktionsbetriebe stehen seit dem Krieg still, die Industrieproduktion sinkt (um 3,5 Prozent von 2002 auf 2003), die offizielle Arbeitslosenzahl lag Ende 2003 bei 32 Prozent. Und auch wer einen Job hat, erhält oft monatelang keinen Lohn. Arbeiterproteste finden immer erst dann statt, wenn es strukturell bereits zu spät ist. Wenn infolge einer Privatisierung ein Teil der Belegschaft auf die Straße gesetzt wird, um die niedrige Produktivität eines Unternehmens auf die einfachste Art und Weise zu erhöhen, dann kommt es schon vor, daß Arbeiter die Fabrik besetzen bzw. eine Demonstration vor einem Ministerium oder einem Rathaus abhalten. Ihr Zorn auf die Privatierung kommt indes Monate bzw. Jahre zu spät, denn das Gesetz ist bereits im Mai 2001 beschlossen worden. Damals regte sich dagegen kaum Widerstand.

Was in Serbiens Wirtschaft floriert, ist die graue Ökonomie, der sogenannte informelle Sektor. Er allein ist es auch, der verhindert, daß eine Gesellschaft mit einer Arbeitslosenrate von 32 Prozent nicht kollabiert. Staatsgläubig waren die Serben noch nie, also fällt es ihnen auch in der neuen Zeit nicht weiter schwer, Arbeit am Fiskus vorbei zu finden. Der private Sektor im Gewerbe, in der Bauwirtschaft und im Kleinhandel ist weitgehend informell, grau, und war es schon lange Zeit. Relativ neu ist ein Phänomen der Lohnfertigung für ausländische Kapitalgeber, wie es z. B. in Novi Pazar funktioniert. Dort nähen Frauen für türkische Textilunternehmen – die Produkte werden anschließend wieder in die Türkei transportiert und von dort entweder unter Phantasienamen oder auch als gefälschte Markenwaren auf den Weltmarkt gebracht. Schätzungsweise 500 000 Menschen sind in der grauen Ökonomie beschäftigt, ihre Löhne betragen oft nur die Hälfte eines ohnedies äußerst mageren Durchschnittsgehalts von 150 bis 200 Euro pro Monat. Teile der Region des Sandzak sind durch diese euphemistisch mit dem deutschen Ausdruck »Lohnarbeit« bezeichnete Produktionsweise zu einer verlängerten Werkbank für türkische Unternehmer geworden: Billiglohnland auf niedrigstem Niveau. Wer kann, entflieht dieser Perspektive; und so ist es nicht verwunderlich, daß die Bevölkerungszahl von Serbien und Montenegro stetig sinkt. »Wenn heute ein junger Mensch zu mir kommt«, meinte der bekannte Journalist Zivica Tucic Ende Dezember 2003 resigniert, »und mich um Rat fragt, ob er auswandern soll, dann sage ich ihm: Recht hast du! Noch vor fünf Jahren hatte ich jeden aufhalten wollen, der in die Fremde ging.«

Das Gespenst des Monarchismus

Territoriale Unsicherheit und ökonomische Krise bilden die Grundlage für ein Gefühl zwischen Demütigung und Resignation, wie es bei einem Gutteil der im Land verbliebenen Menschen zunehmend um sich greift. Aufbruchstimmung ist nur einer kleinen städtischen Schicht vorbehalten, die sich an ausländischem wirtschaftlichen Engagement persönlich bereichern kann. Politisch drückt sich die ganze Misere Serbiens in der Unfähigkeit aus, Vertrauen zwischen der neuen, dem Westen zuarbeitenden Elite und den Massen herzustellen.

In der Parlamentswahl vom 28. Dezember 2003 kam dies deutlicher denn je zum Ausdruck. Zwei aussichtsreiche Parteien, die rechte Radikale Partei Serbiens (SRS) und die linke Sozialistische Partei Serbiens (SPS) traten mit Spitzenkandidaten an, die in Den Haag interniert sind. Mehr als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler machten Ende Dezember 2003 explizit klar, daß sie das Haager Tribunal zu Jugoslawien nicht anerkennen, im Gegenteil: Sie wollen Slobodan Milosevic und Vojislav Seselj als Parteiführer im Belgrader Parlament sitzen sehen. Mit diesen Serben ist kein Staat zu machen, wie ihn sich Javier Solana oder George Bush vorstellen.

Just in dieser historischen Situation geistert seit Monaten ein neues Gespenst durch die politische Vorstellungswelt: Es ist die Figur des Prinzen Alexander II. Karadjordjevic, der durch die kirchliche Fürsprache des Patriarchen Pavle I. Anfang Dezember 2003 zu einer politischen Größe geworden ist, nachdem er bereits Anfang der 1980er Jahre in den Köpfen der Serbischen Erneuerungsbewegung (SOP) von Vuk Draskovic herumgespukte.

Die Idee, einen Monarchen im krisengeschüttelten Serbien zu installieren, scheint vordergründig absurd. Zu groß wäre der gesellschaftliche Rückschritt von der Republik zur Monarchie, als daß sich – bei aktuellen Umfragen – eine Mehrheit für die Errichtung der alten Herrschaft aussprechen würde. Andererseits könnte hinter dem kirchlichen Plazet für die Wiederkehr des Monarchen auch ein Kalkül stecken, das sich mit den Interessen westlicher Investoren vereinbaren ließe. Abgesehen davon, daß Alexander II. bei ausgewiesenen Kritikern jedes monarchistischen Rückfalls als »britische Investition« (er ist auch Offizier der Royal Army) in die serbische Politik gilt, hätte ein serbischer König den Vorteil, Staats- und Nationsidee trennen zu können. Während der Staat weiterhin und verstärkt von IWF-geführten Liberalen oder – wie in Bosnien – direkt von fremden Verwaltern betrieben werden könnte, wäre für die Masse des Volkes eine Struktur aus Monarchie und Kirche aufzubauen, die die serbische Nation umfaßt. Da spielte es dann keine Rolle, daß es drei oder mehrere Staaten oder staatsähnliche Gebilde gäbe, in denen Serben leben (Serbien, die autonome Provinz Vojvodina, Kosovo, Republika Srpska), sie wären, obwohl staatlich getrennt, durch Patriarchat und Königtum geeint. Zumindest in der nationalen Fiktion, die allerdings in Krisenzeiten überall starken Zuspruch erfährt.

Fußnoten
  1. Dejan Jenca in der Neuen Zürcher Zeitung, 14.7.1999
  2. »Letter of intent« der Bundesrepublik Jugoslawien an den IWF. Siehe: www.imf.org:80/external/np/loi/2001/yug/01/index.htm.
  3. Vladimir Gligorow, Serbia and Montenegro: Transition with Organized Crime (Current Analyses Nr. 19, Juli 2003) Wien, S. 33
  4. Ebenda, S. 42
  5. vgl. »Letter of intent« Jugoslawiens an den IWF.
  6. Gespräch mit Oskar Kovac, Belgrad, 18.12.2003.
  7. Gespräch mit Mile Jovic, Belgrad, 17.12.2003.
  8. Vladimir Gligorow, Serbia and Montenegro, S. 4



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