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Montenegriner stimmen für die Unabhängigkeit von Serbien

Damit dürften die Schwierigkeiten aber erst beginnen

Im Folgenden dokumentieren wir einen lesenswerten Hintergrundartikel über das Referendum in der serbisch-montenegrischen Teilrepublik Montenegro vom 21. Mai 2006, in dem es um die Frage des Verbleibs im Bundes mit Serbien oder um die Lostrennung geht. Die Frage scheint nach dem Wahlausgang entschieden zu sein: 55,4 Prozent der Wähler sprachen sich für die staatliche Unabhängigkeit der Minirepublik aus, dagegen stimmten 44,6 Prozent. Mit 86,3 Prozent lag die Wahlbeteiligung sehr hoch. Rund 480.000 Wahlberechtigte waren zu dem Referendum aufgerufen gewesen.
Die Europäische Union akzeptierte in einer ersten Reaktion die Unabhängigkeitsentscheidung Montenegros, das erstmals 1878 auf dem Berliner Kongress als unabhängiger Staat anerkannt worden war und 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Jugoslawien) aufging. Sie sei zu Verhandlungen über eine engere Anbindung an die EU bereit, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Montag in Brüssel. Im Vorfeld hatte die EU gesagt, ein Ergebnis über 55 Prozent als ausreichend für die Unabhängigkeit zu akzeptieren. Das Ergebnis passt also gerade so.
Noch ist unklar, wie die Nein-Sager und Serbien reagieren werden und welche Zukunft dem Ministaat überhaupt beschieden sein wird. Montenegro steht nach Darstellung serbischer Experten ein schwerer Gang bis zur internationalen Anerkennung bevor. Serbien werde als Rechtsnachfolger von Serbien-Montenegro in allen internationalen Organisationen bleiben, hieß es. Das sei in der Gründungsurkunde des jetzt aufzulösenden Staatenbundes, die unter EU-Vermittlung entstanden war, vorgesehen. Der neue Kleinstaat müsse sich erst wieder überall im Ausland neu etablieren und auch ein eigenes diplomatisches Netz aufbauen. Es stehen also noch einigen Zerreißproben und Präfungen bevor.
Doch solche Schwierigkeiten nimmt die Bevölkerungsmehrheit offenbar in Kauf. Der Nationalismus hat zum wiederholten Mal auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien gesiegt. Was die staatliche Zersplitterung betrifft, ist der Balkan wieder da, wo er vor über 100 Jahren schon einmal war.
Pst



Ein kleines Land vor der Zerreißprobe

Montenegriner stimmen über die Unabhängigkeit ab

Von Hannes Hofbauer*

450 000 Wähler sind am Sonntag aufgerufen, für oder gegen ein von Serbien unabhängiges Montenegro zu stimmen.

In engen Serpentinen geht es die steile Küstenstraße hinauf in die zerklüftete Bergwelt Montenegros. Atemberaubende Ausblicke auf die venezianisch anmutende Welt der südlichen Adria verschwinden bald hinter einer felsigen, unwirtlichen Landschaft. Anstelle des offenen, mediterranen Menschenschlages begegnen einem hier oben raue, verschlossene Typen.

Cetinje, die alte Hauptstadt Montenegros, 30 Fahrminuten von der Küste im Landesinneren gelegen, bildet auch architektonisch einen Kontrapunkt zu den verwinkelten Gassen und kleinen Plätzen der Städte am Meer. Wie eine Streusiedlung liegt es an den Berghängen. Ärmliche Häuser und heruntergekommene Villen wirken wie ohne ersichtlichen Plan in die Gegend geworfen.

Von diesem großen kulturellen Gegensatz zwischen den Menschen am Mittelmeer und jenen in der Bergwelt ist dieser Tage jedoch nicht die Rede. Jahrhunderte unterschiedlicher Entwicklung unter venezianischer und später österreichischer Herrschaft an der Küste und osmanischer Verwaltung im Landesinneren scheinen wie ausgelöscht. Alles dreht sich um die Frage, ob sich die Bevölkerung der kleinsten ehemaligen jugoslawischen Republik am 21. Mai für die staatliche Unabhängigkeit entscheidet oder nicht. Gerade einmal 620 000 Menschen auf knapp 14 000 Quadratkilometern sollen, geht es nach dem Willen von Regierung und Präsident, einen neuen Staat aus der Taufe heben.

»Da«, »da«, »da«.... An jeder sichtbaren und auch weniger sichtbaren Stelle der Küstenstraße hinauf nach Cetinje haben fleißige Anhänger von Ministerpräsident Milo Djukanovic die Felswände mit grellrosa Farbe besprüht: »Ja«, »ja«, »ja«. Das Ja zur Unabhängigkeit auf den bizarren Gesteinsformationen wird noch Jahre nach dem Referendum Einheimische nerven und Touristen die Köpfe schütteln lassen. Denn das Geld zur Entfernung des langlebigen Lacks werden die örtlichen Autoritäten wohl kaum auftreiben können, einerlei ob das Land zwischenzeitlich unabhängig geworden ist oder nicht.

Der 16. Mai gehörte, zumindest in der Hauptstadt Podgorica, den Anhängern der Gemeinschaft mit Serbien. Zehntausende Menschen zogen bereits seit dem frühen Abend aus den Außenbezirken des früheren Titograd in Richtung Hauptplatz. Ein Meer von blau-weiß-roten Fahnen, den offiziellen Farben Serbien-Montenegros, beherrschte die Stadt. »Ne!« (nein) lautete die einfache Losung der Demonstranten, »nein« zur Abspaltung Montenegros vom gemeinsamen Staatenbund.

»Djukanovic, gotov je« – »er ist fertig – skandierte die Menge in Anspielung auf die Losung der serbischen Opposition im Wahljahr 2000, als Slobodan Milosevic mit diesem Spruch das nahe politische Ende verkündet wurde. Minutenlang schwang ein nostalgisches »Jugoslavija, Jugoslavija« in der Luft, sowie der politisch korrekte Ruf der Einheit, der auf serbisch einen Reim bildet: »Serbien und Montenegro – das ist eine Familie«. Auf T-Shirts und Transparenten wurden unterschiedlichste Glaubensbekenntnisse zur Schau getragen, die scheinbar alle hinter dem letzten Rest eines südslawischen Staatenbundes stehen: Marschall Tito als Textildruck war da ebenso zu sehen wie der Tschetnik-Führer Drasa Mihailovic, der rote Stern genauso wie die Flagge der serbischen Radikalen Vojislav Seseljs.

Die Stimmung in Podgorica bleibt gespannt, aufgeheizt. Schon unmittelbar nach dem Aufmarsch der Nein-Sager kam es in einem Billardclub zu einer Massenschlägerei, als Befürworter der montenegrinischen Unabhängigkeit auf Vertreter des Staatenbundes stießen. Die anschließende Schießerei diente – für diesmal – zur Vertreibung der Hitzköpfe. Auch Chauffeure mehrerer Fahrzeuge, die teilweise stundenlang laut hupend und die panslawische Trikolore schwingend für das Nein durch die Straßen der Hauptstadt fuhren, wurden von radikalen Separatisten mit Steinen beworfen.

Immer wieder kam es zu skurrilen Zusammentreffen von Fahnenträgern beider Lager. Die rote Flagge Montenegros, die mit goldenem Doppeladler und Löwen an die montenegrinische Staatlichkeit des 19. Jahrhunderts erinnert (die freilich ohne die Küstenregion auskommen musste), kontrastiert auffällig mit den Farben der serbisch-montenegrinischen Union.

Das ganze Land scheint unter dem Bann nationaler Symbole zu stehen. Dies ist für Außenstehende umso unverständlicher, als ein ethnischer Unterschied zwischen Serben und Montenegrinern nicht festzustellen ist. Wie in solchen Fällen üblich, wird zuerst die Geschichte in den Zeugenstand gerufen. Während Unionisten die Heroen der montenegrinischen Geschichte, allen voran Fürst Njegos, als montenegrinische Serben feiern, interpretieren die Separatisten in jedes Ereignis der regionalen Geschichte die Geburtswehen einer montenegrinischen Nation hinein. »Montenegro ist das Sparta Serbiens«, bringt der lang gediente Politiker Milos Milic das Selbstverständnis der Unionisten auf den Punkt. Dagegen weigert sich Miodrag Vukovic, Fraktionsvorsitzender der Djukanovic-Partei DPS (Demokratische Partei der Sozialisten), schlichtweg, von einem gemeinsamen Staat zu sprechen. »Es gibt schon immer zwei Staaten«, lautet sein ahistorisches Argument für die angestrebte Sezession.

Vernunft hat in dieser letzten, die Geschichte schon fast karikierenden Runde des jugoslawischen Zerfallsprozesses keinen Platz. Und über familiäre Identitäten wie jene der Familie Milosevic, in der sich Slobodan als Serbe und sein Bruder als Montenegriner fühlte, kann man heutzutage in Podgorica nicht einmal mehr lachen. Zu verbissen werken die Befürworter der Unabhängigkeit an der Konstruktion eines neuen Staates. Zuletzt wurde dafür im Jahr 2005 von höchster Stelle sogar eine eigene montenegrinische Sprache eingeführt. Die 41-jährige Vera ging daraufhin zum Lehrer ihrer 10-jährigen Tochter in die Schule, um nachzufragen, welche Sprache ihre Tochter denn in Zukunft lernen würde: Serbisch oder Montenegrinisch? »Der Lehrer hat gemeint, ihm wäre es egal. Er könne das eine wie das andere ins Zeugnis schreiben.« Wenn am Sonntag 450 000 Wähler aufgerufen sind, für oder gegen ein von Serbien unabhängiges Montenegro zu stimmen, lautet die magische Prozentzahl 55. Gemeinsam mit der neuen Verfassung aus dem Jahr 2003, die aus Jugoslawien »Serbien und Montenegro« gemacht hat, war unter der Anleitung der EU ein dreijähriges Moratorium verabschiedet worden, innerhalb dieser Frist war keine Abstimmung über eine mögliche Unabhängigkeit erlaubt. Diese drei Jahre sind nun vorbei. Die technischen Vorgaben für das Referendum kamen wiederum aus Brüssel. 55 Prozent der abgegebenen Stimmen, so die Vereinbarung, müssen sich für eine Unabhängigkeit aussprechen, damit sie Wirklichkeit wird.

Kritisch wäre die Lage am Sonntagabend, wenn sich zwar mehr als 50 Prozent, aber weniger als 55 Prozent für die Abtrennung von Serbien aussprechen sollten. In diesem gar nicht so unwahrscheinlichen Fall könnten sezessionistische Hitzköpfe versucht sein, dennoch die Unabhängigkeit auszurufen, obwohl Milo Djukanovic im Fernsehduell mit seinem Widersacher Predrag Bulatovic von der Sozialistischen Volkspartei versichert hat, das Resultat in jedem Fall anerkennen zu wollen. DPS-Fraktionschef Miodrag Vukovic gebärdet sich schon wesentlich radikaler als sein Boss: »Es gibt keine Gemeinschaft mehr mit Serbien«, behauptet er. Und auf die Frage, was denn ein unabhängiges Montenegro mit 40 oder 45 Prozent der Bevölkerung machen will, die sich gegen die Abtrennung von Serbien aussprechen, meinte er nur kryptisch und ein wenig Angst einflößend: »Was haben die mit uns gemacht?« Beide Lager nehmen für ihre Position die Unterstützung der so genannten internationalen Gemeinschaft in Anspruch: die Unionisten, weil Brüssel sich jahrelang gegen eine Abspaltung des kleinen Montenegro ausgesprochen hat, und die Separatisten, weil sich sowohl die EU als auch die USA zuletzt für neutral erklärt haben, was den Ausgang des Referendums betrifft.

Tatsächlich dürfte hinter dem Unabhängigkeitsstreben eher Washington als Brüssel stehen. »Die EU hat keinen Grund dafür, einen Ministaat im Süden mit all seinen Problemen zu wollen«, ist der Belgrader Ökonom und ehemalige Privatisierungsminister Oscar Kovac überzeugt. Den USA könne es dagegen nur Recht sein, wenn sich mögliche EU-Erweiterungsgespräche mit Serbien zukünftig wegen der Abspaltung Montenegros schwieriger gestalten.

Wirklich logische Argumente gegen die Unabhängigkeit Montenegros haben aber auch die Unionisten nicht vorzulegen. Denn faktisch ist das kleine Land seit der Einführung der D-Mark und später des Euro als Landeswährung im November 1999 in fast allen Belangen von Serbien getrennt. Einzig die Außen- und Sicherheitspolitik wird – formal – gemeinsam betrieben... und von Belgrad bezahlt. »Wenn Podgorica glaubt, sich eine eigene Diplomatie und ein eigenes Heer leisten zu können, sparen wir Geld«, meint dazu Wirtschaftsprofessor Kovac aus Belgrad. Nüchterne Analysen wie diese sind in Montenegro derzeit jedoch nicht zu finden. Im Gegenteil. Das Referendum kommt in der derzeitigen Situation einer politischen Provokation gleich. Denn die vorgebrachten Argumente für die Unabhängigkeit, nach denen Serbien das kleine Montenegro unterdrücken und ausbeuten würde, entbehren angesichts der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit des Staatenbundes jeglicher Grundlage.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2006


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