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"Kuba – das war auch die erste schwarze Revolution"

Gespräch mit Ahmat Dansokho. Über die soziale und politische Krise im Senegal, die Möglichkeit einer neuen Volksfrontpolitik, die Bedeutung der kubanischen Revolution und Begegnungen mit Che Guevara

Ahmat Dansokho ist Generalsekretär der Parti de l’Indépendence et du Travail (PIT), der Partei der Unabhängigkeit und Arbeit des Senegal. Er ist Bürgermeister der Stadt Kédougou, war Vizepräsident der senegalesischen Nationalversammlung und gehörte als Minister verschiedenen Kabinetten an.



Wegen der Explosion der Lebensmittelpreise im Senegal organisierte Ihre Partei zusammen mit anderen Oppositionsparteien Proteste in Dakar und anderen Städten gegen die Politik der Regierung von Präsident Abdoulaye Wade. Es kamen Tausende Demonstranten. Das hat es in Ihrem Land, das seit seiner Unabhängigkeit 1960 relativ stabile Verhältnisse hatte, seit vielen Jahren nicht gegeben. Welche Bedeutung haben die Proteste?

Die großen Demonstrationen sind vor allem das Resultat einer katastrophalen Politik, einer Zerstörung der Demokratie und Beseitigung der Transparenz von Wahlergebnissen. Es geht um eine im höchsten Maße ungerechte Regierungsführung, um Verschwendung staatlicher Mittel, um die dadurch verschärfte ökonomische Krise. Der Protest dagegen formiert sich nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Es handelt sich um einen Bruch mit der derzeitigen Administration, und das Neue ist, daß vor allem die Arbeiter sich wehren.

Die drei linken Parteien des Senegal haben gemeinsam ein Konzept für einen politischen Wechsel ausgearbeitet, das aber vor allem der Wiederherstellung der Demokratie dient. Es geht nicht um eine Konfrontation links gegen rechts, sondern darum, auf nationaler Ebene eine Verständigung zu erreichen. Das Volk ist der Souverän, und es soll entscheiden.

Ist das eine Rückkehr zu einer Volksfrontpolitik?

Es ist eine Art von Volksfront, die wir anstreben – unter den Bedingungen von heute, in einem unterentwickelten Land. Dazu gehören die internationalen Faktoren, vor allem aber, daß wir es mit einem instabilen, man kann sagen »zerfließenden«, Staat zu tun haben und jetzt zusätzlich mit einer Hungerkrise. Es geht um eine demokratische Alternative, und dafür sind die Voraussetzungen hier sehr kompliziert. Anders als in Europa spielen bei uns in der Politik bestimmte Gruppen, Religionen und andere Faktoren eine große Rolle. Aber alle drei Parteien sind sich über die Grundzüge einig – wir streben eine nationale Verständigung über die fundamentalen Probleme des Landes an.

In einem Aufruf zu einer »Nationalen Beratung« sprechen die drei Parteien von einer »multidimensionalen Krise« und nennen u. a. »wachsende Probleme des Alltagslebens, eine endemische Arbeitslosigkeit, eine galoppierende Inflation« und Knappheit von Versorgungsgütern jeder Art. Welche Auswirkungen hat diese Krise?

Womit wir es zu tun haben, ist eine wirkliche Revolte gegen die Regierung. Das Kabinett hat im Bereich der Staatsfinanzen eine Art Staatsstreich begangen und die Gesetze in diesem Sektor als Fetzen Papier behandelt. Alle Experten auf diesem Gebiet sind gegangen oder wurden entfernt, es herrscht Willkür.

Eine Form von Autokratie…

Richtig. Das ist der wichtigste Faktor, durch den die gesamte Ordnung im Land über den Haufen geworfen und die Wirtschaft desorganisiert wurde. Es ist ein beispielloser Vorgang. Der Senegal ist durch Landwirtschaft und durch die Verarbeitung von deren Produkten geprägt. Wir haben keine Bananen wie Côte d’Ivoire, sondern Erdnüsse als Monokultur und etwas Zucker. Nun herrscht, das ist wahr, eine globale Krise bei Nahrungsmitteln, aber entscheidend für unser Land ist, daß es keine Unterstützung für den Aufbau einer neuen landwirtschaftlichen Struktur gab. Man hat vielmehr Ackerbau und Viehzucht und den Handel mit Agrarprodukten vernachlässigt und desorganisiert. Alles wurde auf die Erzeugung von Erdnüssen gelenkt, es gab hohe Subventionen dafür, aber eine Diversifizierung der Landwirtschaft fand nicht statt. Man hätte z.B. den Anbau neuer Kulturen wie Baumwolle, von Reis und anderem Getreide fördern können. Statt dessen verließ man sich darauf, daß insbesondere Reis – heute das Grundnahrungsmittel hierzulande – billig importiert werden kann und subventionierte ihn. Dasselbe gilt für Speiseöl. Das entsprach den Rezepten internationaler Organisationen, wurde aber hier umgesetzt. Das Rückgrat der Agrarwirtschaft unseres Landes wurde dadurch gebrochen.

Kann man sagen, daß die anderen Erscheinungen der Krise Konsequenzen dieser Entwicklung sind?

So ist es. Heute herrscht große Armut im Land. Die jungen Leute haben die Dörfer verlassen und sind in die Städte gegangen. Zwei von drei Jugendlichen haben keine Ausbildung, keine Arbeit. Das wiederum ist die Ursache für die massenhafte Migration nach Europa. Wir haben Tausende und Abertausende junger Leute verloren, die auf dem Meer bei der Überfahrt umgekommen sind. Das Leben in den Dörfern ist noch schwerer geworden, denn – es sind zumeist junge Männer – die dort fehlen. Viele Frauen müssen allein zurechtkommen. Das alles ist ein Resultat dieser Politik, die die Gesellschaft des Senegal zerstört. Die Ideologie dahinter ist die des Neoliberalismus.

Die Opposition verlangt nun einen Dialog mit der Macht, aber die Reaktion von Präsident Wade war aggressiv und ablehnend. Wie soll es weitergehen?

Es gibt keine andere Möglichkeit für Wade als den Dialog. Die Bevölkerung auf dem Land ist ihm gegenüber äußerst feindselig eingestellt. Die traditionelle Solidarität der Menschen in den Dorfgemeinschaften wurde untergraben, wer aber in die großen Städte gegangen ist, z.B. nach Dakar, für den ist es besonders schlimm. Hier gibt es nicht die Beziehungen zwischen den Menschen wie auf den Dörfen, hier herrscht riesiges Elend – und es wird nur minimal geholfen. Das erhöht die Feindseligkeit gegenüber der Regierung noch. Es gibt hier viele Menschen, die hungern, die nichts zu essen haben.

Der Präsident glaubt indessen, daß er die Verfassung faktisch außer Kraft setzen kann. Er regiert wie ein Monarch, wobei sein politisches Vorhaben der neoliberale Umbau der Republik ist. Die entscheidende Ressource dabei ist die Korruption. Mit ihr regiert er auf jeder Ebene. Zu diesem Zweck wurde das Wahlrecht ausgehöhlt.

Wir haben seit langem eine nationale Verständigung gefordert, was vom Präsidenten immer wieder zurückgewiesen wurde, ebenso wie das Verlangen nach Neuwahlen. Das führt aber langfristig zu einer weit schwereren Krise als nach den letzten, manipulierten Wahlen 2007. Heute kommen die Forderungen nach einer solchen Verständigung aus allen sozialen Gruppen: Das Unternehmertum erhebt sie, die islamische Geistlichkeit erhebt sie, die führenden Mediziner, Wissenschaftler, Künstler, politische Persönlichkeiten. Es handelt sich um eine umfassende Krise und wir sagen daher, daß sie auch umfassend, unter Beteiligung aller sozialer Gruppen, bewältigt werden muß. Wir nennen das »Assises Nationales« – »Nationale Beratungen«. Im Unterschied zu einer Nationalversammlung – die macht tabula rasa. Wir aber sind in allen Institutionen vertreten, uns geht es um praktische Lösungen, die aus der Krise herausführen. Unser Ziel ist, die Tragödie anderer Länder zu vermeiden.

Die Leiter der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welternährungsorganisation haben mehrfach erklärt, daß die Lebensmittelkrise zahlreiche Länder in Asien, Afrika und Südamerika destabilisieren könnte. Wie groß ist diese Gefahr im Senegal?

Die Lage ist sehr bedrohlich. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen hat kein Geld, um den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Nur ein Beispiel: Zu einer unserer letzten Demonstrationen hätten wir Tausende Teilnehmer mehr haben können, aber sie hatten nicht das Geld, um zum Versammlungsplatz zu kommen. So einfach ist das. Wir versuchen, wie gesagt, eine Tragödie zu vermeiden. Deswegen gehen wir konkrete Schritte zur Einberufung der »Assises Nationales«. Wir bereiten sie mit einem zentralen Komitee vor, in dem Parteivorsitzende, Gewerkschaftsführer und Vertreter anderer Organisationen arbeiten. Es umfaßt 300 Personen – so etwas hat es noch nicht gegeben, es ist ohne Beispiel.

Das hört sich nach einer zweiten Regierung an, nach Doppelherrschaft.

Jedenfalls kommen täglich neue Organisationen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hinzu. Wir sind in den gesellschaftlichen Gruppierungen fest verankert, aber auch in den staatlichen Einrichtungen. Wir wollen erreichen, daß mit einem Zustand Schluß ist, in dem der Präsident sämtliche Rechte hat und der Bürger kein einziges.

In dieser Form scheint es ähnliches bisher in Afrika nicht gegeben zu haben.

Wahrscheinlich in der gesamten Welt. Die Alternative wäre ein Bürgerkrieg, wie ihn die Maoisten in Nepal geführt haben. Aber bei uns herrscht eine andere Situation – wir haben Teile der Justiz, einzelne Minister und Magistrate auf unserer Seite.

Warum ist das im Senegal möglich?

Darüber muß man nachdenken. Ich denke, unsere Politik war immer auf ein Repräsentationssystem gebaut, nicht auf Diktatur. Es hat mit den Traditionen der senegalesischen Gesellschaft zu tun, damit, daß sich die Linke immer an den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung orientiert hat.

Welchen Einfluß haben die politischen Entwicklungen, die Ablösung des Neoliberalismus durch linke Regierungen, in Südamerika auf Afrika und auf den Senegal?

Südamerika hat eine Schlüsselstellung. In den 60er Jahren waren die traditionellen Strömungen der Linken, besonders die kommunistischen Parteien, auch in Afrika noch stärker, standen aber in vielen Ländern im Gegensatz zu den radikalen Bewegungen dort. Das trug viel zur Verwirrung bei. Die heutigen Linken Lateinamerikas sind realistischer. Auf globaler Ebene liegt ihre Bedeutung darin, daß sie ihre Länder aus der Vorherrschaft der USA lösen, aus jener Form imperialistischer Integration, die ihnen auferlegt wurde. Sie sprechen davon, daß sie sich generell in Richtung des Sozialismus bewegen. Dem entspricht weder ihre soziale Zusammensetzung noch ihre Ideologie. Es handelt sich nicht um Sozialismus im klassischen Sinn. Ihre Bedeutung besteht darin, daß sie wirkliche gesellschaftliche Veränderungen wollen, Autonomie anstreben, daß sie einen sozialen Wechsel durchsetzen, was meistens mit »populistisch« bezeichnet wird, daß sie global gesehen eine fortschrittliche Politik verfolgen.

Was Afrika angeht: Die Linke hier hat andere Traditionen. Die ökonomische Situation ist desolat, die USA haben hier z.B. in der Bevölkerung keinen Rückhalt mehr. Damit ist Schluß. Es ist eine völlig andere Situation als in den 60er oder 70er Jahren, als in Afrika einige marxistisch-leninistische Regierungen existierten. Ich glaube, heute ist die Situation viel reifer als seinerzeit. Die Geschichte unserer Partei spiegelt das wider. Vor 40 Jahren war es sozusagen unvermeidlich, als Linker Kommunist zu werden. Wir sind durch die Tragödie unserer Generation von Kommunisten gegangen und haben daraus gelernt. Entscheidend ist die neue globale Situation: Die USA – das hat ihre Niederlage im Irak gezeigt – sind nicht in der Lage, die Welt zu beherrschen, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Es geht heute um die Fortsetzung des antikolonialen Kampfes unter neuen Umständen. Mit Gewalt lassen sich die damit verbundenen Probleme nicht lösen, es geht um finanzielle, um ökonomische, um soziale Fragen.

Das ist beinahe eine Antwort auf meine letzte Frage. Sie gehörten zu einer Gruppe afrikanischer Revolutionäre, die 1964 Che Guevara in Bamako, der Hauptstadt Malis, trafen. Welche Bedeutung hatte die kubanische Revolution damals und welche hat sie heute für Sie?

Sie war auch die erste erfolgreiche schwarze Revolution. Es ist mit ihr wie mit kubanischer Musik – sie ist zum großen Teil afrikanisch und sie spielt in der Welt eine dominierende Rolle. Für mich als Kommunisten war sie natürlich von besonderer Bedeutung. Unsere Partei hatte brüderliche Beziehungen zur kubanischen Partei, wir haben Genossen nach Kuba zur Ausbildung geschickt, Kämpfer für die Guerilla. Und Che interessierte sich besonders für deren Ausbildung. Als er damals zu einem offiziellen Besuch nach Bamako kam, trafen sich der damalige Generalsekretär unserer Partei und ich mit ihm. Man muß wissen: Zu jener Zeit gab es einen Vertrag mit Modibo Keita, dem sozialistischen Staatspräsidenten Malis, über Waffenlieferungen und Ausbildung von Guerillakämpfern für uns in Bamako. Che war zunächst in der chinesischen Botschaft, wir kamen mit ihm am Abend in der kubanischen Vertretung zusammen und besprachen einige Fragen der Lage in Senegal und andere Dinge. Che sagte uns, Modibo Keita hatte ihm erklärt, daß seine Leute bereits dabei waren, die Nummern aus den für uns bestimmten Waffen, die aus tschechischer Produktion waren, zu entfernen. Che erzählte uns: »Morgen fahre ich zur Nigerschleife.« Ich begleitete Che bei dieser Reise und erlebte dort mit ihm, wie gefischt wurde. Die Leute benötigten zehn Minuten und hatten Fisch für drei Tage. Er meinte halb im Scherz, man könne in einem Land keine Revolution machen, »in dem man nur einmal ein Netz ins Wasser zu halten brauche, um jede Menge Fisch zu fangen«.

Er reiste ab, und für uns lief alles ganz normal. Wir hatten eine Guerillaausbildung, die aber sehr plötzlich zu Ende war. Der Außenminister Senegals wurde offiziell bei Modibo Keita vorstellig und erklärte ihm, daß die Regierung in Dakar über unser Vorhaben informiert sei. Er verlangte, daß wir sofort des Landes verwiesen werden, sonst werde Senegal die Eisenbahnverbindung von Dakar nach Bamako unterbrechen. Und die war für Mali von enormer Bedeutung.

Wir wurden rasch nach Algier geschickt und dort gut untergebracht. Unterstützung kam von Sékou Touré, dem Staatschef Guineas, der mit dem Präsidenten Senegals, Leopold Senghor, einen kalten Krieg führte. In Algier traf ich Che Guevara noch einmal, nachdem er für einige Monate verschwunden war. Er schenkte mir damals das Buch eines jungen französischen Philosophen Régis Debray über die ›Revolution in der Revolution‹, die Fokustheorie der Guerilla. Das war Ches Konzept. Allerdings war das Buch eine Theoretisierung in der typischen Manier französischer Philosophen.

Che hielt im Februar 1965 in Algier auf der Konferenz der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas seine berühmte Rede über das Verhältnis der Länder des Südens zu denen des Nordens und zu den sozialistischen Staaten. Meine persönliche Hypothese ist: Seine Reise durch Afrika diente der Vorbereitung auf seine weitere politische Tätigkeit. Er interessierte sich sehr für die senegalesischen Erfahrungen und die anderer Länder und sympathisierte mit unseren Vorhaben, begriff sie als Vorbereitung auf seine eigenen Pläne. Er hat mich umgekehrt sehr, sehr viel für unsere Projekte gelehrt. Als er in Algier sprach, hatte er seine Schlußfolgerungen aus seinen afrikanischen Studien bereits gezogen. Seine Rede damals wird für mich immer von Bedeutung bleiben.

Das Gespräch führte Arnold Schölzel in Dakar

* Aus: junge Welt, 14. Juni 2008


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