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Schweizer ignorieren Flüchtlingskonvention

Nach dem Volksentscheid stehen die bilateralen Verträge des Alpenstaates mit der EU auf dem Prüfstand

Von Aert van Riel *

Die Schweizer Entscheidung, sich gegen Zuwanderer abzuschotten, verletzt das Prinzip des freien Personenverkehrs. Auch für Asylbewerber werden verheerende Folgen befürchtet.

Wegen des knappen Votums der Schweizer Bevölkerung gegen »Masseneinwanderung« drohen sich die Beziehungen des Landes zur EU zu verschlechtern. Die Initiative der rechten Schweizerischen Volkspartei sieht vor, dass die Regierung innerhalb von drei Jahren jährliche Quoten für die Einwanderung einführen muss. Die Berner Regierung war gegen diese Begrenzung und kündigte nun Gespräche mit der EU an.

Die EU-Kommission kritisierte, dass das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der EU und der Schweiz verletzt werde. Die Kommission will »die Folgen dieser Initiative für die Gesamtbeziehungen zwischen der Union und der Schweiz analysieren«. Seit Jahren existieren EU-Abkommen mit der Schweiz u.a. zur Freizügigkeit für Arbeitnehmer und zum Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt. Dabei gibt es auch eine sogenannte Guillotine-Klausel: Demnach wird alles nichtig, wenn ein Teil des Abkommens infrage gestellt wird. Es müsse also neu verhandelt werdenn, sagte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius.

Der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, verlangte eine harte Linie der EU: »Es gibt keine Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs ohne Freiheit des Personenverkehrs. Bei einer Einschränkung der Zuwanderung gelten die bilateralen Verträge mit der EU nicht mehr«, sagte er. Wenn es Quoten für Menschen gebe, müsse es auch Quoten für die Geschäfte der Schweizer Banken und Exporte der Schweizer Wirtschaft geben.

Der Schweizer Migrationsforscher Gianni D’Amato befürchtet eine Krise in seinem Land. »Der bisherige Konsens über den Weg der Schweiz ist zerbrochen. Die Schweiz steht vor einem Scherbenhaufen«, sagte er dem »nd«. Denn die Schweiz ist mehr auf die EU angewiesen als die EU auf die Schweiz. Etwa 80 Prozent der schweizerischen Importe kommen aus der EU, rund 60 Prozent der Schweizer Ausfuhren gehen in die EU. Die deutsche Bundesregierung will diese Beziehungen offenbar aufrechterhalten. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, er erwarte schwierige Gespräche, Ziel müsse es aber sein, »das Verhältnis EU – Schweiz so eng wie möglich zu bewahren«.

Das Ergebnis des Volksentscheids könnte auch Auswirkungen auf die Asylpolitik haben. Pro Asyl wies darauf hin, dass die von den Schweizer Initiatoren geforderten Höchstzahlen »für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens« gelten sollten. »Eine zahlenmäßige Beschränkung des Asylzugangs wäre jedoch mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar«, so die Flüchtlingsorganisation. Das Recht auf Prüfung eines Asylantrags eines Schutzsuchenden sei nicht kontingentierbar. Die Umsetzung der Volksabstimmung werfe die Frage auf, »ob sich die Schweiz aus dem europäischen Menschenrechtsschutzsystem verabschieden wird«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. Februar 2014


»Bilaterale« in Gefahr

Nach dem Referendum müssen nicht nur die Kontingente für Zuwanderer festgelegt, sondern auch die Verträge zwischen der EU und der Schweiz neuverhandelt werden **

In bilateralen Verträgen regeln die Schweiz und die Europäischen Union (umgangssprachlich »Bilaterale«) seit 1957 ihre Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und auch kultureller Ebene. Neben einem Freihandelsabkommen und einem Versicherungsabkommen ist das Freizügigkeitsabkommen bedeutsam. Mit letzterem wurde 1999 die schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit beschlossen. So erhalten Staatsangehörige der Schweiz und der EU das Recht, Arbeitsplatz und Wohnsitz in den Staatsgebieten der Vertragsparteien frei zu wählen. Voraussetzung ist, dass sie über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügen, selbstständig tätig sind oder anderweitig »über ausreichende finanzielle Mittel« verfügen.

Aufgrund der »Guillotine-Klausel« steht nun das gesamte Paket der insgesamt sieben »Bilateralen Verträge I« auf dem Spiel. Denn die Regelung sieht vor, dass kein Vertrag einzeln gekündigt werden kann. Wird ein Abkommen gebrochen, werden automatisch auch alle anderen ungültig. Brüssel beharrt in ersten Reaktionen indirekt auf dieser Klausel. Kein Land dürfe sich die Rosinen aus dem EU-Kuchen picken. Die Initiative gibt der Schweizer Allparteienregierung, dem aus sieben Mitgliedern zusammengesetzten Bundesrat, jedoch drei Jahre Zeit, die Einzelheiten für die Kontingente festzulegen. In dieser Zeit soll auch mit der EU das Personenfreizügigkeitsabkommen nachverhandelt werden. Bundespräsident Didier Burkhalter von den Liberalen bemüht sich um Schadensbegrenzung und will einen »gemeinsamen Weg« mit der EU finden.

Unmittelbare Auswirkungen auf in der Schweiz lebende Ausländer gibt es nicht. Erst wenn ihre Arbeitsverträge auslaufen, könnte sich die Frage stellen, wie es für sie weitergeht. Unklar ist auch, wie genau die Kontingente festgelegt werden sollen und von wem. Die Initiative hat diese Fragen praktisch offen gelassen. Zu vermuten ist, dass die 26 Schweizer Kantone für sich nach einem noch festzulegenden Schlüssel den Bedarf an Zuwanderern ermitteln werden. Die Bürokratie dürfte dabei nicht unerheblich sein. Letztlich soll wohl Fachkräften Zuzug möglich sein, aber möglichst ohne Familie.

Die Schweiz braucht die Fachkräfte in allen Bereichen. In der Eidgenossenschaft herrscht Vollbeschäftigung. Im an Italien grenzenden Tessin, der Region mit der höchsten Zustimmungsquote beim Referendum, gibt es aber Klagen, dass die Einheimischen nicht mehr mit den »billigeren« Italienern konkurrieren können.

Die Landkarte des »Ja« und »Nein« zur Zuwanderungsinitiative ist einfach zu zeichnen. Die französischsprachigen Gebiete stimmten dagegen. Von der Deutsch-Schweiz bis nach Graubünden und Tessin fand der Slogan vom ziemlich vollen Boot dagegen viele Unterstützer. Der »Röstigraben« tat sich schon einmal bei einer ähnlichen Abstimmung auf: 1992 lehnte die Mehrheit der Eidgenossen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ab.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. Februar 2014


Weiter Herr im Haus sein

Migrationsexperte D’Amato sieht Angst vor Modernisierungsschub bei Schweizern ***


Gianni D’Amato (Jg. 1963) ist Professor für Migration und Staatsbürgerschaft an der Universität Neuchâtel und Direktor des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM). Über die Motive der Schweizer, für Zuwanderungsbeschränkungen zu stimmen, sprach mit ihm Steffen Klatt.


Haben Sie erwartet, dass die Initiative »Gegen Masseneinwanderung« angenommen wird?

Ich habe erwartet, dass es knapp wird. Aber ich hatte damit gerechnet, dass eine leichte Mehrheit für die Fortführung des bilateralen Weges mit der EU und gegen die Initiative stimmen würde.

Die Schweiz ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland…

… schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Der Ausländeranteil erreichte vor dem Ersten Weltkrieg 15 Prozent…

Warum hat eine Mehrheit der Schweizer Mühe damit?

Weil diese Mehrheit eben nicht anerkennen will, dass die Schweiz ein Einwanderungsland ist. Max Frisch hat es mal mit dem Wort des Herrenvolks umschrieben: Man ist Herr im eigenen Haus und will die anderen nur als Dienende bei sich haben. Das hat sich mit den bilateralen Abkommen mit der EU geändert. Die EU-Bürger kamen in großer Zahl in die Schweiz und hatten nun auch Rechte. So konnten sie auch die Familien nachführen. An diesen Rechten haben sich viele Schweizer gestoßen.

Ging es also in erster Linie um die Kontrolle?

Es ging darum, weiter Herr im Haus zu sein. Schon vor den bilateralen Abkommen mit der EU hat es eine Politik der Kontingente gegeben und sie hat nicht wirklich funktioniert. Die Ausländerzahlen wuchsen in den 50er und 60er Jahren teilweise stärker als jetzt. Erst die Krise der 70er Jahre bremste die Zuwanderung.

Die Zuwanderer kommen vor allem in die Städte, die Städte haben die Initiative aber deutlich abgelehnt. Umgekehrt haben die ländlichen Regionen sie angenommen. Ein Widerspruch?

Das hat mit einem Graben zu tun, der für die Schweiz typisch ist: zwischen den urbanen Gebieten und den ländlichen Deutschschweizer Gebieten, zu dem nun auch das Tessin kam. Diese ländlichen Gebiete haben mit den schnellen Veränderungen und dem Verlust an Heimat sehr große Mühe. Sie können nicht akzeptieren, dass die Schweiz ein Einwanderungsland geworden ist. Sie können auch nicht akzeptieren, dass Menschen kommen und auch wieder gehen. In der – für die Schweiz – kleinen Krise von 2009 ist die Wirtschaft ebenso geschrumpft wie die Zuwandererzahlen aus der EU.

War die Abstimmung also Ausdruck eines Kampfes zwischen der offenen und der in sich gekehrten Schweiz?

Alle europapolitischen Abstimmungen in der Schweiz drehen sich um dieses Selbstbild: Will man eine offene Schweiz, die sich der Wirtschaft und den Menschen öffnen will, oder will man eine bewahrende Schweiz?

Haben die Schweizer auch Angst vor einer Modernisierung, die etwa nötig wird, wenn Städte für mehr Menschen um- und die Infrastruktur ausgebaut werden muss?

Die Hälfte der Schweizer hat Angst vor einem Modernisierungsschub und sie hat Angst vor einem Verlust von Heimat. Sie hat Mühe mit Menschen, die einen anderen Hintergrund haben und nun auch hier leben.

Ist die Schweiz damit Spiegel eines generellen Unbehagens in Westeuropa?

Die Schweiz ist damit die Vorhut rechtspopulistischer Bewegungen vielerorts in Europa. Die Schweizer Abstimmung wird als Fanal wirken und die Stimmung gegen die Einwanderung nochmals befeuern. Die Rechtspopulisten anderswo in Europa werden nun die direkte Demokratie einfordern, um sie gegen die Rechte der Zuwanderer auszuspielen.

Gibt es einen Ausweg aus dem Dauerstreit zwischen der offenen und der bewahrenden Schweiz?

Die bilateralen Abkommen waren ein Deal, diese Fronten aufzulösen. Aber sie umfassten eben auch das Freizügigkeitsabkommen. Die SVP hat diesen Deal aufgekündigt. Wenn Politik von starken populistischen Kräften geprägt wird, dann ist sie sehr volatil. Rechtspopulistische Parteien machen keine langfristig kohärente Politik, sondern wollen Stimmung machen gegen die Regierung.

Nach der Ablehnung des Europäischen Wirtschaftsraums 1992 hat die Schweiz ein Jahrzehnt der Stagnation erlebt. Wiederholt sich das jetzt?

Ich denke schon, dass es zu einer Krise kommen wird. Der bisherige Konsens über den Weg der Schweiz ist zerbrochen. Die Schweiz steht vor einem Scherbenhaufen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. Februar 2014



Begrenzter Horizont

Katja Herzberg über das Schweizer Referendum gegen Freizügigkeit ****

Die Personenfreizügigkeit ist spätestens mit dem Votum der Schweizer für eine Begrenzung der Zuwanderung durch jährlich festgelegte Kontingente das Wahlkampfthema Nummer eins bei den anstehenden Wahlen in mehreren europäischen Ländern und bei der Europawahl Ende Mai. Das Ergebnis spricht für einen begrenzten Horizont bei zumindest der knappen Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer, droht nun aber auch Wellen über die Grenzen hinaus zu schlagen.

Denn es zeigt, dass irrationale Ängste wie vor einem vermeintlichen Verlust der Kultur und Heimat oder vor Wohlstandseinbußen schwerer wiegen als alle sachlichen Argumente. Und das, obwohl diese vor allem seitens der Schweizer Wirtschaft nicht gerade von Solidarität und von einem progressivem Freiheitsverständnis à la »Jeder darf aus Prinzip zu uns kommen« geprägt waren.

Hier setzt auch nicht die Kritik der EU-Institutionen oder führender europäischer Politiker an. Die Debatte nach dem Erdbeben offenbart: Ein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit will keiner dieser Akteure. So weit sind die Rechtspopulisten der SVP und die Regierungsparteien der Schweiz wie fast aller Länder Europa also nicht voneinander entfernt. Dass sich die Schweiz mit der Umsetzung der Volksinitiative aus dem europäischen Menschenrechts-Schutzsystem verabschieden könnte, interessierte nach dem politischen Erdbeben fast niemanden. Einen begrenzten Horizont weisen so nicht nur die Schweizer auf, die am Sonntag mit »Ja« stimmten.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. Februar 2014 (Kommentar)


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