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Schweizer für Abschiebungen ohne Gnade

Mehrheit bei Volksabstimmung für nationalkonservativen Vorstoß gegen "kriminelle Ausländer"

Von Steffen Klatt, St. Gallen *

Wer in der Schweiz ein Kapitalverbrechen begeht oder sich Sozialhilfe erschleicht, wird in Zukunft aus dem Land abgeschoben. Das hat am Sonntag eine Mehrheit der stimmberechtigten Eidgenossen beschlossen. »Ausländerkriminalität« war das große Thema im Wahlkampf.

Im europäischen Wettrennen um das schärfste Ausländerrecht hat die Schweiz immer weit vorn gelegen. Nun setzt sie sich in einem Punkt sogar an die Spitze: Ausländer, die wegen einer schwereren Straftat rechtskräftig verurteilt sind, verlieren künftig ihr Aufenthaltsrecht in dem Land.

Eine entsprechende Vorlage der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) wurde am Sonntag in einer Volksbefragung mit einer Mehrheit von 53 Prozent beschlossen. Eine so harte Regelung, wie sie nun in der Schweiz eingeführt wird, kennt kein anderes Land in Europa.

Der Zwang zur sogenannten Ausschaffung gilt aber nicht nur beispielsweise für verurteilte Mörder oder Vergewaltiger. Er wird auch bei Delikten wie Drogenhandel oder Einbruch, die oft unter Kleinkriminalität fallen, angewandt. Er gilt zudem ebenso bei missbräuchlichem Bezug von Sozialleistungen.

Obendrein verlieren die Betroffenen nicht nur die Aufenthaltsgenehmigung. Gegen sie wird auch eine Einreisesperre von mindestens fünf Jahren verhängt.

Damit wird über mehr als ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung ein Sonderrecht verhängt. Denn die Ausschaffung und die Einreisesperre gelten zusätzlich zu den normalen gesetzlichen Strafen. Viele der in der Schweiz lebenden Ausländer sind im Land geboren oder wohnen seit Langem in der Eidgenossenschaft. Die meisten von ihnen haben keinen Bezug mehr zu ihrem sogenannten Heimatland.

Die Ergebnisse der Abstimmung am Sonntag entsprechen einem bekannten Muster: Die Deutschschweiz folgte dem Vorschlag der SVP, während die großen Städte wie Zürich, Bern und Basel sowie die französischsprachige Westschweiz den Vorstoß ablehnten. Die SVP, die mit Abstand wählerstärkste Partei des Landes, hat damit den »Röschtigraben« wieder geöffnet.

Allerdings hatten die Rechtspopulisten leichtes Spiel. Die bürgerlichen Parteien haben sich kaum gegen die »Ausschaffungsinitiative« stark gemacht; sie konzentrierten ihre Mittel darauf, eine Initiative der Sozialdemokraten zu bekämpfen, mit der der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen eingeschränkt werden sollte. Vor allem der Wirtschaftsverband economiesuisse gab dafür Millionen aus, während ihm die Ausschaffungsinitiative erklärtermaßen gleichgültig war.

Für die neue Justizministerin Simonetta Sommaruga ist das Abstimmungsergebnis die erste Niederlage im Amt. Doch die Sozialdemokratin wird deshalb kaum an Beliebtheit verlieren. Sie wird vielmehr Mühe haben, die Initiative umzusetzen. Denn nach Ansicht von Beobachtern verstößt diese gegen internationale Vereinbarungen, die die Schweiz geschlossen hat. So darf die Eidgenossenschaft EU-Bürger nicht diskriminieren. Auch die Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention steht in Frage. Und: Schon Sommarugas Vorvorgänger Christoph Blocher, Vordenker der Rechtspopulisten, war mit der Umsetzung einer harten Volksinitiative seines eigenen Lagers gescheitert. Damals ging es um die lebenslange Verwahrung von Sexualstraftätern.

* Aus: Neues Deutschland, 29. November 2010


Werte-Verfall

Von Steffen Klatt, St. Gallen **

Der Schweizer Stimme ist Europas Stimme. Die Schweizerinnen und Schweizer sagen dank der direkten Demokratie oft das, was ihre Miteuropäer auch sagen würden. Doch die außerhalb der Schweiz übliche parlamentarische Demokratie erlaubt es den Politikern, Probleme unter den Tisch zu kehren – bis sie sich nicht länger verdrängen lassen. Das war so bei der europäischen Integration, beim Umgang mit Ausländern und mit dem Islam. Jetzt war es abermals das Ausländerrecht, über das die Eidgenossen am Sonntag abstimmten.

Allerdings können die Schweizer auf das, was sie nun bestätigt haben, kaum stolz sein: Sie grenzen die Rechte der Ausländer noch weiter ein. Wenn ein Ausländer sich an einem Einbruch beteiligt oder Sozialhilfe erschwindelt, soll er ohne Gnade sein Aufenthaltsrecht verlieren. Damit schaufelt die Schweiz ihre sozialen Probleme an »Heimatländer« ab, mit denen die Ausgewiesenen oft nicht mehr als den Pass gemein haben.

Die Abstimmung zeigt, dass sich eine, wenn auch knappe, Mehrheit der Schweizer zunehmend von den Werten abwendet, die einst selbstverständlich für Europa galten: gleiche Rechte für alle, Toleranz und Respekt. Nun gilt: Rechte nur für die eigenen Bürger, Misstrauen und Nulltoleranz gegen andere. Offensichtlich bröckelt die Grundlage des Zusammenlebens in Europa. Die einst lebendigen Werte sind zu Gesetzen, Konventionen und Institutionen versteinert, hinter denen sich oft ideenlose Politiker verschanzen. Immer mehr Bürger wenden sich von dieser erstarrten Demokratie ab – mit verhängnisvollen Konsequenzen. In der Schweiz geht es nur schneller als anderswo.

** Aus: Neues Deutschland, 29. November 2010


Weitere Pressestimmen ***

Der österreichische STANDARD beschäftigt sich mit der Volksabstimmung in der Schweiz zur Abschiebung straffälliger Ausländer:
"Von außen waren Proteste gegen die 'Ausschaffungsinitiative' nicht zu vernehmen. Proteste etwa gegen Plakate wie jenes mit dem Foto eines unkenntlich gemachten bärtigen Mannes, das suggeriert, hier handle es sich um einen Vergewaltiger, der nach dem Willen des Parlaments bald eingebürgert werden soll. Auch mit der eidgenössischen Kriminalitätsstatistik ging die Kampagne - sagen wir - recht kreativ um: Einzelne Delikte wurden zu 100 Prozent ausländischen Straftätern zugeschrieben. Dass dagegen die Stimmen der Mäßigung keine Mehrheit erringen konnten, wundert aus österreichischer, von FPÖ-Anti-'Mustafa'-Kampagnen geeichter Sicht nicht. Beunruhigend jedoch ist, dass nach dem Minarettverbot in der Schweiz jetzt schon zum zweiten Mal offen Ausländerfeindliches in Recht und Gesetz eingeht. Könnte sein, dass hier direkte Demokratie am Fremdenhass scheitert", ist im STANDARD aus Wien zu lesen.


Der Schweizer TAGES-ANZEIGER vermutet:
"Am Ende gaben wohl die Proteststimmen gegen das politische Establishment und seinen vermeintlich weichen Umgang mit straffällig gewordenen Ausländern den Ausschlag. Wie der Initiativtext praktisch umsetzbar ist, scheint diesem Lager egal. Wie vor Jahresfrist das Ja zur Minarett-Initiative wird die Schweiz auch dieses Ergebnis ihren internationalen Partnern erklären müssen. Einfach wird das nicht werden. Die meisten anderen europäischen Regierungen und die EU-Führung insgesamt haben bis jetzt populistischen Lösungen widerstanden. Neue Freunde wird sich die Schweiz mit diesem Ja folglich nicht machen – außer an den rechtspopulistischen Rändern Europas", bemerkt der TAGES-ANZEIGER aus Zürich.

*** Aus: Deutschlandfunk, Pressestimmen vom 29. November 2010; www.dradio.de


Rassistische Initiative

Referendum in der Schweiz: Ausländer vor dem Gesetz nicht mehr gleich

Von Albert Olter, Zürich ****


Die Schweizer haben sich bei einem Referendum am Sonntag mit knapp 53 Prozent für die automatische Abschiebung straffällig gewordener Ausländer ausgesprochen. Demnach unterstützten 52,9 Prozent das Vorhaben der rechtskonservativen Schweizer Volkspartei (SVP), deren Mitgliedschaft sich vom konservativen Lager bis weit nach rechtsaußen erstreckt. Ein vom Parlament ausgearbeiteter Gegenvorschlag, der zumindest die schlimmste Willkür verhindern sollte, wurde mit 54,2 Prozent abgelehnt. Als Reaktion auf das Abstimmungsresultat kam es am Sonntag abend in verschiedenen Schweizer Städten zu Protesten. In Bern und Lausanne gingen einige hundert Menschen auf die Straße. Die größte Demonstration fand in Zürich statt. An ihr beteiligten sich rund 4000 Menschen, eine Zahl, die sonst nur bei der 1.-Mai-Kundgebung erreicht wird. Die Polizei setzte Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfer ein, eine Reihe von Schaufensterscheiben ging zu Bruch.

Der Protest der Demonstranten richtete sich gegen die Diskriminierung ausländischer Mitbürger. Nach der am Sonntag verabschiedeten Vorlage reicht bereits eine Verurteilung wegen Sozialhilfebetrugs oder Drogenbesitzes aus, um ausgewiesen zu werden. Somit entstehe ein Gesetz, das die Gleichheit untergrabe und je nach Herkunft des Angeklagten unterschiedliche Maßstäbe anwende, monieren die Gegner. Auch Rechtsexperten warnten, daß die Initiative gegen das Völkerrecht verstoße.

Proteste hatte es bereits im Vorfeld des Referendums gegeben: Die SVP warb mit Schäfchen-Plakaten für die verschärften Ausländergesetze. Darauf zu sehen ist ein weißes Schaf, das ein schwarzes mit einem schwungvollen Tritt ins Hinterteil von der Schweizer Flagge bugsiert.

Die rassistische Kampagne vor der Abstimmung ist nur ein Puzzleteil in einer breiten und langfristig angelegten Kampagne der SVP, die die Ausländerpolitik zu ihrem Kernthema erhoben hat und beinahe 30 Prozent der Sitze im Schweizer Parlament hält. Bezeichnend ist, daß gerade in ländlichen Gebieten, also jenen Regionen, die einen geringen Ausländeranteil aufweisen, die Initiative mit der größten Mehrheit angenommen wurde. Einzig in der französischsprachigen Schweiz wurden sowohl die Initiative wie auch der Gegenvorschlag verworfen. Dies hängt vor allem mit dem vergleichsweise großen Einfluß der Gewerkschaften und der parlamentarischen Linken in dieser Region zusammen.

**** Aus: junge Welt, 30. November 2010


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