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Im schwedischen Ghetto

Auch das wohlhabende und beschauliche Skandinavien hat soziale Schattenseiten

Von André Anwar, Stockholm *

Schwedische Ghettos sind keine Ghettos im herkömmlichen Sinne. Das Land ist nach wie vor um Chancengleichheit bemüht. Doch in der Arbeitswelt werden junge Menschen mit dem falschen Migrationshintergrund systematisch ausgeschlossen. Ein Grund für die Krawalle der vergangenen Woche.

Der Stockholmer Vorort Husby mutet beinahe idyllisch an. Alles ist ordentlich begrünt, die zur U-Bahn hetzenden Passanten sehen am Morgen gepflegt aus, Bürgersteige und Fassaden sind sauber. Auch Mustafa wohnt hier. Aber zur Schule geht der Gymnasiast lieber woanders. Die freie Schulwahl macht es möglich. In Schweden können Eltern unabhängig von ihrem Wohnort eine Bildungsstätte für ihre Kinder aussuchen. »Das ist vielleicht ein wenig egoistisch von mir. Ich will eine gute Schulbildung. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, sind die Schulen hier bei uns nicht gut genug«, sagt Mustafa über den Vorort, indem es gerade zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Einwohnern und Polizeikräften gekommen ist.

Mustafas Innenstadtgymnasium besuchen die blonden Schweden, die Arzt-, Anwalts- und Unternehmerkinder. Der Unterricht sei anspruchsvoller, das Klima inspirierender und zukunftsbejahender. Hier fühlen sich die Schüler als Teil der Gesellschaft. »In Husby ist das nicht so«, sagt Mustafa. Die Menschen dort seien nicht klüger und nicht dümmer als andernorts. Aber sie haben einfach nicht die gleichen Chancen. »Für mich wird alles gut laufen.« Es ist ein weiter Weg für ihn bis zur Schule mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. »Ein langer Weg. Aber er lohnt sich«, so Mustafa.

Auch die dunkelhäutige Marie wohnt und schläft eigentlich nur in Husby. Wie der Gymnasiast muss sie sehr früh aufstehen, um zu ihrer Arbeitsstelle in der Innenstadt zu gelangen. »Eigentlich mag ich Husby. Es ist schade, dass ich so denken muss. Ich fühle mich wie alle anderen hier. Ich will wegziehen. Meine Zukunft liegt nicht hier«, sagt die Einwanderin der ersten Generation in gutem Schwedisch. Die meisten Stockholmer Migranten, auch die jüngst hinzugekommen, sprechen die Landessprache erstaunlich gut, drücken sich eloquent aus.

Der Vater einer Flüchtlingsfamilie aus Bangladesch erzählt, dass sie zunächst in Deutschland waren. Dann ging es weiter nach Schweden, wo sie viel besser behandelt worden seien, viel mehr finanzielle, aber auch menschliche und praktische Unterstützung erfuhren, etwa um Schwedisch zu lernen. »In Deutschland fühlten wir uns wie Tiere. Hier sind wir Menschen. Ich glaube, die jungen Leute, die die Krawalle machen, haben einfach nur Langeweile«, meint Ali.

Schweden tut tatsächlich viel mehr für seine Einwanderer als die meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten. Obwohl das Land seit den 90er Jahren vom auf Chancengleichheit und geringe soziale Unterschiede geprägten sozialdemokratischen Vorzeigestaat in eine marktliberale Gesellschaft nach dem Vorbild von Großbritannien umgebaut wird, sind Steuern, Sozialleistungen und Umverteilungsquoten noch immer relativ hoch.

Die Vergleiche der Ausschreitungen von Stockholm mit jenen in Paris und London, wie sie in den vergangenen Tagen gern gezogen wurden, erscheinen den Menschen in Husby künstlich konstruiert. Doch für die friedliche Verhältnisse gewohnten Schweden war der zumeist nur vereinzelte Vandalismus der vergangen Nächte deshalb nicht minder schockierend. »Die vergangene Woche hat gezeigt, dass Schweden schon seit einiger Zeit ein segregiertes Land ist«, stellte die Moderatorin des populären Politmagazins »Agenda«, das Sonntagabend im öffentlich- rechtlichen Fernsehen läuft, fest. Dies belegte sie mit Zahlen, die etwa für deutsche Problemviertel eine Erfolgsmeldung wären. So liege die Arbeitslosigkeit in den 15 ärmsten Stadtteilen Schwedens durchschnittlich bei 18,5 Prozent (landesweite Quote: 8,7 Prozent). 25 Prozent der Bevölkerung in diesen Stadtteilen bezögen Sozialhilfe, nur 60 Prozent der Jugendlichen kämen auf das Gymnasium. Das ist wenig beim schwedischen Landesdurchschnitt von rund 95 Prozent mit Abschluss Abitur. Aber viel etwa im Vergleich zu Deutschland. Landesweit gibt es mit der Gesamtschule nur eine Schulform. Nachhilfeunterricht ist in die Schulen integriert und wird nicht zur finanziellen Extrabelastung engagierter Eltern.

Auch das hat dafür gesorgt, dass die meisten Einwohner sozial schwächerer Stadtteile wie Husby von den Krawallen Abstand genommen haben, statt sie zu unterstützen. »Die meisten hier haben noch etwas zu verlieren«, sagt auch Ali.

Doch seit den Krawallen kommt Kritik auf. Denn es sind vor allem die besseren Schüler aus Husby und anderen Vororten mit vorausdenkenden, oft selbst akademisch gebildeten Eltern, die ihre Kinder auf bessere Schulen in der Innenstadt bringen. »Viele Familien empfinden die freie Schulwahl als Möglichkeit, aus der Segregation durch ihren Wohnort auszubrechen, auch wenn sie kein Geld haben, um in den feineren Stadtteilen zu wohnen«, sagt die Stockholmer Soziologin Jenny Kallstenius. Gleichzeitig klagen Lehrer etwa in Husby darüber, dass ihnen viele gute Schüler verloren gehen. Das beeinträchtige das Unterrichtsniveau.

Doch ein großes Problem für Schweden ist der Arbeitsmarkt, nicht nur für junge Menschen aus Einwanderervierteln. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den letzten sechs Jahren kräftig angestiegen und liegt derzeit unter den 15- bis 24-Jährigen bei 27,2 Prozent. Gerade der große öffentliche Sektor Schwedens, das kein Lehrlingssystem hat, war lange erster Arbeitgeber für Menschen mit wenig Berufserfahrung. Inzwischen sind viele Tätigkeiten ausgelagert worden. Beschäftigungen werden oft von Zeitarbeitsfirmen ohne Verantwortungsgefühl für junge Menschen vergeben. Viele von ihnen ziehen daher etwa nach Norwegen, um Arbeit zu finden.

Von der Verhärtung der angespannten Arbeitsmarktsituation sind junge Menschen mit Migrationshintergrund und den schlechtesten sozialen Netzwerken jedoch am stärksten betroffen, egal wie gut ihre Schulnoten sind. Fern des noch immer sehr durchlässigen Bildungssystems bleibt es schwierig für sie, wenn es um einen konkreten Arbeitsplatz geht. Latenter Rassismus sorgt dafür, dass Bewerber mit muslimisch klingenden Namen oder südländischem Aussehen trotz eines guten Abschlusses keine Praktika bekommen und bei Bewerbungsverfahren oft ausgesondert werden. Genauso wie auch an den Eingängen zu vielen Stockholmer Bars und Nachtklubs, wo sich Menschen unterschiedlichster Herkunft eigentlich kennen lernen und austauschen könnten.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Mai 2013


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