Bürger werden ausgegrenzt
Schweden: Streit um EU-Verfassung. Volksbefragung soll nach Willen der Regierung nicht stattfinden
Von Gregor Putensen*
In knapp der Hälfte aller EU-Staaten wird über das Verfassungsprojekt der Europäischen Union per Volksabstimmungen entschieden. Die bisher in Schweden geübten Traditionen politischer Kultur, Entscheidungen über gravierende Zukunftsfragen des Landes unter breiter demokratischer Einbeziehung der Wahlbürger durch Referenden (entweder mit verbindlichem oder beratenden Charakter) herbeizuführen, legten dies auch für das EU-Verfassungsprojekt nahe. Doch in diesem Fall ist, ebenso wie in der BRD, lediglich ein parlamentarisches Ratifikationsverfahren (wie bei internationalen bzw. bilateralen Verträgen üblich) vorgesehen. Die bereits im Zusammenhang mit der seinerzeit von der Regierung und den Spitzen der Wirtschaft in Schweden geplante Einführung des Euros scheiterte bekanntlich im September 2003 an dem mehrheitlich ablehnenden Votum der in einem Referendum befragten Bevölkerung. Ein derartiges Debakel soll sich nunmehr nach Auffassung nicht nur der sozialdemokratischen Regierung unter Göran Persson, sondern auch aller bürgerlichen Oppositionsparteien, nicht wiederholen.
Meinungsumfragen bestätigen jedoch, daß auch in Hinblick auf das EU-Verfassungsprojekt eine deutliche Mehrheit des schwedischen Volkes befragt werden will. Die Crux besteht allerdings eben darin, daß keine präzisen Regeln für die Anberaumung von Referenden bestehen. Die bisherigen Entscheidungen zur Durchführung von Volksabstimmungen waren stets Resultat der ihnen vorangegangenen politischen Prozesse und der Zuspitzung strittiger Fragen. Entscheidend für die Bereitschaft der jeweils Regierenden zur Abhaltung von Referenden war jedoch immer deren zuversichtliche Erwartung eines in ihrem Sinne positiven Mehrheitsvotums. Und genau über einen derartigen Ausgang im Falle der EU-Verfassung bestehen sowohl in der sozialdemokratischen Regierung und Parteiführung als auch bei den bürgerlichen Parteien massive Zweifel. Und dies, obwohl ihnen, wie schon beim Euro-Referendum, eine Übermacht an finanziellen und medialen Ressourcen zu Gebote steht.
Im Parteienspektrum Schwedens wurde die Forderung nach einem Verfassungsreferendum bisher lediglich von der sozialistischen Linkspartei und der grünen Umweltpartei erhoben. Allerdings hat sich die Linkspartei seit vergangenem Herbst einer heftigen, an die Zeiten des Kalten Krieges erinnernde Medienkampagne wegen eines keineswegs stalinistischen Kommunismusbekenntnisses ihres Vorsitzenden Lars Ohly zu erwehren. Nicht genug damit, hat die frühere Vorsitzende der Linkspartei, Gudrun Schyman, die Linkspartei mit Medienwirbel verlassen. All das dürfte die bisherige Wirksamkeit der Linkspartei in der Verfassungsfrage erheblich beeinträchtigen. Die Grünen wiederum befinden sich auf einem Kuschelkurs mit Perssons Sozialdemokraten, nachdem dieser in aller Öffentlichkeit darüber nachdachte, nach den Wahlen 2006 Grüne an der Regierung zu beteiligen. Beleg dafür ist deren Unterstützung für die neue, die bisherige Neutralitätsdoktrin aushöhlende Militärpolitik der sozialdemokratischen Regierung.
Nunmehr betritt allerdings ein neuer Akteur die Arena der traditionellen Parlamentsparteien in Schweden: Die »Juni-Liste«, die als Bündnis von mehr oder minder ausgeprägten EU-kritischen Einzelpersönlichkeiten des bürgerlichen Lagers im Zusammenhang mit den Wahlen zum EU-Parlament vom letzten Sommer gebildet wurde. Sie errang auf Anhieb etwa 15 Prozent der Wählerstimmen und präsentierte sich somit als drittstärkste Kraft im politischen Spektrum Schwedens. Dies jedoch zunächst ohne Ambitionen auf eine eigene Parteigründung. Angesichts der gemeinsamen Ablehnung eines Verfassungsreferendums von Regierung und etablierter bürgerlicher Parteienopposition kündigte der Vorsitzende der Juni-Liste, der Volkswirtschaftler Nils Lundgren, für dieses Jahr den entscheidenden Schritt zur Umwandlung des bisherigen Personenbündnisses in eine Partei an.
* Aus: junge Welt, 4. Januar 2005
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