Schweden: "Wir können nicht mal einen Diebstahl klären"
Vor zwanzig Jahren wurde in Stockholm der schwedische Ministerpräsident Olof Palme ermordet. Nach dem Täter suchen die Behörden bis heute.
Von Reinhard Wolff, Stockholm*
«Ja, wo ist das Leben geblieben?» Sein halbes Arbeitsleben hat Lennart
Gustavsson damit verbracht, nach dem Mörder von Olof Palme zu suchen.
Der Kriminalinspektor gehört zu der Hand voll PolizeibeamtInnen, die
kurz nach dem 28. Februar 1986 aufgeboten wurden. An diesem Freitag war
um 23.31 Uhr mitten in Stockholms Innenstadt Ministerpräsident Olof
Palme auf offener Strasse erschossen worden. Lennart Gustavsson war
damals ein einfacher Streifenpolizist. Nun sitzt er bald zwanzig Jahre
in der Palme-Kommission. Die gibt es noch, auch wenn sie von einst 300
auf 12 Beamte geschrumpft ist.
«Ich habe mir vorgenommen, das abzuschliessen», sagt Gustavsson.
Immerhin habe man im vergangenen Jahr 150 neue Tipps bekommen. Aber von
einem Erfolg sind die ErmittlerInnen so weit weg wie zu Beginn ihrer
Bemühungen. Rund 18 000 Tipps und Spuren haben sie verfolgt. 234
Personen, die sich selbst der Tat bezichtigten, taten sie als Spinner
oder Wichtigtuer ab. Die Masse der von ihnen gesammelten Dokumente wird
nur von denen zum Kennedy-Mord und zum Lockerbie-Attentat übertroffen.
Zwischen 400 000 und 600 000 Seiten umfassen die Akten. Aber so genau
weiss man das nicht, da die Dokumentenberge nur mit Hilfe einer Technik
auf dem Stand des Jahres 1986 durchsucht werden können. Wiederholt
hatten die ErmittlerInnen diskutiert, alle Unterlagen für die moderne
Datenverarbeitung aufzubereiten und so zugänglich zu machen - um
vielleicht doch noch die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden. Aber für
den erforderlichen Kraftakt ist angeblich kein Geld da. Man müsste ja
alle Dokumente einscannen.
PKK, Mossad, CIA?
Das Einzige, was man deshalb nach zwanzig Jahren mit einiger Sicherheit
zu wissen glaubt, ist, dass der Mord mit einer Waffe vom Kaliber .357
Magnum begangen wurde.
Rund 2200 Morde sind in Schweden seit den Schüssen auf Olof Palme verübt
worden. 98 Prozent davon wurden aufgeklärt. Schweden ist also kein Land,
in dem MörderInnen allzu lange auf der Strasse herumlaufen. Aber nach
zwanzig Jahren gar nichts, ausser dem Kaliber der Schusswaffe?
Wenn man wenig in der Hand hat, blüht die Spekulation. Mit absoluter
Sicherheit ad acta legen konnten Lennart Gustavsson und seine
KollegInnen die meisten Theorien bis heute nicht. Wie beispielsweise den
allerersten Verdacht. Zwölf Tage nach den Schüssen wurde Victor
Gunnarsson verhaftet, Rechtsextremist und Mitglied der Europäischen
Arbeiterpartei (EAP). Die Indizien gegen ihn reichten nur für eine Woche
Untersuchungshaft. Nach seiner Freilassung verschwand er bald in die
USA, wo er 1994 ermordet wurde. Laut US-Polizei eine der «üblichen»
Abrechnungen im kriminellen Milieu.
Aber ein einheimischer Täter stand - sieht man vom zeitweise
verurteilten Christer Pettersson ab - sowieso nie im Zentrum des
Interesses der Palme-Kommission. So eine Tat mussten AusländerInnen
begangen haben. Die kurdische Arbeiterpartei PKK vielleicht? Kurz vor
dem Palme-Mord war in Stockholm einer ihrer Sympathisanten für die
Hinrichtung eines «Verräters» zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Die PKK beschuldigte Palme, in der Kurdenfrage aufseiten Ankaras zu
stehen. Noch 1999 vernahmen schwedische Staatsanwälte Abdullah Öcalan
auf der Gefängnisinsel Imrali. Der frühere PKK-Chef verneinte lediglich
eigene Kenntnis, wollte aber eine Beteiligung oder Täterschaft von
PKK-Ausbrechergruppen nicht ausschliessen.
Oder war es die faschistisch-kroatische Ustascha? Die - grundsätzlich
immer verdächtige - CIA oder der sowjetische KGB? Israels Mossad etwa,
wegen der Unterstützung Arafats durch Schweden? Immerhin hatte der
israelische Geheimdienst schon 1948 den schwedischen Uno-Vermittler
Folke Bernadotte ermordet. Oder vielleicht die chilenische
Sicherheitspolizei Dina? Die hatte es schliesslich auch geschafft, den
früheren chilenischen Aussenminister Orlando Letelier mitten in
Washington mit einer Autobombe zu töten und hatte Palme angeblich schon
1979 bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale in Madrid im
Visier (ausserdem soll sie einen Berufsmörder auf ihn angesetzt haben).
Umstrittene schwedische Waffengeschäfte sorgten für weitere
Spekulationen. Motive hätten hier der Iran, der Irak und Pakistan haben
können.
Oder die schwedische Polizei?
Die letzte aufregende Spur, welche die Palme-Einheit beschäftigte, war
Mitte der neunziger Jahre die Südafrika-Connection gewesen. Denkbares
Tatmotiv: die starke politische wie finanzielle Unterstützung des
African National Congress (ANC) durch Stockholm. Kein anderer westlicher
Staatschef hatte Pretorias Apartheidpolitik so scharf kritisiert wie
Palme. Ausserdem stand Schweden an der Spitze jener Staaten, die für
eine stetige Ausdehnung der Uno-Sanktionen gegen Südafrika kämpften. Die
Gelder, welche die Sozialistische Internationale unter Führung der
schwedischen Sozialdemokratie in den Widerstand gegen die Apartheid
schleuste, wurden auch für Waffenkäufe verwendet. Eine Woche vor seiner
Ermordung hielt Palme eine viel beachtete Rede, in welcher er das
Apartheidregime mit Hitler und dem Massenmord in den deutschen
Konzentrationslagern verglich und zu verschärften Sanktionen aufrief.
Doch auch diese Spur verlor sich. War ihr hauptsächlicher Urheber - der
ehemalige südafrikanische Geheimdienstchef Eugene de Kock - bloss ein
Wichtigtuer, der etwas Geld verdienen wollte? Oder hatte sich der
Geheimdienstler mit Blut an den Händen von seiner Aussagefreudigkeit
eine Amnestie vor der südafrikanischen Wahrheitskommission erhofft, die
nach dem Ende des Apartheidregimes gebildet worden war?
Lennart Gustavsson hat sich längere Zeit speziell mit der «Polizeispur»
beschäftigt. Von dieser These, laut welcher der Staat bei der Ermordung
seine Hände im Spiel hatte, gibt es verschiedene Versionen. Sie reichen
von der Theorie einer umfassenden Anti-Palme-Konspiration innerhalb der
Polizei oder des Geheimdienstes bis hin zu blosser Sabotage der
Fahndung, um die eigentlichen TäterInnen - aus welchen Gründen auch
immer - zu decken. Zusammengepuzzelt wurde diese Spur vor allem von den
Medien und durch PrivatermittlerInnen, die im Laufe der Jahre ein Bild
zusammentrugen, in dem die vielen, kaum verständlichen Fahndungspannen
plötzlich einen Sinn ergeben könnten. Jedenfalls ergaben sie ein so
überzeugendes Szenario, dass eine Untersuchungskommission 1999 die
Polizei verdonnerte, auch in den eigenen Reihen zu ermitteln.
Herausgekommen ist dabei nur, was schon durch private Recherchen bekannt
geworden war. So waren mehrere aktenkundige Mitglieder einer rechten
Polizeikameradschaft in der Mordnacht in Tatortnähe unterwegs gewesen.
So wurde in den wichtigen ersten Stunden nach der Tat ein Phantombild
des angeblichen Täters verbreitet, von dem die Staatsanwaltschaft später
sagte, es habe einen Fahndungserfolg eher verhindert. Einer der Ersten,
die die «Polizeispur» verfolgten (und der dafür bald nicht mehr
ausgelacht wurde), war Sven Anér. Der pensionierte Presse- und
Fernsehjournalist veröffentlichte bis letzten Sommer sein eigenes
Infoblatt zum Palme-Mord, die «Palme-Nytt», und ist bis heute davon
überzeugt, dass die Behörden «unwillig sind, den wahren Mörder zu
finden». Ein Siebtel der SchwedInnen glaubt an eine Polizeikonspiration.
Vielleicht spricht gegen diese Einschätzung nur die Meinung eines hohen
Polizeibeamten, den die Verfasser eines vor zehn Jahren erschienenen
Palme-Buches zitierten: «Unsere Truppe wäre zu so einer Konspiration
nicht fähig», sagte der Beamte: «Die schafft es doch nicht mal, einen
komplizierten Diebstahl aufzuklären.» Fraglich ist auch, ob
MitwisserInnen angesichts der Belohnung in Höhe von über acht Millionen
Franken ihr Schweigen hätten durchhalten können.
So bleiben nach zwanzig Jahren Ermittlungsarbeit also nur zwei Kugeln
des Kalibers .357 aus einem Smith-&-Wesson-Magnumrevolver. Doch nicht
einmal das ist sicher, seit Munitionsspezialisten es für
unwahrscheinlich erklärt haben, dass Kugeln, die ein Rückgrat und ein
Brustbein durchlöchert haben, so wenig deformiert sind wie diese. Zudem
waren sie erst ein beziehungsweise zwei Tage nach dem Attentat einige
Meter vom Tatort entfernt gefunden worden - jeweils von Privatpersonen.
Die Polizei hatte sie übersehen. Oder waren sie später dort absichtlich
platziert worden, um die ErmittlerInnen irrezuleiten?
Juristisch verjährt Mord in Schweden nach 25 Jahren. Lennart Gustavsson
hat also nur noch fünf Jahre Zeit.
* Aus: Wochenzeitung WoZ (Zürich), 23. Februar 2006
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