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Die Weltgeschichte entfaltet sich

Nach Ägypten tickt die Uhr auch für das Herrscherhaus in Saudi-Arabien

Von Prof. Johan Galtung *

Und plötzlich passiert es. Dort, direkt unseren Augen. Das gewohnte Bild, vor allem ein Produkt amerikanisch-israelischer Zusammenarbeit, löst sich auf. Das Modell war immer das gleiche, mit Gewalt oder Schmiergeldern oder beidem wurden »freundliche Regierungen« kreiert, »Alliierte im Friedensprozess«, wie es Obamas Vizepräsident Joe Biden formuliert. In diesen Stunden und Tagen werden wir Zeugen eines solchen Prozesses.

Danach gibt es fünf Ebenen bzw. Problemkreise: Erstens die Palästinenser in Israel; zweitens die Palästinenser des Westjordanlands und des Gazastreifens; drittens Israels arabische Nachbarn – Libanon, Syrien, Jordanien, Ägypten; viertens die übrigen arabischen Staaten; fünftens die sonstige muslimische Welt.

Wohl wissend, dass 350 Millionen Araber und 1,56 Milliarden Muslime nicht direkt kontrolliert werden können, strebte die amerikanisch-israelische Allianz eine indirekte Kontrolle durch die dortigen Regierungen an, was weit von einem ernsthaften Versuch entfernt ist, die Probleme an der Wurzel zu packen. Salbungsvoll bezeichnen sie diese niedrigstufige Politik als »Friedensprozess«, obwohl es sich tatsächlich um ein hoffnungsloses Projekt handelt, mehr noch um ein kurzlebiges, instabiles Gleichgewicht.

Die Auflösung hat keinen genau zu definierenden Anfangspunkt in Raum und Zeit. Sie ist mehr ein nach und nach geschehender Prozess, dem die größten Konfliktparteien von Anfang an entgegensteuerten. Die Palästinenser in Israel akzeptierten gespalten, oft bestochen, ihre Rolle als Bürger zweiter Klasse in einem theokratischen Staat. Die Palästinenser draußen wurden geteilt, die Rivalität PLO – Hamas ist der eine Keil zwischen ihnen, die Verbindungslosigkeit zwischen Westjordanland und Gazastreifen der andere.

Doch natürlich wirken hier mindestens noch drei weitere Faktoren und nicht nur die Machenschaften der amerikanisch-israelischen Allianz.

Hier ist der erste politische Faktor: Mehrparteiendemokratie gegen Einparteiendiktatur oder die Autokratie eines Herrschers. Und zweitens: Menschenrechte versus das Zerschmettern der Freiheiten, die diese schützen. Der dritte Faktor ist ökonomischer Natur: zunehmendes Elend, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit versus gerechtes Teilen. Auf die Verknüpfung dieser drei Themen wird von den Demonstranten auf Plakaten hingewiesen: auf US-gestützte Diktaturen und Ausbeutung, auf autokratische Cliquen und sich selbst bereichernde Königshäuser. Welcher dieser drei Punkte ist wichtiger? Alle natürlich, das ist das solide Verbindungsglied zwischen den USA, dem Westen allgemein und Israel.

So entstanden die Eckpfeiler dieser Politik: London gründet ein jüdisches Heimatland – was im internationalen Recht nicht definiert ist – in Palästina. Palästina wurde geteilt und diente gemeinsam mit Jordanien als Pufferstaat, um das Öl des unter ein Mandat gestellten Irak zu schützen. Der überglorifizierte Churchill setzte Giftgas gegen die irakischen »Barbaren ein, die die Zivilisation bedrohen«, als sie für ihr Heimatland kämpften. Dem voran ging die Eigenstaatlichkeit Israels – jenes Staates, der vor einem Frieden, der seine zionistische Expansion limitieren könnte, mehr Angst hat als vor einem Expansionskrieg. – Bis die Geschichte sie einholt, wie es in diesen Wochen und Tagen der Fall ist.

Welches Szenario wird am Ende in Ägypten dominieren? Es wird wohl variieren, wahrscheinlich abhängig von der Distanz zu Israel. Eine andere Variable ist die Langlebigkeit von Autokratien. Wieder eine andere ist pure Taktik: Kann man die Zahl der Verbündeten erhöhen, indem man die USA anprangert oder indem man dieses Thema herunterspielt?

Einige US-Kommentatoren feiern die Abwesenheit des Slogans »Nieder mit dem US-Imperialismus« mancher Revolten und legen stattdessen den Fokus auf Demokratie und Menschenrechte. Vielleicht planen sie schon, wie die nächsten Wahlen mit frisch gedruckten Fort-Knox-Rechnungen manipuliert werden können. Es werden Investitionen versprochen, die dafür bekannt sind, die Reichen gegenüber den Armen zu begünstigen.

Aber jetzt lasst uns feiern. Im Großen und Ganzen enthüllen die gewaltlosen Revolten in den meisten Ländern Nordafrikas die Zerbrechlichkeit der globalen und regionalen Großmächte. Sie sind jetzt mit Momenten der Wahrheit konfrontiert, mit Wikileaks-Wahrheiten, die vor allem die Massen inspirierten und entzündeten.

US-Kommentatoren mit dem unfehlbaren Talent, die falsche Ebene der Analyse zu wählen, sprachen über die Demonstranten als jung, gebildet und arbeitslos. Reicht es also, ihnen ein Stipendium und Jobs zu bieten? Vielleicht brauchen sie einiges an Beweglichkeit, um auf den Tank von Wasserwerfern zu klettern und einiges an Ausbildung, um die massive Propaganda zu erkennen. Und vielleicht müssen sie arbeitslos sein, um ihre freie Zeit für die politische Arbeit auf der Straße zu nutzen oder keine zu Angst haben, den Job zu verlieren? Da der Ausdruck in freien Wahlen verweigert wird, sind es vielleicht die Demonstrationen, das Volk, das hier den Weg findet, Macht zurückzugewinnen.

Ich erinnere mich an ein Treffen in Kairo am 18. Dezember mit Kairoer Universitätsprofessoren, die sich mit Welttrends beschäftigen – darin eingeschlossen alles, was mit Israel und den USA zu tun hat und mit der ansteigenden Ungleichheit, die Revolten prognostiziert. Sie sagten: »Unsere Armen werden stündlich ärmer, aber die Polizei und das Militär machen Revolten unmöglich.« Ich sagte, sie könnten daran teilnehmen, selbst unterdrückt, ausgebeutet und entfremdet. Und genau das scheint passiert zu sein – nicht nur in Ägypten – nach der anfänglichen Brutalität. Ein Schock für die bislang Mächtigen, die jetzt ihr Gold für ein Oasenleben in Saudi-Arabien sammeln – um bald zu gehen.

Und die USA? Und Israel? Ein israelischer General enthüllte kürzlich Pläne, die Hamas und die Hisbollah im Gazastreifen und in Libanon zu attackieren. Aber es werden noch mehr Pläne gebraucht. Das von der Muslimbruderschaft geführte Ägypten angreifen? Vielleicht ist das sogar für Israel und die USA zu viel, angesichts dessen, da beide sehr ernsthafte politische und ökonomische Probleme haben.

Oder könnte es diesmal – oh Wunder – die Hegemonialkräfte selbst treffen? Und sie damit für einen echten Friedensprozess öffnen, der alle Betroffenen einschließt? Inshallah – so Gott will.

* Johan Galtung (81), norwegischer Soziologe, Friedens- und Konfliktforscher, 1987 Träger des Alternativen Nobelpreises.

Aus: Neues Deutschland, 8. Februar 2011



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