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Holprige Integration

Die Umstellung der Krim auf das Leben als Teil Rußlands verläuft schwieriger als erhofft

Von Reinhard Lauterbach *

Einen Monat nach dem Beitritt zur Russischen Föderation sind viele Bewohner der Krim von der neuen Realität ernüchtert. Die Umstellung vom ukrainischen auf das russische Rechtssystem ist auf dem Papier vollzogen, aber in der Realität erfolgt sie mit einigen Schwierigkeiten. Das beginnt mit der Ausstellung russischer Ausweise anstelle der bisherigen ukrainischen. Endlose Schlangen weisen den Weg zu den Ämtern, wo diese Papiere beantragt werden können. In der Verwaltungshauptstadt Simferopol ist die Schlange nach örtlichen Presseberichten 12000 Namen lang. Schon beginnen ältere Bewohner, aus sowjetischen Zeiten eingeübte Techniken des Schlangestehens wiederzubeleben und bieten ihre Dienste als Platzhalter an. Ähnlich ist es überall, wo der Staatsbürger etwas anmelden oder registrieren muß: von der Umschreibung der Führerscheine bis zur Kfz-Zulassung unter russischen Nummern, von der Krankenversicherung bis zum Bankkonto. Auf den Straßen herrscht derweil eine unausgesprochene Doppelherrschaft. Verkehrspolizisten tendieren dazu, nach wie vor Strafzettel nach ukrainischen Regeln auszustellen, denn die Schulung in der russischen Straßenverkehrsordnung, die man ihnen verpaßt, dauert gerade zwei Stunden. Juristen finden ihre in der Ukraine erworbenen Diplome entwertet und müssen nachsitzen und russisches Recht büffeln. Mancher fürchtet, daß er auf dem Arbeitsmarkt den Absolventen der russischen Hochschulen gegenüber trotzdem benachteiligt sein wird, und der eine oder andere lobt die ukrainische Verwaltung, die gern als korrupt kritisiert wurde, im Nachhinein nun als »effizient und transparent«.

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sind mit dem Beitritt zu Rußland für die Krim bisher keine goldenen Zeiten ausgebrochen. Innerhalb eines Monats sind viele Preise um bis zu 70 Prozent gestiegen, ohne daß Löhne und Renten entsprechend angehoben worden wären. Das betrifft viele gewöhnliche Lebensmittel, die nicht mehr wie früher aus der relativ nahe gelegenen Ukraine importiert werden können, sondern aus Rußland herangeschafft werden müssen. Das bedeutet längere Wege, wenn sie aus dem zentralen Landesteil kommen, oder mindestens einen teuren Fährtransport, wenn es um Gemüse aus dem Nordkaukasus geht. Die eigene Landwirtschaft auf der Krim steht vor einer schwierigen Saison, weil die Ukraine seit der Abtrennung die Trinkwasserlieferungen reduziert hat. So können viele Felder nicht mehr bewässert werden, was für den Sommer weitere Engpässe erwarten läßt. Profitiert vom Seitenwechsel der Krim haben dagegen manche Grundstückseigentümer. Seit den ersten Apriltagen fliegen nämlich wohlhabende Russen ein, um sich im »Beitrittsgebiet« ein Grundstück mit Schwarzmeerblick zu sichern. Die Grundstückspreise an der Küste sind in wenigen Wochen um fast 100 Prozent gestiegen.

Die politische Hauptsorge der russischen Verwaltung der Krim gilt derzeit offenbar der Loyalität der Krimtataren. Sie machen etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus und waren in der Vergangenheit meist antirussisch und proukrainisch orientiert. Mit einem Paket von Sozialmaßnahmen und der Aufwertung des Krimtatarischen zur dritten Amtssprache neben Russisch und Ukrainisch kommt ihnen die neue Staatsmacht entgegen. In der vergangenen Woche rehabilitierte Wladimir Putin überdies mit einem Dekret das krimtatarische Volk. Rußland erkannte damit die Zwangsaussiedlung der Tataren 1944 wegen des Vorwurfs der Kollaboration mit den Deutschen als Unrecht an – obwohl diese Unterstützung der Invasoren historisch gesehen durchaus ein Massenphänomen war.

Vor diesem Hintergrund deutet sich in der politischen Führung der Krimtataren eine Spaltung an. Während die Krim-Behörden dem im Kiewer Parlament sitzenden ehemaligen antisowjetischen »Dissidenten« Mustafa Dschemiljew die Rückkehr auf die Krim verweigert haben, hat sein Mitstreiter Refat Tschubarow jetzt erklärt, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er wolle bei seinem Volk auf dessen heimatlicher Erde bleiben, erklärte der Politiker. So beginnen neue Karrieren.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 24. April 2014


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