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Stabwechsel im Kreml

Putin übergibt die Präsidentschaft an Medwedjew - Bleibt alles beim alten?



Die Zeit der "doppelten" Präsidentschaft ist vorbei

Zwei Monate lagen zwischen der Wahl und der Amtsübernahme Dmitri Medwedjews

Von Dr. Igor Maximytschew, Europa-Institut Moskau *

Die prachtvolle Zeremonie der Amtseinführung Dmitri Medwedjews am heutigen 7. Mai signalisiert das Ende einer Periode, die ein absolutes Novum in der tausendjährigen Geschichte Russlands war.

Ein gewähltes Staatsoberhaupt, das zwei Monate lang noch nicht regiert, und ein Staatsoberhaupt, das eigentlich kein Staatsoberhaupt mehr ist, aber seine sämtlichen riesigen Vollmachten behält -- eine derartige Situation erlebte Russland zum ersten Mal. Die »Jelzin-Verfassung«, nach der Russland heute lebt, sah so etwas nicht vor. Boris Jelzin selbst war wegen seiner zahlreichen Gebrechen zurückgetreten, als er Putin mit Beginn des Jahres 2000 zum amtierenden Präsidenten ernannte. Das war übrigens durchaus verfassungskonform, da Putin als Premier auf Platz zwei der offiziellen Staatshierarchie rangierte.

Putin bahnte seinem Nachfolger den Weg

Dmitri Medwedjew behielt nach seiner Wahl zum Präsidenten am 2. März die Funktion des Ersten Vizepremiers, verantwortlich für soziale Projekte. Er hatte in dieser Position formell keinerlei Vorrechte im Vergleich zu anderen Kabinettsmigliedern, die am heutigen 7. Mai geschlossen zurücktreten. Am gleichen Tag wird Medwedjew zum vollwertigen Staatspräsidenten und zum Regierungsmitglied außer Dienst. Die Schule der modernen Demokratie, die Russland durchmacht, schließt solche bizarren Entwicklungen ein. Dass dabei keine größeren Komplikationen entstanden sind, was allgemein befürchtet (wenn nicht gar herbeigesehnt) wurde, zeugt von der Reife der russischen politischen Klasse. Nicht jedes Land, auch wenn es das Siegel der westlichen Demokratie trägt, kann sich eines so reibungslosen und anständigen Übergangs von einer Präsidentschaft zur anderen rühmen.

Es wäre kurzsichtig anzunehmen, dass die Periode nach der Wahl des neuen Staatsoberhaupts eine verlorene Zeit war. Beide Präsidenten -- der amtierende wie der gewählte -- nutzten sie energisch. Wladimir Putin unternahm größte Anstrengungen, einen möglichst glatten Einzug seines Nachfolgers in die große Weltpolitik vorzubereiten. Er fuhr persönlich zum Russland-NATO-Gipfel nach Bukarest, obwohl ihm das sicherlich nicht leicht fiel. Das Verhältnis Russlands zu den USA samt der NATO erinnert mit jedem Jahr deutlicher an den Versuch eines Dialogs mit dem tauben Lokführer eines rasenden Zuges, der sich immer schneller auf ein unklares Ziel zubewegt. Viele Insassen dieses Zuges sehen ein, dass es höchste Zeit wäre, auf die Bremse zu treten; nur wenige aber wagen, davon zu sprechen, und sei es mit halblauter Stimme. Die diensteifrigen Heizer schaufeln derweil immer mehr Kohle in die Feuerung, die Geschwindigkeit gewinnt kosmische Ausmaße, und der Zug dröhnt weiter auf seinem Weg, bis eine Entgleisung unvermeidlich werden könnte.

Kapitulationspolitik wird nicht neu belebt

Wenn Putin feststellte »Russland hat sich Gehör verschafft«, bedeutet dies, dass die Beziehungen zwischen der NATO und ihrer führenden Macht auf der einen und Russland unter Medwedjew auf der anderen Seite mit einem neuen Blatt beginnen könnten, vorausgesetzt, dass die Allianz den russischen Interessen tatsächlich Rechnung trägt. Westliche Wirtschaftskapitäne sorgen sich heute nicht um Risiken ihrer Präsenz in Russland, sondern um Risiken ihrer Abwesenheit vom russischen Markt. Vor Medwedjew steht eine ungeheuer wichtige globale Aufgabe: eine wie auch immer geartete Wiederauflage des Kalten Krieges zu vermeiden, der heute absolut sinnlos wäre, da Russland im Gegensatz zur Sowjetunion keine Ideologie verkündet, die den westlichen Werten widerspräche.

Gleichzeitig hat man in Moskau die Erfahrung machen müssen, dass in den internationalen Beziehungen nicht Absichtserklärungen zählen, die später so leicht vergessen oder verworfen werden, sondern nur reale Handlungskapazitäten. Denn früher oder später stoßen solche Kapazitäten das Tor zur praktischen Politik auf. Die Interessen beider Seiten müssen berücksichtigt werden, will man ein dauerhaftes, stabiles und gerechtes Gebäude für die Sicherheit der Welt schaffen, die immer komplizierter und gefährlicher wird. Der Ruf eines Liberalen wird das neue Staatsoberhaupt Russlands jedenfalls nicht dazu verleiten, die Kapitulationspolitik russischer Regierungen der 90er Jahre neu zu beleben.

Medwedjew hat sich zwischenzeitlich persönlich mit mehreren führenden Politikern des Auslandes bekannt gemacht, was für ihn von hoher Bedeutung ist, da ab jetzt die Außenpolitik zu seinen Pflichten gehört. Die Tatsache, dass die deutsche Bundeskanzlerin als erste unter diesen ausländischen Repräsentanten war, hat besonderes Gewicht. Der Blitzbesuch Angela Merkels am 8. März, als Russland den Internationalen Frauentag feierte, zeigte unverkennbar, dass Deutschland gewillt ist, seine Vorzugspartnerschaft mit Russland auch unter dem neuen Präsidenten auszubauen. Möglichkeiten sind in allen Bereichen vorhanden; es gilt sie umzusetzen. Versuche, den Personalwechsel in der russischen Führung zu nutzen, um eine neue Serie einseitiger Zugeständnisse Russlands durchzudrücken, würden fehlschlagen.

Ohne Russland keine »globale Gesundheit«

Der neue Präsident bringt eine Fülle guter Voraussetzungen für die erfolgreiche Ausübung seines schwierigen Staatsamtes mit. Er verkörpert den vielgepriesenen Generationswechsel und weist jugendlichen Elan, Optimismus, Ideenreichtum, eine glänzende juristische Ausbildung und die Verankerung im postkommunistischen Russland vor. Man kann hoffen, dass es für ihn leichter ist als für seinen Vorgänger, Kontakt zu den Kollegen in der Welt aufzunehmen, denn das heutige Russland hat sich bereits als unverzichtbar für die »globale Gesundheit« behauptet. Medwedjew wird dabei auf eine breite Unterstüzung zu Hause rechnen können: Die größte und wählerstärkste Partei und die von ihr getragene Regierung unter der Führung des populärsten Politikers des Landes stehen fest hinter ihm. Diese Konstellation verleiht der Stellung Russlands in der Weltpolitik Kontinuität, Berechenbarkeit, Kongruenz und Verlässlichkeit.

Wladimir Putin bleibt vorerst in der russischen Politik. Er hat die komplizierte und zugleich risikoreiche Aufgabe übernommen, das »Russische Haus« in Ordnung zu halten und den begonnenen wirtschaftlichen Aufstieg zu sichern. In der ersten Zeit könnte Putin auch eine Art »älteren Bruder« spielen, der ins politische Geschehen schützend eingreift, wenn Bösewichte von außen oder von innen versuchen, wirklichen Ärger zu stiften.

Der Staatspräsident ist nun aber Dmitri Medwedjew. Ab heute ist er Russland. Sein Erfolg wäre ein Erfolg für alle -- für die Russen, für Europa, für die Welt.

Hintergrund - Staatsoberhaupt und Regierungschef

In der Russischen Föderation bestimmt der Präsident als Staatsoberhaupt »die grundlegende Richtung der staatlichen Innen- und Außenpolitik«. Er ernennt den Ministerpräsidenten als Regierungschef, der von der Staatsduma bestätigt werden muss. Der Präsident hat das Recht, die Regierung zu entlassen und die Duma aufzulösen.

Während das Staatsoberhaupt im Kreml residiert, hat der Regierungschef seinen Amtssitz im 2,5 Kilometer entfernten »Weißen Haus« am Ufer der Moskwa. Er legt im Einklang mit Gesetzen und Präsidialerlassen die Ziele der Regierungstätigkeit fest und organisiert ihre Umsetzung.

Erwartet wird, dass sich mit dem Umzug Wladimir Putins aus dem Kreml ins »Weiße Haus« auch die Machtverhältnisse verschieben. Putin wird nicht nur die Regierung führen, sondern auch die Partei »Einiges Russland«, die eine Zweidrittelmehrheit in der Duma hat. Der Posten des Regierungschefs könnte daher an Gewicht gewinnen. Als Aufgaben für sich nannte Putin Budgetplanung, Finanz- und Sozialpolitik, Gesundheitswesen, Kultur, Wissenschaft und Bildung sowie Umweltfragen. Auch die »Sicherstellung der Wehrfähigkeit« und die Außenhandelspolitik zählten dazu.

Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew versprechen eine reibungslose Zusammenarbeit an der Staatsspitze. Beide haben betont, dass der Präsident alle zentralen Vollmachten besitzt. Er hat den Oberbefehl über die Streitkräfte inklusive der Atomwaffen. Im Krisenfall kann er den Ausnahmezustand verhängen. Die Militär- und Sicherheitsorgane berichten bisher direkt dem Präsidenten. Das ist aber in der Verfassung so nicht festgeschrieben und ließe sich ohne größeren Aufwand ändern. Tritt der Präsident zurück, führt laut Verfassung der Regierungschef die Amtsgeschäfte des Staatsoberhaupts, allerdings mit eingeschränkten Befugnissen. Er würde dann den Termin für die Neuwahl des Präsidenten festsetzen. dpa/ND



* Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2008


Die vier großen »I« des Dmitri Medwedjew

Ein neuer Kremlchef im langen Schatten seines Vorgängers

Von Irina Wolkowa, Moskau **


»Ganz konkret: Wo gibt es Problemel, und mit wem? Die Namen bitte! Raus mit der Sprache, wir sehen uns schließlich nicht jeden Tag!« Ungeduldig fährt Dmitri Medwedjew Wladislaw Sacharewitsch, dem Rektor der Südrussischen Universität in Pjatigorsk, in die Parade. Und die gedrechselte Begrüßungsansprache, auf die das altgediente Schlachtross der Wissenschaftsbürokratie so viel Zeit und Gehirnschmalz verwendet hat, ist schon nach dem dritten Absatz Makulatur.

Dieser Medwedjew, der heute sein Amt als Präsident antritt, werde Russland wie einen Konzern führen, vermuten Beamte und furchen sorgenvoll die Stirn. Mit Kriterien wie Effizienz und Gewinnmaximierung. Medwedjew stand knapp sechs Jahre an der Spitze des Gazprom-Aufsichtsrates und machte aus dem verschlafenen Monster eine stets sprungbereite Raubkatze. Der Russland AG steht eine derartige Rosskur über weite Strecken noch bevor.

Dynamik oder nur Aktionismus?

Ob Medwedjew der rechte Mann dafür ist, bleibt abzuwarten. Die linke Opposition tut seinen dynamischen Führungsstil als bloßen Aktionismus ab, bei dem die Bewegung alles und das Ziel nichts ist. Auch die »Demokraten« trauen dem Neuen bestenfalls kosmetische Korrekturen zu: Bei Versuchen, den russischen Augiasstall auszumisten, seien schon Persönlichkeiten anderen Kalibers gescheitert, politische Schwergewichte mit Visionen wie Michail Gorbatschow. Selbst Wladimir Putin, den Russlands Verfassung mit ähnlicher Machtfülle ausstattete, wie sie Peter I. und Katharina II. besaßen, musste sich wie diese mit Teilerfolgen bescheiden.

Er hinterlässt seinem Nachfolger zwar einen wieder erstarkten, relativ stabilen Staat, der hohe wirtschaftliche Zuwachsraten schreibt und die schlimmste Armut beseitigt hat. Zwischen 1999 und 2007 stieg der durchschnittliche Monatslohn umgerechnet von unter 100 auf rund 600 Dollar. Gleichzeitig aber reicht Putin an den neuen Kremlchef jenen Wust von Problemen weiter, die ihm schon sein eigener Vorgänger hinterließ: Korruption, Kriminalität, Kaukasus.

Nicht nur den drei »K«, auch allen anderen Übeln will Medwedjew mit seinen vier »I« beikommen: Institutionen, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen. Bei Worthülsen wie diesen zogen russische Bürgerbewegte mit Blick auf China sogleich Schlussfolgerungen für Russlands künftiges Staatsmodell -- maximale Liberalisierung der Wirtschaft wie im Reich der Mitte und ein Minimum an politischen Freiheiten.

Kein Balsam für die russische Seele

Die Presse war dennoch entzückt: endlich eine richtungweisende Erklärung! Ein Satz, der hängen bleibt und Ergebnis einer eigenen gedanklichen Wertschöpfungskette ist. Denn gewöhnlich bewegt sich der neue Präsident im Fahrwasser seines Vorgängers. Allerdings nur dem Inhalt nach, nicht der Form. Sottisen oder gar der Slang der Gosse, mit denen Putin gern beim Volk punktete, sind von Medwedjew nicht zu erwarten. Der Spross einer alten Petersburger Gelehrtenfamilie formuliert druckreif, aber emotionslos. Er spricht den Verstand an, nicht die russische Seele, die mit abstrakten Kategorien wenig anfangen kann.

Als Medwedjew im Wahlkampf vor Gleisbauarbeitern im sibirischen Krasnojarsk gegen den Rechtsnihilismus zu Felde zog, rührte sich keine Hand zum Beifall. Auch dann nicht, als er erklärte, was gemeint war: Nichtachtung von Gesetzen und Gerichtsurteilen. Zurückhaltend reagieren die meisten auch dann, wenn Medwedjew im Stil westlicher Politiker den Kontakt von Mensch zu Mensch sucht. Iwan Normalverbraucher will keinen Herrscher zum Anfassen, sondern einen gestrengen, einen wie Putin. Anforderungen, die Medwedjew nicht bedienen kann. Selbst wenn er will, wie bei seinem ersten Fernsehauftritt als Präsidentschaftskandidat, bei dem er Putin kopierte, Tonfall, Gestik Mimik. Es war ein PR-Desaster voll unfreiwilliger Komik.

Mit 43 nur ein gutes Jahrzehnt jünger als Putin, ist Medwedjew eher in der Generation der Mittdreißiger sozialisiert und teilt deren Vorlieben: Infotainment und Internet, Wellness und gesunde Ernährung. Polittechnologen und Imageberater haben sich daher offenbar darauf verständigt, ihn dann doch lieber als Kopie des frühen Tony Blair und Archetyp des netten Schwiegersohns zu verkaufen -- gut erzogen, gut aussehend, gut angezogen, gut gelaunt. Auf Dima, wie jüngere Russen gerufen werden, die Dmitri heißen, fahren daher vor allem ältere Damen ab. Jüngere stehen auf Wladimir, kurz Wowa. »Wowa, ich halte zu dir«, steht auf T-Shirts, Baseball-Kappen und sogar auf Designer-Damenslips, der Hit der Saison und in Moskauer Wäscheboutiquen bereits vergriffen. Ähnlich reißenden Absatz findet auch die Wodka-Marke »Putinka«.

Ein Mandat für die Kontinuität

Für »Medwedjewka« dagegen können sich die Schnapsfabrikanten bisher nicht erwärmen »Zu lang und spricht sich schlecht«, meint der Marketing-Experte beim Branchenprimus »Kristall« und lächelt. »Flops können wir uns nicht leisten. Wir haben schließlich Marktwirtschaft.« Bei Dima-Devotionalien tendiert die Nachfrage in der Tat gegen Null. Denn im heutigen Russland gilt mitnichten, dass Thronfolger populärer als regierende Monarchen sind, weil sie als Projektionsfläche für Sehnsüchte, Träume und Hoffnungen dienen. Bei Putin und Medwedjew ist es genau umgekehrt. Denn die über 70 Prozent der Stimmen, die Medwedjew bei den Wahlen im 2. März erhielt, sind kein Mandat für einen Kurswechsel, sondern für Kontinuität. Bang fragt sich daher die Nation, wie und ob der neue Mann auf der Kommandobrücke des Staatsschiffs mit der Bürde seines Amtes zurechtkommt.

Russland, darin sind sich die Experten einig, wird der Wind künftig rauer ins Gesicht blasen, wirtschaftlich und politisch. Doch Entscheidungen von strategischer Tragweite, die in das Schicksal von Millionen eingreifen, wurden Medwedjew bisher nicht abverlangt. Stets segelte er im Windschatten Putins. Als dieser vor 17 Jahren in St. Petersburg Vizebürgermeister wurde, stand ihm Medwedjew -- damals erst 25, aber bereits promoviert -- als Rechtsberater zur Seite. Beide blieben in Kontakt, als Putin 1996 nach Moskau ging und Boris Jelzin ihn im August 1999 als Überraschungskandidaten für den Präsidentenposten präsentierte. Medwedjew leitete Putins Wahlkampfstab, ab Oktober 2003 dann das Präsidentenamt. Zum Vizechef der Kreml-Administration hatte ihn Putin gleich nach Jelzins Rücktritt zu Silvester 1999 ernannt. Im Herbst 2005 wurde Medwedjew schließlich Erster Vizepremier, so wie kurz darauf auch Verteidigungsminister Sergej Iwanow.

Beide gelten als Repräsentanten rivalisierender Flügel in Putins Umgebung. Hinter Iwanow stehen die »Silowiki«, die ehemaligen Tschekisten, hinter Medwedjew die sogenannten Liberalen. Das sind Kategorien, die vor allem der Westen strapaziert, um eine Schneise in den politischen Begriffsdschungel zu schlagen, den rivalisierende Gruppierungen zur Tarnung über der eigentlichen Frontlinie wuchern lassen: Es geht um die Gewinnabschöpfung bei staatsnahen Konzernen. Die Silowiki kassieren beim Ölgiganten Rosneft, die Liberalen bei Gazprom. Dessen Aktionäre hatten Medwedjew 2002 zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt, auf Vorschlag Putins, der im Dezember vergangenen Jahres auch Medwedjews Präsidentschaftskandidatur unterstützte. Damit zwang er den Rivalen einen Waffenstillstand auf, einen zeitlich begrenzten allerdings, der zudem nur mit ihm als Garant funktioniert.

»Gazprom sei mit euch«

Diese Konstellation, glauben viele, setze Medwedjews Spielraum enge Grenzen und lasse die reale Macht bei Putin. Hoffnungen auf politische Liberalisierung seien daher, zumindest in der ersten Hälfte von Medwedjews Amtszeit, unrealistisch. Andererseits, meint Lilija Schewzowa, die Galionsfigur der Moskauer Carnegie-Stiftung, könnten Führungspersönlichkeiten über sich hinauswachsen, wenn die Umstände sie dazu zwingen. So habe ein Adolfo Suarez nach der Franco-Diktatur auf Druck der spanischen Gesellschaft Reformen initiiert, die Maßstäbe für demokratische Veränderungen in anderen Übergangsgesellschaften setzten. Nur fehle dieser Druck in Russland und Medwedjew zudem die Hausmacht, um weit reichende Veränderungen durchzusetzen. Ganz abgesehen von der Idee, die laut Marx nur dann zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. »Liberale« Ideen sind durch das Chaos der Jelzin-Ära diskreditiert und daher nicht mehrheitsfähig.

Medwedjews Gestaltungswille wird sich daher wohl zunächst vor allem auf Nebenkriegsschauplätze richten. Ein Dilemma, dessen er sich offenbar bewusst ist. Demütiger als Putin und sehr viel tiefer beugte er sich vor Alexi II., dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland, als dieser zum diesjährigen orthodoxen Osterfest beiden Politikern und ihren Gattinnen den Segen erteilte: »Gott sei mit euch.« Atheisten wollen es übrigens anders gehört haben: »Gazprom sei mit euch.«

* Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2008

Daten aus der achtjährigen Amtszeit Wladimir Putins

Einer Untersuchung des Moskauer Fonds für Öffentliche Meinung (FOM) zufolge sind 78 Prozent der Russen mit der achtjährigen Präsidentschaft Wladimir Putins zufrieden. Nur 8 Prozent von 1500 Befragten äußerten sich ablehnend gegenüber dem scheidenden Kremlchef.
  • 31. Dezember 1999: Präsident Boris Jelzin tritt vorzeitig zurück und benennt den 47-jährigen Wladimir Putin – erst knapp fünf Monate Ministerpräsident – als amtierendes Staatsoberhaupt. Putin sichert seinem Vorgänger Straffreiheit zu und fliegt noch in der Silvesternacht zum Truppenbesuch nach Tschetschenien. Dessen Separatisten hatte er gedroht, sie »bis auf den Abort« zu verfolgen, um sie dort »einzuweichen«.
  • 26. März 2000: Putin gewinnt die Präsidentenwahl mit 52,9 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang.
  • 7. Mai 2000: Offizielle Amtseinführung Putins. Als Ministerpräsidenten ernennt er den amtierenden Premier Michail Kasjanow, dem enge Beziehungen zu Oligarchen der Jelzin-Zeit nachgesagt werden. Zur besseren Kontrolle selbstherrlicher Provinzfürsten dekretiert Putin die Bildung von sieben Föderalen Bezirken, denen jeweils ein Präsidentenvertreter vorgesetzt wird. Die Provinzchefs verlieren überdies ihren Sitz im Föderationsrat (Oberhaus).
  • 12. August 2000: Der Untergang des Atom-U-Bootes »Kursk«, der nach vergeblichen Rettungsversuchen alle 118 Besatzungsmitglieder das Leben kostet, trifft Putin im Urlaub. Sein Verhalten bringt ihm den Vorwurf schlechten Krisenmanagements ein.
  • Dezember 2000: Putin entscheidet den Streit um Russlands Nationalhymne zu Gunsten der alten sowjetischen Hymne mit neuem Text.
  • 14. April 2001: Der halbstaatliche Konzern Gazprom übernimmt den kritischen privaten Fernsehsender NTW, dessen Gründer Wladimir Gussinski sich nach Betrugsvorwürfen ins Ausland abgesetzt hat. Im Oktober flüchtet der Oligarch Boris Beresowski, auch im Mediengeschäft tätig, ins Londoner Exil.
  • 11. September 2001: Nach den al-Qaida-Anschlägen in den USA stimmt Putin der Nutzung zentralasiatischer Militärbasen durch die US-Armee zu. Im »Krieg gegen den Terrorismus« wird die westliche Kritik an Russlands Tschetschenien-Politik leiser.
  • 26. Oktober 2002: Die gewaltsame Befreiung von rund 800 Menschen, die von einem tschetschenischen Kommando im Moskauer Dubrowka-Theater festgehalten werden, kostet 129 Geiseln das Leben. Die Terroristen werden erschossen.
  • Frühjahr 2003: Putin, Schröder und Chirac wenden sich gegen den Irakkrieg der USA. Das Trio begrüßt den Sturz Saddam Husseins, verurteilt jedoch Gewalt als das falsche Mittel.
  • 25. Oktober 2003: Der politisch engagierte Öl-Magnat Michail Chodorkowski wird unter dem Vorwurf der Steuerhinterziehung festgenommen und 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt. Sein Konzern Jukos wird zerschlagen, der Staat sichert sich den Zugriff auf Öl und Gas.
  • 24. Februar 2004: Putin entlässt die Regierung Kasjanow. Neuer Premier wird Russlands Botschafter bei der EU, Michail Fradkow.
  • 14. März 2004: Putin wird ohne ernsthafte Konkurrenz mit 71,2 Prozent der Stimmen im Präsidentenamt bestätigt.
  • 1. September 2004: Geiselnahme in einer Schule des nordossetischen Beslan. Die Befreiung endet mit dem Tod von über 330 Zivilisten, darunter 186 Kinder.
  • 13. September 2004: Putin legt einen Plan vor, wonach die zuvor direkt gewählten Gouverneure der Regionen künftig vom Präsidenten vorgeschlagen und von den Regionalparlamenten lediglich bestätigt werden.
  • 18. November 2004: Russland ratifiziert das Klimaschutzprotokoll von Kyoto, das damit Anfang 2005 in Kraft treten kann.
  • 26. Dezember 2004: Der Sieg des prowestlichen Viktor Juschtschenko bei umstrittenen Präsidentenwahlen in der Ukraine bedeutet eine Niederlage für Putin, der auf Viktor Janukowitsch gesetzt hatte.
  • 8. März 2005: Aslan Maschadow, formeller Führer der tschetschenischen Rebellen, wird bei einer Sonderaktion nahe Grosny getötet. Schamil Bassajew, den Organisator zahlreicher Terroranschläge, trifft es am 10. Juli 2006.
  • 25. April 2005: Putin nennt den Zerfall der Sowjetunion vor der Duma »die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts«.
  • 1. Januar 2006: Russland übernimmt erstmals den Vorsitz der Gruppe der Acht (G8) und richtet im Juli in Petersburg deren Gipfel aus.
  • 10. Februar 2007: In München kritisiert Putin das Streben der USA nach einer »unipolaren Welt« und die Pläne zur Errichtung eines neuen Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen. Auf seine Initiative setzt Russland am 12. Dezember 2007 die Anwendung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte und Rüstungen in Europa (KSE) aus.
  • 14. September 2007: Nach dem Rücktritt der Regierung Fradkow wird Viktor Subkow zum Ministerpräsidenten ernannt.
  • 2. Dezember 2007: Die Partei »Einiges Russland«, deren Spitzenkandidat Putin ist, erringt bei Dumawahlen mehr als zwei Drittel der Sitze.
  • 10. Dezember 2007: Mit Spannung erwartet, präsentiert Putin den Ersten Vizepremier Dmitri Medwedjew als Wunschnachfolger. Der revanchiert sich, indem er Putin das Amt des Ministerpräsidenten anträgt.
  • 14. Februar 2008: Auf seiner Abschiedspressekonferenz erklärt Putin, er habe »alle gesetzten Ziele erreicht«. Russland werde nie in eine Konfrontation mit anderen Ländern abgleiten, doch es werde seine Interessen in der Weltarena entschieden behaupten.
  • 2. März 2008: Dmitri Medwedjew gewinnt die Präsidentenwahl mit 70,2 Prozent der Stimmen.
  • 15. April 2008: »Einiges Russland« wählt Putin, der nicht Parteimitglied ist, für vier Jahre zum Vorsitzenden.
ND/-ries




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