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Medwedjew lässt Vorwürfe prüfen

Kommunisten bereiten "Schwarzbuch" zu den Dumawahlen vor

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Angesichts der Massenproteste vom Wochenende hat Russlands Präsident Dmitri Medwedjew eine Prüfung der Betrugsvorwürfe nach der Parlamentswahl zugesagt. Allerdings, so erklärte ein Sprecher von Regierungschef Wladimir Putin am Montag, stellten die Klagen »in keiner Weise« die Rechtmäßigkeit der Wahl oder das Gesamtergebnis in Frage.

Valentina Tereschkowa war aufgeregt wie bei ihrem Weltraumflug 1963, als sie den Abgeordnetenausweis entgegennahm. Das jedenfalls behauptete die heute 74-Jährige, die für die Gesamtrussische Volksfront - von Wladimir Putin im Mai gegründet - bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember auf der Liste der Regierungspartei Einiges kandidiert hatte.

Die neue Duma soll trotz der Massenproteste gegen Manipulationen des Wahlergebnisses bereits am 21. Dezember zusammentreten, meldete das russische Fernsehen RTR in seinem politischen Wochenrückblick am Sonntagabend. Proteste der außerparlamentarischen Opposition hatten auf dem Sender seit Jahren keine Rolle mehr gespielt, Sonntagabend wurden sie in einer fünfminütigen Reportage gewürdigt, die Kommentare waren neutral.

Präsident Dmitri Medwedjew hatte zuvor per Facebook verkündet, er stimme weder mit den Wahlfälschungsvorwürfen noch mit den Forderungen der Protestierenden - darunter Neuwahlen und Zulassung aller Oppositionsparteien - überein. Dennoch habe er die stichprobenartige Überprüfung der Ergebnisse angeordnet. Am Montag wurde bekannt, dass die Ermittlungsbehörde bei der Generalstaatsanwaltschaft mit der Prüfung von 35 Beschwerden über Unregelmäßigkeiten begonnen habe, die der Beirat für Menschenrechte und Zivilgesellschaft beim Präsidenten einreichte. Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow wandte indes ein, selbst wenn alle »angeblichen« Behauptungen über Manipulationen zusammengerechnet und vor Gericht bewiesen würden, seien insgesamt nur rund 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen betroffen.

Die außerparlamentarische Opposition, die für den 24. Dezember mit neuen Massenprotesten gedroht hat, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden, will die Gerichte jedenfalls mit Klagen wegen Wahlfälschung überziehen. Klagen hat auch die KPRF angekündigt. Deren Vertreter in der Zentralen Wahlkommission wollten zudem über die Absetzung von Wahlleiter Wladimir Tschurow abstimmen lassen, blieben mit dieser Forderung jedoch allein.

Das KPRF-Präsidium hatte in einer Erklärung die Dumawahlen als »unehrlich, unfrei und illegitim« bezeichnet. Sie will alle Wahlrechtsverstöße - von der Behinderung ihrer Wahlbeobachter bis zur Fälschung von Protokollen - in einem »Schwarzbuch« öffentlich machen. In allen Regionen und Orten, wo grobe Verstöße gegen die Wahlgesetzgebung festgestellt wurden, müssten die Ergebnisse korrigiert und die Verantwortlichen bestraft werden. Zur Forderung, alle gewählten Oppositionsabgeordneten sollten ihre Mandate aus Protest niederlegen, um Neuwahlen zu erzwingen, hatte Andrej Klytschkow, Vorsitzender der KPRF-Fraktion in der Moskauer Stadtduma, bei der Großkundgebung am Sonnabend gesagt, die Kommunisten klebten nicht an ihren Sitzen, doch zuerst müssten diejenigen Abgeordneten von Einiges Russland zurücktreten, die für die Fälschung von Wahlergebnissen verantwortlich seien.

In ihrer Erklärung wandte sich die KPRF zugleich gegen Versuche »NATO-freundlicher ultraliberaler Kräfte«, die den Protest des Volkes ausnutzen wollten, um das Land in einen »orange« Aufstand und ins Chaos zu stürzen. Parteivize Iwan Melnikow verwahrte sich überdies gegen Sympathiebekundungen des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili und »seiner Abgötter in der USA-Regierung« für die russischen Demonstranten. Deren Proteste seien eine innere Angelegenheit Russlands. Für den 18. Dezember ruft KPRF zu einer weiteren Demonstration im ganzen Land auf. In Moskau will man vom Puschkin- zum Lubjanka-Platz marschieren.

Einiges Russland rüstet sich unterdes zum Gegenschlag. In Moskau und anderen Städten fanden am Montag Kundgebungen staatsnaher Jugendorganisationen mit Tausenden Teilnehmern zur Unterstützung der Partei Putins und Medwedjews statt. Der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin will eine neue neoliberale Partei gründen und damit den Protesten das Wasser abgraben, wie Beobachter glauben. Zwar hatte Kudrin im Herbst Medwedjews Wirtschaftskurs scharf kritisiert und war vom Präsidenten zum Rücktritt gezwungen worden. Er gilt jedoch weiter als loyal und einflussreich, wiewohl er jetzt erklärte, er stimme mit Putin nicht in jedem Fall überein.

Valeri Sorkin, Präsident des Verfassungsgerichts, der in dieser Eigenschaft schon beim Konflikt zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Parlament im Herbst 1993 zu vermitteln versuchte, weil er einen Bürgerkrieg befürchtete, sieht auf Russland erneut ähnliche Gefahren zukommen. In einem Artikel für die regierungsnahe »Rossijskaja Gaseta« rief er die Opposition und das Regierungslager zu Mäßigung und Gesetzestreue auf, ohne die Demokratie nicht möglich sei. Dieses Wort sei in Russland leider negativ vorbelastet, und das müsse sich ändern.

* Aus: neues deutschland, 13. Dezember 2011


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