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Ein Dämpfer für Putins Einheitsrussen

Präsident und Spitzenkandidat Dmitri Medwedjew spricht von einem ehrlichen Ergebnis, die gestärkte Opposition aber beklagt Wahlbetrug

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Das Ergebnis der Parlamentswahlen in Russland befriedigt weder die Sieger noch die Unterlegenen: Die Regierungspartei Einiges Russland musste herbe Verluste hinnehmen, andere Parteien klagen über die Verfälschung des Wählerwillens.

Nach Auszählung von 96 Prozent aller Stimmen, die am Sonntag (4. Dez.) bei den Parlamentswahlen in Russland abgegeben wurden, verfehlte die Regierungspartei Einiges Russland die absolute Mehrheit der Stimmen zwar knapp, doch da drei Parteien an der Sieben-Prozent-Hürde scheiterten, behauptete die Einheitsrussen die Mehrheit der Sitze in der Staatsduma. Sie werden 238 der insgesamt 450 Abgeordneten stellen. So verkündete es Wahlleiter Wladimir Tschurow am Montagvormittag auf einer Pressekonferenz in Moskau.

Die Kommunistische Partei (KPRF) dagegen konnte ihr Ergebnis offiziell fast verdoppeln und stellt statt 57 künftig 92 Abgeordnete, das sozialdemokratische Gerechte Russland kam auf 64 und die ultranationale Liberaldemokratische Partei auf 56 Sitze.

Die Wahlbeteiligung - stimmberechtigt waren rund 110 Millionen - lag nach Worten Tschurows bei 60,2 Prozent. Das entspricht in etwa der Beteiligung bei den Wahlen 2007.

Damals war der Regierungspartei mit 315 Sitzen eine satte Zweidrittelmehrheit in der Duma zugesprochen worden, die problemlos jede Vorlage aus dem Präsidialamt und der Regierung durchwinkte. Experten - staatsnahe wie kritische - erklären den Absturz vor allem damit, dass die »Partei der Macht« diesmal keine neuen Ideen vorlegte und lediglich auf Verteidigung des bisher Erreichten setzte - auf Stabilität, die in Stagnation umzuschlagen droht, wie sogar Spitzenkandidat und Noch-Präsident Dmitri Medwedjew bereits im Herbst warnte. Auch der von Medwedjew und Ministerpräsident Wladimir Putin geplante Ämtertausch könnte die Sympathiewerte der Kremlpartei gedrückt haben.

Zwar trösteten sich die beiden Spitzenpolitiker über die Verluste ihrer Hausmacht damit hinweg, dass Einiges Russland die stärkste politische Kraft bleibt. Das Wahlergebnis, so Putin, sei ein Mandat, den bisherigen Kurs fortzusetzen. Zuvor schon hatte Medwedjew erklärt, das Resultat einer »ehrlichen, gerechten und demokratischen Wahl« reflektiere die reale Kräfteverteilung und stärke daher die Demokratie. Gleichzeitig rief er die Partei auf, interne Kontroversen zurückzustellen. Auch weil sie in der neuen Duma - zumindest bei strategischen Entscheidungen, die nur mit Zweidrittelmehrheit passieren können - mit anderen kooperieren müsse. Eine förmliche Koalition wird Einiges Russland freilich weder eingehen müssen noch wollen. Zumal sich dadurch der Absturz der Partei beschleunigen könnte, der auch die Führer nicht unbeschädigt ließe. Vor allem Medwedjew, der nach der Präsidentenwahl im März nicht nur Regierungschef, sondern offenbar auch neuer Parteichef werden soll.

Rauft sich die Opposition in der Duma zu geballtem Widerstand zusammen, was allerdings am Opportunismus ihrer Führer scheitern könnte, sind auch dem Gestaltungswillen Putins, der im kommenden März auf den Präsidentensessel zurückkehren will, Grenzen gesetzt. Mehr noch: Das Wahlergebnis, glaubt Boris Nemzow, einer der Frontmänner der radikalen Opposition, zwinge Putin zur Lockerung der innenpolitischen Daumenschrauben. Schon bei den Präsidentenwahlen könnten daher auch Kandidaten der Opposition ins Rennen gehen und Putin sogar die demütigende Stichwahl aufzwingen. Das schlechte Abschneiden seiner Einheitsrussen bei den Parlamentswahlen sei für Putin ein eindeutiges Mandat, das politische System zu liberalisieren. Andernfalls könnte seine Machtpyramide wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Zumal Wirtschafts- und Finanzkrise die russische Führung dazu zwingen könnten, die sozialen Wohltaten, mit denen sie vor den Wahlen nicht gegeizt hatten, in Teilen zurückzunehmen.

Doch was dann? Auch die Opposition dürfte zunächst große Probleme haben, den Staat zu regieren. Der ehemalige Premier Michail Kasjanow klagte, Putin habe alle politischen Konkurrenten ausgeschaltet. Nur wenige haben reale Verwaltungserfahrung. Und die sie haben - wie Kasjanow oder Nemzow, der Boris Jelzin kurzzeitig als Vizepremier diente - müssen sich vorhalten lassen, dass sie erst zur Opposition stießen, als sie im Kreml in Ungnade gefallen waren. Das gilt auch für Sergej Mironow, Chef der Gerechten Russen, der nach dem Erfolg seiner Partei bereits ankündigte, er werde bei den Präsidentenwahlen im März ins Rennen gehen. Die gestärkte KPRF rief derweil alle parlamentarischen Oppositionsparteien auf, ihren Parteivorsitzenden Gennadi Sjuganow zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu küren.

Während der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow wieder mehr als 99 Prozent der Stimmen aus seiner Republik für Einiges Russland meldete, wurde die KPRF in etlichen großen Städten auch offiziell stärkste Kraft, beispielsweise in Kaliningrad, Nowosibirsk, Irkutsk und Angarsk. In zahlreichen Fällen aber stimmten die in das Wahlsystem eingespeisten Daten nicht mit denen der Protokolle aus den Wahllokalen überein, beklagte KPRF-Vize Iwan Melnikow. Seine Partei rief für Montagabend zu einer Protestkundgebung in Moskau auf. Auch die Partei Gerechtes Russland sprach von massiver Fälschung der Wahlprotokolle zugunsten der Einheitsrussen. »Wir werden auf die Straße gehen«, kündigte Sergej Mironow an.

OSZE-Beobachter lobten zwar die gute technische Vorbereitung der Wahl, kritisierten aber Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung und Manipulationen bei der Abstimmung selbst. Der Staat habe sich »auf allen Ebenen unzulässig eingemischt«, hieß es in einer Mitteilung.

Im Internet waren schon am Sonntag (4. Dez.) Filmaufnahmen von Verstößen gegen eine faire Wahl aufgetaucht. Bei ersten Protestaktionen radikaler Kremlgegner in Moskau und Petersburg waren am Wahltag über 200 Menschen vorübergehend festgenommen worden. Auch am Montag noch waren nach einer bisher einmaligen Cyberattacke einige unabhängige Internetseiten blockiert.

* Aus: neues deutschland, 6. Dezember 2011


Rußlands stille Revolution

Überraschung bei der Duma-Wahl: Niederlage trotz Mehrheit für Regierungspartei. Parallelgesellschaft im russischen Internet

Von Andreas Korn, Moskau **


Manch Fernsehbericht in Deutschland ließ den Eindruck aufkommen, die Russen seien ihren jeweiligen Präsidenten blind ergeben oder würden aus Angst vor ihnen kuschen. Doch die Duma-Wahlen am Sonntag haben gezeigt, daß die Realität eine andere ist. Getreu dem Sprichwort, daß die Russen lange leiden können, es aber dann irgendwann aus ihnen herausplatzt, versetzten die Wähler der Kremlpartei »Einiges Rußland« eine herbe Niederlage. Von 64 Prozent im Jahre 2007 stürzte die Partei am Sonntag auf 49,5 Prozent ab und muß sich nun in der Duma bei wichtigen Fragen mit den drei anderen im Parlament vertretenen Parteien, der kommunistischen KPRF (19,16 Prozent der Stimmen), den Sozialdemokraten von »Gerechtes Rußland« (13,22 Prozent) und den Liberaldemokraten von Wladimir Schirinowski (11,66 Prozent) verständigen. Alle Oppositionsparteien kritisierten am Sonntag Wahlfälschungen, die von der Regierungspartei organisiert worden seien. Belegt wurden die Vorwürfe mit Videos und Fotos im Internet.

Präsident Dmitri Medwedew versuchte hingegen, das Ergebnis schönzureden. Bei einer Versammlung am Wahlabend in der Parteizentrale von Einiges Rußland erklärte Medwedew mit Schönwettergesicht, die Abstimmung sei »Demokratie in Aktion« gewesen und spiegelte das »reale Kräfteverhältnis in der Gesellschaft wider«. Der Staatschef gab sich pragmatisch und deutete an, daß bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage einfach kein Ergebnis wie 2007 zu erreichen sei. Außerdem müßten »wir anders arbeiten«, womit der Präsident höflich die Selbstgefälligkeit russischer Beamter und das Problem mit der Korruption umschrieb. Der neben Medwedew stehende Wladimir Putin guckte derweil ernst in die Runde und erklärte, die Regierungspartei habe »die Verantwortung getragen«.

Tatsächlich hat die Finanzkrise den Alltag der Menschen verändert. Das Wachstum fiel von acht auf vier Prozent, die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen um 15 Prozent. Die Zahl der armen Menschen stieg um über zwei Millionen. Viele Unternehmen kürzten die Löhne, und ob die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft weiter sprudeln, mit denen der Staat Unternehmen, Banken und staatlichen Einrichtungen lange unter die Arme griff, ist nicht mehr sicher.

Ein weiterer Grund für die Schlappe der Regierungspartei ist, daß sich im russischen Internet eine Parallelgesellschaft entwickelt hat. Dort präsentiert sich das gesamte regierungskritische Spektrum und laufen rege Debatten. All das, was man in der Öffentlichkeit nicht sagen kann, wird im »Runet« mit seinen 50 Millionen Nutzern kundgetan. Und das erstaunliche ist, daß die Macht die Internetdebatten zuläßt. Nun hat die Regierung sogar erkannt, daß es zumindest zu Wahlzeiten besser ist, dieser Parallelgesellschaft auch im Fernsehen das Wort zu erteilen. Tatsächlich wurde im staatlichen Fernsehkanal Rossija 1 während des Wahlkampfs ungewöhnlich offen diskutiert. In der Talkshow »Debaty« konnten Vertreter der zur Abstimmung zugelassenen Oppositionsparteien ungehindert gegen die Regierung zu Felde ziehen. In der Wahlnacht wurde dieser neue Stil sogar noch gesteigert. Fünf Stunden lang debattierten bekannte Intellektuelle, ehemalige Jelzin-Anhänger, Blogger, KP-Chef Gennadi Sjuganow und Ultranationalist Schirinowski über die Konsequenzen aus der Duma-Wahl. Selbst die bekannte liberale Aktivistin Irina Jasina konnte in dieser Live-Sendung die Wirtschaftspolitik unter Boris Jelzin preisen.

Die Vertreter und Unterstützer der Kremlpartei Einiges Rußland, wie der Sozialpolitiker Andrej Isajew, Gewerkschaftschef Michail Schmakow und Kreml-Spin-Doctor Sergej Markow hatten einen äußerst schweren Stand in der Fernsehdebatte. Isajew, der Anfang der 90er Jahre noch Anarchist war, erklärte, das Wahlergebnis von Einiges Rußland sei »gut«. Fast in allen europäischen Staaten, wo während der Krise gewählt wurde, hätten »die regierenden Parteien verloren«.

Die russischen Wahlen haben gezeigt, daß mit liberalen Programmen heute in Rußland wenig Stimmen zu holen sind, mit sozialen Forderungen und Versprechungen aber umso mehr. Die sozialliberale Partei Jabloko erhielt nur 3,3 Prozent der Stimmen. Einiges Rußland ist hingegen keine stringent neoliberale Partei. Ihre Vertreter sind etwa gegen die Heraufsetzung des Rentenalters, die etwa die kleine Partei »Rechte Sache« fordert, die dafür mit 0,5 Prozent abgestraft wurde. Bei der Talkrunde bei Rossija 1 bedauerte der Chef des Unternehmerverbandes Alexander Schochin, daß die sozialliberale Partei Jabloko nicht über die Sieben-Prozent-Hürde kam. Schon früher hatte auch Präsident Medwedew bedauert, daß die kleinen liberalen Parteien seit 2003 nicht mehr in der Duma vertreten sind. Offenbar verspricht sich der Kreml von ihnen Schützenhilfe bei der Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.

** Aus: junge Welt, 6. Dezember 2011


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