Wahltag in Russland
Nichtstaatliche Beobachter klagen über Behinderungen
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Als erster Schritt zum geplanten Ämtertausch
zwischen Präsident Dmitri
Medwedjew und Premier Wladimir
Putin wurde am Sonntag in Russland
ein neues Parlament gewählt. Am
Sieg der Regierungspartei Einiges
Russland gab es keinen Zweifel.
Wichtig sei nicht, welcher Partei
die knapp 110 Millionen Wähler
ihre Stimme geben, sondern dass
sie es überhaupt tun. Noch am
Sonnabend, dem »Tag der Stille«,
als die sieben Parteien, die sich bei
den Parlamentswahlen um die 450
Sitze in der Staatsduma bewarben,
nicht mehr agitieren durften, rang
Russlands oberste Wahlleitung
noch um jede Stimme. Das Dauerfeuer
hatte Erfolg: Trotz des trüben
Frühwinterwetters hatten landesweit
gegen 13.00 Uhr Moskauer
Zeit bereits mehr als 25 Prozent
der Stimmberechtigten ihr Kreuz
gemacht. Deutlich mehr als zum
gleichen Zeitpunkt vor vier Jahren.
Früh auf den Beinen waren vor
allem die Politiker: KP-Chef Gennadi
Sjuganow, Ultranationalist
Wladimir Shirinowski, der von der
Regierungspartei Einiges Russland
(ER) als Spitzenkandidat gesetzte
Präsident Dmitri Medwedjew mit
Ehefrau Swetlana und Premier
Wladimir Putin, der ohne Gattin
Ljudmila erschien und mit undurchdringlichem
Gesicht. Obwohl
er nach eigenen Worten bester
Laune war und ein gutes Ergebnis
für seine Einheitsrussen erwartete.
Im Fernen Osten und Teilen Sibiriens,
wo die Zeit der Moskauer
um mehrere Stunden voraus ist,
hatte da bereits die Auszählung
der Stimmen begonnen. Ergebnisse
wurden erst nach Redaktionsschluss
dieser Ausgabe bekannt.
Zunächst, berichtete die halbamtliche
Nachrichtenagentur RIA
Nowosti, hätten die knapp 700 internationalen
Beobachter, Vertreter
der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa,
des Europarates und der UdSSRNachfolgegemeinschaft
GUS, bei der Stimmabgabe keine bedeutsamen
Verstöße gegen geltendes
Recht festgestellt. Umso kritischer
hatten sich westliche Beobachter
allerdings zum Wahlkampf geäußert.
Kritisiert wurden vor allem
ungleiche Chancen für die Opposition
und massive Behinderung von
Beobachtern und nichtstaatlichen
Organisationen.
So hatten drei ER-Abgeordnete
Ende letzter Woche ein Verfahren
gegen »Golos« (Stimme) angestrengt.
Der auf Wahlbeobachtung
spezialisierten Organisation wurde
vorgeworfen, sie würde durch
Spenden aus dem westlichen Ausland
finanziert, was auf Einmischung
in innere Angelegenheiten
Russlands hinauslaufe. Golos-Mitarbeitern
wurde daraufhin in
mehreren Regionen der Zutritt zu
den Wahllokalen versagt. In Samara
an der Wolga durften selbst
die von den Oppositionsparteien
nominierten Mitglieder der Wahlkommissionen
die Wallokale erst
nach deren Öffnung betreten. So
lasse sich nicht feststellen, ob zuvor
Stimmzettel eingeworfen wurden,
klagte Golos-Chefin Lilija
Schibanowa, die am Vortag zwölf
Stunden lang auf dem Flughafen
Moskau-Scheremetjewo festgehalten
worden war. Das von ihrer
Organisation eingerichtete unabhängige
Pressezentrum war gegen
Mittag des Wahltages ohne Internetzugang.
Schon kurz nach acht, als in
Moskau die Wahllokale öffneten,
hatten Hacker die Website des kritischen
Radiosenders »Echo
Moskwy« lahmgelegt. Sie konnte
bis in den frühen Abend hinein
nicht aufgerufen werden. Mit der
Attacke, vermutet Echo-Chefredakteur
Alexej Wenediktow, sollen
vor allem Meldungen über Verstöße
und Manipulationen verhindert
werden. Dadurch würden neue
Zweifel an der Legitimität der Abstimmung
und ihrer Ergebnisse
aufkommen. Selbst Wohlmeinende
fragen sich, ob die Einheitsrussen
als klare Favoriten derartige Hütchenspielertricks
nötig haben.
* Aus: neues deutschland, 5. Dezember 2011
Uneiniges Russland
Von Detlef D. Pries **
Der Wahlsieg, der andernorts Jubelstürme auslösen würde, ist für Russlands Doppelspitze Putin-Medwedjew eine herbe Enttäuschung. Die Regierungspartei Einiges Russland hat nicht nur ihre verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma verloren, ihr Ergebnis liegt sogar unter den schlechtesten Umfragewerten, die vor dem Wahltag bekannt geworden waren. Und dabei bleiben Fälschungs- und Behinderungsvorwürfe der Konkurrenz noch unberücksichtigt.
Die beschwörenden Appelle des »Tandems«, Stabilität und Erfahrung zu wählen, haben nicht gefruchtet. Stabil wuchsen die Einkommensunterschiede - ins Unermessliche. Stabil wucherte die Korruption und nährte den Unmut über die »Partei der Macht«. Da sehen viele Russen in den Kommunisten, denen man vor vier Jahren schon das baldige Ende voraussagen wollte, offenbar die wirksamste Gegenkraft.
Die Frage bleibt, wie Putin, wenn er demnächst dennoch wieder in den Kreml einzieht, auf die Schlappe reagieren wird. Da wird unendlich viel spekuliert. Die einen sagen, er werde die Zügel wieder straffer ziehen, andere trauen ihm sogar zu, genau dieses Ergebnis geplant zu haben: Wer Verluste zugibt, mindert die Gefahr, wegen zu großer Entfernung von der Realität unter einer Protestlawine begraben zu werden, die das Land in ein neuerliches Chaos reißen könnte. Denn eins steht seit Sonntag fest: Russland ist längst nicht mehr so einig, wie es »Einiges Russland« glauben machen will.
** Aus: neues deutschland, 6. Dezember 2011 (Kommentar)
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