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Russland hat gewählt - Aber hatte man eine Wahl?

Putin gestärkt - Fast die Hälfte der Bevölkerung, wartet ab, was da kommt. Ergebnisse und ein Kommentar von Kai Ehlers


Etappensieg für Wladimir Putin

Spannung in Russland hält an: Wer wird Russlands nächster Präsident?

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Bei »Einiges Russland«, der Partei, für die Präsident Wladimir Putin als Spitzenkandidat angetreten war, knallten Sektkorken. Die Mitbewerber leckten sich die Wunden, als am Sonntagabend kurz nach 21 Uhr Moskauer Zeit die ersten Ergebnisse der russischen Parlamentswahlen einliefen.

Die ersten Ergebniss betrafen zwar zunächst nur das Stimmverhalten im Fernen Osten und in Ostsibirien. Der Trend war jedoch klar und wurde durch das vorläufige Endergebnis bestätigt, das Russlands oberster Wahlleiter Wladimir Tschurow am Montagvormittag verkündete. Demzufolge schafften nur vier Parteien den Einzug in die Duma. Neben den »Einheitsrussen« waren das erwartungsgemäß die KPRF, die gegenüber der Dumawahl 2003 jedoch abermals einen Prozentpunkt verlor, die ultranationalistischen »Liberaldemokraten« Wladimir Shirinowskis, die mehr als drei Prozentpunkte einbüßten, und die linkszentristische Partei »Gerechtes Russland« unter Putin-Freund Sergej Mironow, dem Vorsitzenden des Föderationsrates. Letztere übersprangen die 7-Prozenthürde nur knapp.

Während die Wahlbeteiligung im Durchschnitt bei 63 Prozent lag, gingen in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg nur bei 56 und 51 Prozent der Berechtigten zur Wahl. Dafür meldeten die Republiken an der Wolga und im Nordkaukasus weit über 90 Prozent.

Schon vor Schließung der Wahllokale hatten Beobachter etliche Unregelmäßigkeiten registriert. Am Beschwerdetelefon der Zentralen Wahlkommission gingen allein am Sonntag über 32 000 Anrufe ein. Die Kommunisten wollen das Ergebnis beim Obersten Gericht anfechten und erwägen sogar die Rückgabe sämtlicher Mandate, wenn sie damit erreichen, dass die Abstimmung für ungültig erklärt wird. Das ist indes höchst unwahrscheinlich. Ungeachtet aller Verstöße gegen das Wahlgesetz – während der Abstimmung und im Wahlkampf – widerspiegelt das Ergebnis mehr oder minder real die Zustimmungsraten, die Regierung und Opposition – linke wie rechte – momentan verbuchen können. Mit allen Konsequenzen. Denn das Gedränge um die 450 Sitze in der Staatsduma geht nahtlos in den Kampf um den Chefsessel im Kreml über, der am 2. März neu vergeben wird.

In der Putin-Partei »Einiges Russland« wird man sich keineswegs entspannt zurücklehnen können. Zwar hat sie ihre bisherige Zweidrittelmehrheit in der Duma verteidigt (da die Stimmen der Parteien, die an der Sperrklausel gescheitert sind, unter den Tisch fallen) und behauptet damit das Gesetzgebungsmonopol. Doch die Partei ist nicht so einig, wie der Name vermuten ließe. Die rivalisierenden Flügel dürften sich bei der Verteilung der Posten in den Ausschüssen hart bekämpfen. Umso mehr, da die Besetzung von Schlüsselstellen im neuen Parlament entscheidenden Einfluss darauf haben kann, welche der Gruppierungen sich auf dem Sonderparteitag am 17. Dezember durchsetzt. Dann nämlich wollen die »Einheitsrussen« ihren Präsidentschaftskandidaten nominieren.

Auf den zweiten Blick verliert der Sieg – nach Meinung der Putin-Gegner – sogar an Glanz. In absoluten Zahlen ausgedrückt, fuhr »Einiges Russland« nämlich unter 50 Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten ein. Würde Putin ein drittes Mal kandidieren, ätzte die Opposition, müsste er sich mit diesem Ergebnis sogar einer demütigenden Stichwahl stellen. In solcher Häme schwingt allerdings große Enttäuschung über das eigene Abschneiden mit: Die sozialliberale Jabloko-Partei und die Union der Rechten Kräfte blieben selbst in Hochburgen wie Moskau und St. Petersburg unter sechs Prozent und kamen im Landesdurchschnitt auf weniger als zwei Prozent. Für die Rückerstattung der Wahlkampfkosten werden mindestens drei Prozent gebraucht. Viele halten daher das finanzielle Ende der »demokratischen« Opposition für besiegelt. Denn inländische Sponsoren sind nicht in Sicht.

Russlands Wahl - Vorläufiges Ergebnis

(nach Auszählung von 98 % der Stimmen)

Einiges Russland 64,1 %
KPRF 11,6 %
LDPR (Shirinowski) 8,2 %
Gerechtes Russland 7,8 %
Agrarpartei Russlands 2,3 %
Demokrat. Partei Jabloko 1,6 %
Union Rechter Kräfte 1,1 %
Partei Bürgerkraft 1,0 %
Patrioten Russlands 0,9 %
Partei der Sozialen Gerechtigkeit 0,2 %
Demokratische Partei 0,1 %

Die Wahlbeteiligung lag bei 63 Prozent, 1 Prozent Stimmenanteil entspricht absolut etwa 600 000 Stimmen.

Quelle: www.cikrf.ru



* Aus: Neues Deutschland, 4. Dezember 2007


Wahlen in Russland – ein Mandat wofür?

Von Kai Ehlers

Russland hat gewählt. Die von Putin angeführte Partei erhielt mit 63,5% der abgegebenen Stimmen, bei 60% Walbeteiligung, die absolute Mehrheit. Aber was war das? Eine Wahl? Oder vielleicht eher ein Referendum wie die russische Tageszeitung „Wedemosti“ fragt? Verlief die Wahl korrekt oder war sie ein gigantischer Betrug? Die Bewertungen gehen so weit auseinander wie Russland groß ist. KP-Chef Szuganow spricht von gigantischer Fälschung und will Protest organisieren; ebenso Gari Kasparaow und die Liberalen. Sie beklagen „flächendeckende“ Beeinflussung, massive Einschüchterung und offene Wahlfälschungen und wollen damit vor Gericht ziehen. Die Regierungen der USA, der EU, die deutsche Bundesregierung fordern „Aufklärung“ von der russischen Regierung über „Unregelmäßigkeiten“ bei der Wahl, die demokratischen Standards nicht entsprochen habe. Vertreter der Shanghai-Organisation, der GUS-Staaten dagegen erklären demonstrativ, die Wahlen seien ordnungsgemäß und den Gesetzen entsprechend verlaufen. Aus der OSZE hört man widersprüchliche Signale: Einerseits wird die Vermischung von Staat und Parteien beklagt, die nicht zuletzt durch Putins Kandidatur an der Spitze von „Einheitliches Russland“ zustande gekommen sei; dadurch seien die Wahlen „ungerecht“ gewesen. Andererseits bestätigte der Vizepräsident der OSZE Kiljunen, in einem Interview in Radio Moskau, die Wahlen seien „normal“ verlaufen. Wenn einige Wähler außerhalb der Wahlkabine ihre Stimme abgegeben hätten, dann müsse man sehen, dass dies eine „alte Tradition bei russischen Bürgern“ sei. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen; wer nicht dabei war, kann nur staunen über die Vielfalt der unterschiedlichen Wahrnehmungen. Am besten fährt man mit dem neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, dem Parteilichkeit zugunsten Russlands kaum unterstellt werden kann: Er konstatiert, dass die Wahlen Putin gestärkt hätten „und unabhängig von unseren Einschränkungen, die die Wahlstandards angehen, ist das dennoch die Wahl der Russen. Ich sehe keinen Grund, warum wir sie in Zweifel ziehen sollten.“

In der Tat gibt es keinen Grund, diese Sicht in Zweifel zu ziehen: das Ergebnis der Wahl, wie man es auch dreht und wendet, ist ein eindeutiges Mandat für Wladimir Putin, der vor der Wahl erklärt hatte, einen Sieg der Partei „Einheitliches Russland“ werde er als moralische Berechtigung betrachten, im Staate weiterhin eine führende Funktion auszuüben. Die Frage ist allein: Welche Funktion könnte das sein? Darüber wurde schon vor der Wahl heftig spekuliert, nachdem Putin klargestellt hatte, dass er keine dritte Amtszeit anstrebe. Auch jetzt wird weiter gerätselt. Wird er als Ministerpräsident antreten? Baut er sich auf dem Umweg über einen schwachen Präsidenten als Präsident in Spe auf? Wird er als Aufsichtsratsvorsitzender eines der großen russischen Monopole, Gazprom oder des geplanten Elektro-Energie-Verbundes einen ähnlichen Weg wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Schröder gehen? Putin hat alle diese Optionen offen gehalten. Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Dumawahl zwar ein Vertrauensbeweis für ihn, aber sie ist zugleich mehr als nur eine Abstimmung über ihn selbst – sie ist die Abstimmung über ein System, nämlich über das System der von Putin restaurierten traditionellen russischen Struktur des zentralisierten Pluralismus, anders gesagt, über die russische Form von Demokratie, die zur Zeit unter dem Stichwort der „gelenkten Demokratie“ in Russland entwickelt wird.

Gleich welchen Kandidaten Putin selbst als Nachfolger im Präsidentenamt vorschlagen wird, gleich in welcher Funktion er selbst die von ihm reklamierte Führerschaft wahrnehmen wollen wird, jede dieser Entscheidungen steht unter der Vorgabe, die traditionelle Grundordnung Russlands, die er in acht Jahren seiner Amtszeit ansatzweise wiederherstellen konnte, weiter zu festigen. Mit dieser Dumawahl bekommt sie den Charakter eines Volksentscheides.

Die Kernfrage dabei ist nicht, ob und von wo aus Putin selbst diese Ordnung weiter vertritt, sondern in wessen Interesse sie zukünftig entwickelt wird. Putin hat es auf seinem Kurs der restaurativen Stabilisierung geschafft, die Herstellung optimaler Investitionsbedingungen für internationales und einheimisches Kapital mit einer sozialen Befriedungspolitik zu verbinden. Dabei halfen ihm die steigenden Ölpreise und eine Bevölkerung, die nach dem Absturz in der Jelzin Zeit für jede kleine Verbesserung des Lebensniveaus dankbar war. Jeder Nachfolger Putins wird sich daran messen lassen müssen. Darüber hinaus steht nach der Wahl die Umsetzung all der schon beschlossenen, „Projekte“ der weiteren „Monetarisierung“ nach den Standards der WTO an, die nach den Massenprotesten von 2005 bis zur Wahl bisher zurückgestellt wurden. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum sich die 63,5% Zustimmung für Putins Partei nur aus einer Beteiligung von 60 Prozent der russischen Wahlberechtigten herleiten. Der Rest, fast die Hälfte der Bevölkerung, wartet ab, was da kommt.

Homepage von Kai Ehlers: www.kai-ehlers.de


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