PR-Gag oder eine neue Konzeption?
Russland diskutiert USA-Kernwaffendoktrin
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Zwar steht die Reaktion von Kreml und Außenministerium noch aus. Ausführlich setzten sich jedoch
die Morgenprogramme russischer Radiosender am Mittwoch mit einer Meldung der Moskauer
Tageszeitung »Kommersant« auseinander, in der es um Washingtons neue Kernwaffendoktrin geht.
Das Dokument mit dem Titel »Von der Konfrontation zu minimaler Abschreckung« sei das erste von
USA-Präsident Barack Obama offiziell in Auftrag gegebene Strategiepapier und solle die vor acht
Jahren von den abgewählten Republikanern in Kraft gesetzte Kernwaffendoktrin ablösen, so das
Blatt. In der alten Doktrin fungieren knapp 200 russische Großstädte und tausende Betriebe als
potenzielle Ziele. Bei deren Auswahl folgten die Bush-Krieger im wesentlichen einer Konzeption, die
in den sechziger Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, unter Federführung des damaligen
Pentagonchefs Robert McNamara erarbeitet wurde. Zynisch gingen deren Autoren davon aus, dass
bei einem atomaren Schlagabtausch die Sowjetunion erst nach Vernichtung von 25 Prozent der
Bevölkerung die Waffen strecken werde.
Das, schreibt die russische Zeitung, halte die Föderation amerikanischer Wissenschaftler, bei der
Obama sein Strategiepapier in Auftrag gegeben hatte, für gleichermaßen gefährlich wie unsinnig.
Die USA würden momentan über insgesamt 5200 Kernsprengköpfe verfügen, von denen 2700
gefechtsbereit seien. Sie könnten nicht nur potenzielle Gegner mehrfach vernichten, sondern
würden bei Naturkatastrophen eine tödliche Gefahr auch für die eigene Bevölkerung darstellen. Die
Föderation, die 1945 von den Erfindern der ersten Wasserstoffbombe gegründet wurde und
gegenwärtig 68 Nobelpreisträger in ihren Reihen zählt, plädiert daher für »Abschreckung auf
minimalem Niveau«, schreibt »Kommersant«. Dafür genügten ein paar hundert Sprengköpfe, die,
statt auf Ballungsräume, auf zwölf Schlüsselunternehmen der russischen Wirtschaft ausgerichtet
werden müssten -- vor allem auf Konzerne aus dem Energiesektor und der Metallbranche.
Namentlich genannt werden dabei Gazprom, die Ölgesellschaften Surgutneftegaz und Rosneft
sowie der Aluminium-Gigant RUSAL, Norilsk Nickel -- der weltweit größte Buntmetallkonzern --, der
Stahlkocher Sewerstal und mehrere Kraftwerke. Darunter solche, an denen die deutsche E.On und
die italienische Enel die Mehrheit halten.
Obama, für den die schrittweise Reduzierung der Kernwaffenarsenale weit oben an auf der
außenpolitischen Prioritätenliste stehe, habe Russlands Präsidenten Dmitri Medwedjew gleich beim
ersten Treffen Anfang April über Grundzüge der neuen Doktrin unterrichtet, schreibt das Blatt.
Russische Experten dagegen waren überrascht und sparten nicht mit Kritik. Obwohl Russland bei
der Aufzählung potenzieller Gegner erst nach China, Iran, Nordkorea und Syrien folge, wolle
Washington bei Abrüstungsverhandlungen Moskaus Kernwaffenpotenzial so weit dezimieren, dass
es durch die US-amerikanische Raketenabwehr neutralisiert werden könne, befürchtet der Präsident
der Akademie für geopolitische Probleme, Generalleutnant a. D Leonid Iwaschow. Russland werde
dadurch verwundbar, denn bei konventionellen Streitkräften habe sich das Gleichgewicht schon seit
geraumer Zeit zugunsten der USA verschoben.
Der Militärexperte Alexander Goltz dagegen nannte das Papier einen geglückten PR-Gag ohne
praktische Konsequenzen: In Russland wie in den USA seien die Sprengköpfe nicht mehr auf Städte
und Industrie, sondern auf Raketen und Abwehrstellungen des jeweils anderen ausgerichtet.
* Aus: Neues Deutschland, 16. April 2009
Weitere Berichte
US-Experten: Obama soll US-Atomraketen auf neue Ziele in Russland richten - "Kommersant"
MOSKAU, 15. April (RIA Novosti). Die Federation of American Scientists (Vereinigung amerikanischer Forscher), zu der auch 68 Nobelpreisträger gehören, veröffentlichte vor kurzem einen Bericht über die neue Atomdoktrin der USA, schreibt die russische Zeitung "Kommersant" am Mittwoch (15. April).
Die Autoren widmen sich vor allem der Ausarbeitung einer neuen Atomdoktrin der USA. Sie schlagen vor, die Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe auf ein Minimum zu reduzieren sowie die Raketen nicht auf dicht besiedelte Städte, sondern auf zwölf Schlüsselobjekte der russischen Wirtschaft zu richten.
Als Zielscheiben werden Unternehmen von Gazprom, Rosneft, Rusal, Norilsk Nickel, Surgutnefegas, Jevraz und Severstal genannt. Unter ihren Aktionären befinden sich auch der deutsche Energiekonzern E.ON und der italienische Versorger Enel.
Nach Ansicht der Wissenschaftler ist die Zahl nuklearer Gefechtsköpfe in den USA (5200, davon 2700 im Diensthabenden System und 2500 in Lagern) zu hoch und stelle im Falle einer Naturkatastrophe eine Gefahr dar.
Die Nato-Charta, wo Atomwaffen als Mittel bezeichnet werden, "den Frieden zu erhalten und den Krieg abzuwenden", nennen die Autoren des Berichts überhaupt einen "sinnlosen Bluff".
Sie ziehen den Schluss: Zur "minimalen Zügelung" genügten den USA nur einige Hundert nukleare Gefechtsköpfe. Bei Kampfhandlungen könnten auch konventionelle Waffen eingesetzt werden. Dem Bericht zufolge wird Russland sein Atompotenzial auf das gleiche Niveau senken.
An diesem Punkt sehen russische Experten die schlaueste Falle der US-Initiative. Wie Leonid Iwaschow, Präsident der Akademie der geopolitischen Probleme (Moskau) und ehemaliger Chef der Hauptverwaltung für internationale militärische Zusammenarbeit im russischen Verteidigungsministerium, erklärte, "wollen die USA mittels Verhandlungen die russischen Atomwaffen auf ein Minimum reduzieren: bis zu dem Niveau, das vom US-Raketenabwehrsystem neutralisiert werden kann".
Dabei gebe es zwischen Russland und den USA in Bezug auf die allgemeinen Streitkräfte längst keine Parität mehr.
"In der nicht nuklearen Welt wäre die Überlegenheit der USA absolut", meint Sergej Rogow, Direktor des Instituts für USA und Kanada (Moskau). Ihm zufolge würden die Vorschläge der linksliberalen Experten im Pentagon keine Begeisterung auslösen und von Moskau wohl kaum angenommen werden.
"Russland bleibt bei der Entfaltung der neuesten konventionellen Präzisionswaffen wesentlich zurück und betrachtet die Kernwaffen als Instrument der Abschreckung nicht nur vor einem Atomkrieg, sondern auch vor einem großen konventionellen Krieg", sagt der Experte zusammenfassend.
** Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. April 2009
Minimale atomare Abschreckung ist reine Utopie - "Moskowski Komsomolez"
MOSKAU, 16. April (RIA Novosti). Die Federation of American Scientists (Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler) hat Barack Obama eine neue Atomdoktrin der USA vorgeschlagen. Darüber berichtet die Zeitung "Moskowski Komsomolez" am Donnerstag (16. April 2009).
Das Vorhaben ist auf eine "minimale atomare Abschreckung" ausgerichtet. Der von den Experten gemachte Vorschlag verdient es, näher betrachtet zu werden. Dabei sollte man auf dem Boden der Realität bleiben. Viktor Jessin, ehemaliger stellvertretender Befehlshaber der Strategischen Raketentruppen, widmet sich ausführlicher in der Zeitung diesem Thema.
Die Realität zeigt sich wie folgt: Erstens sind neben Russland und den USA auch andere Mächte im Besitz von Kernwaffen. Eine gründliche, bis zu einigen Hundert nukleare Gefechtsköpfe gehende Reduzierung ist unmöglich, wenn an den entsprechenden Verhandlungen nicht auch die anderen Kernwaffenstaaten teilnehmen, vor allem China, Frankreich und Großbritannien. Auch das wachsende Nuklearpotenzial Indiens, Pakistans und selbst Israels darf nicht unbeachtet bleiben.
Zweitens wird eine so überaus wichtige Frage wie das globale Raketenabwehrsystem der USA ausgeklammert. Reduzierungen auf ein Niveau von weniger als 1000 Gefechtsköpfen würden, wenn nicht zugleich die Möglichkeiten des US-Raketenabwehrsystems wesentlich begrenzt werden, gegen das Prinzip der gleichen Sicherheit verstoßen: Die Amerikaner werden imstande sein, mittels ihres Raketenabwehrsystems unsere restlichen Gefechtsköpfe abzufangen, während wir diese Möglichkeit nicht haben werden.
Drittens berührt die Zielausrichtung der Atomraketen auf zwölf Objekte in Russland die nukleare Planung. Auch wir könnten in den USA ähnliche Objekte auswählen (was nicht kompliziert ist) und genauso erklären, wir würden sie nur "human" treffen. Doch die Möglichkeiten des heute bestehenden Lenkungssystems erlauben es, den Zielwechsel operativ binnen weniger Minuten vorzunehmen.
Unsere Atomwaffenkräfte befinden zurzeit im Diensthabenden System mit einer so genannten „Null-Gefechtsaufgabe“. Das bedeutet, dass im Lenkungssystem kein Plan existiert, was wir bereits 1995 bekannt gemacht haben.
Wie die Amerikaner behaupten, würden ihre Raketen irgendwohin in die Weiten des Ozeans gelenkt, wo es weder Menschen noch Objekte gebe. Schon möglich, doch lässt sich das nicht kontrollieren, bei uns nicht und bei ihnen ebenfalls nicht.
Deshalb ist es eine Utopie, von den zwölf Objekten zu sprechen, auf die Raketen gerichtet seien. Die Bewegung muss eine andere Richtung nehmen: Wenn wir solche Reduzierungen erreichen wollen, muss von den zweiseitigen zu mehrseitigen Verhandlungen - unter Teilnahme aller Kernwaffenstaaten - übergegangen werden.
Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. April 2009
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