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Analysen und Prognosen eines "Russlandverstehers"

Alexander Rahr hält Ängste in der EU für "maßlos übertrieben"

Von Detlef D. Pries *

Glückliche Fügung: Gerade ist in Moskau die Entscheidung darüber gefallen, wer sich 2012 in Russland der Präsidentenwahl stellen (und sie zweifellos gewinnen) wird. Da erscheint hierzulande ein Buch, das Russland – wie es ist und wie es werden könnte – zu erklären versucht.

Wer sich ernsthaft mit dem heutigen Russland befasst, kommt schwerlich um die Analysen Alexander Rahrs herum. Der Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums, das sich als Kompetenzzentrum für Russland, die Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) begreift, gilt nicht nur als Kenner des Landes, bisweilen wird er auch »Russlandversteher« genannt. Das ist freilich nicht immer freundlich gemeint.

Inzwischen 52-jährig, ist Rahr seit 1990 regelmäßig zu Gast im flächengrößten Staat der Welt. (Vorher war er es nie, weshalb seine Vorstellungen von der Sowjetunion von manchen Klischees behaftet sind.) Er hat etliche Größen aus Politik und Wirtschaft in persönlichen Gesprächen und Diskussionsrunden erlebt. Wenn er auf diesem Hintergrund gern und oft den gängigen Urteilen und Vorurteilen über russische Vorgänge widerspricht, handelt er sich damit schon mal den Vorwurf zu großer Vertrauensseligkeit ein.

Als Fürsprecher seines jüngsten Buches »Der kalte Freund« hatte Rahr jedoch den ehemaligen Bundesaußenminister und derzeitigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier gewonnen. Und der war am Dienstagabend im Berliner Haus der DGAP voll des Lobes über die »provokante«, »streitbare« und sogar »unterhaltsame« Analyse des Autors.

»Russland die Demokratie zu lehren ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Das Land ist viel zu stolz, um die Schulbank zu drücken. Und der Westen eignet sich auch nicht als vorbildlicher Lehrmeister.« Das sind die ersten Sätze des Buches, und die mögen – nach gängigem westlichen Urteil – tatsächlich provokant klingen, wenngleich Versuche eines »Demokratieexports« auch anderswo längst kläglich gescheitert sind. Aus der Enttäuschung über das Scheitern resultiert denn auch die von Rahr und Steinmeier festgestellte und bedauerte Entfremdung im Verhältnis zwischen Deutschen und Russen, trotz aller »Männerfreundschaften«. Aus dem Feind im Kalten Krieg ist bestenfalls ein »kalter Freund« geworden, wie der Titel des Buches lautet, nicht aber ein als gleichberechtigt angesehener Partner.

Dabei – so Rahr – könne man sich eine Entfremdung gar nicht leisten. Die Frage »Brauchen wir Russland?« beantwortet der Autor eindeutig mit Ja. Und führt etliche Argumente an. Eines der wichtigsten ist das wirtschaftliche: »Ohne russische Energie, Rohstoffe, Bodenschätze und den russischen Markt wird die EU ihren gegenwärtigen Wohlstand dauerhaft nicht sichern können.« Russland sei heute eine »Energiemacht ohne Wirtschaft und die EU eine Industriegroßmacht ohne Energiereserven«. Wenn die EU die russischen Kooperationsangebote – die bisher jeder Kreml-Hausherr gemacht habe – nicht ernst nehme und Russland womöglich weiter als Feind erachte, der Europa mit der Energiewaffe bedroht, bestehe die Gefahr, dass China die Rolle der EU für Russland übernimmt.

Steinmeier – als Erfinder des Begriffs »Modernisierungspartnerschaft« vorgestellt – versteht Rahrs Buch als »Weckruf«. Er bezweifelt zwar, dass Russland derzeit tatsächlich andere Optionen als die Westorientierung hat, gibt aber zu, dass »Lockerungsübungen« bereits zu beobachten sind.

Unterhaltsam ist Rahrs Analyse, wenn er verschiedene Szenarien der künftigen Entwicklung Russlands beschreibt und deren Wahrscheinlichkeit in Prozenten beziffert. Wenn er Rivalitäten zwischen Putin und Medwedjew ausleuchtet und die Meinungen von Russen ganz unterschiedlicher Stellung wiedergibt – vom Kriegsveteranen bis zum Oligarchen.

Verblüffend der Schluss: Rahr beschreibt die »Oktoberrevolution 2017« – mit allen bekannten Attributen vergangener russischer Revolutionen und Putsche – und mit optimistischem Ausgang: »Der Sieger ist das Volk.«

In der Diskussion widersprach der Autor übrigens auch den Horrorszenarien, die nach der Ankündigung der neuerlichen Putin-Kandidatur 2012 entworfen werden. Seine Prognose: Wladimir Putin in seiner dritten Amtszeit werde ein anderer sein als in den Jahren 2000 bis 2008. Er werde mit einer weitgehend erneuerten Mannschaft antreten. Denn ungeachtet des Scheiterns westlicher Belehrungsversuche habe sich Russland verändert.

Alexander Rahr: Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse. Carl Hanser Verlag, geb., 311 S., 19,90 Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 29. September 2011


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