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Putin kehrt in den Kreml zurück

"Einiges Russland" kürte Präsidentschaftskandidaten / Medwedjew soll Regierungschef werden

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die monatelangen Spekulationen darüber, wer auf dem russischen Führungstandem im Jahre 2012 den Platz am Lenker einnehmen würde, haben überraschend schnell ein Ende gefunden: Präsident Dmitri Medwedjew schlug dem Wahlparteitag der Regierungspartei »Einiges Russland« am Sonnabend vor, seinen Vorgänger Wladimir Putin auch zu seinem Nachfolger zu küren.

Stets sei der Präsident auf Platz eins der Kandidatenliste für die Parlamentswahlen gesetzt worden. Das sollte auch diesmal so sein, sagte Russlands Premier Wladimir Putin, als er am Sonnabend vor das Plenum des Wahlparteitags von »Einiges Russland« trat, der Regierungspartei, dessen Vorsitzender er ist, ohne Mitglied zu sein. Sprach’s und erteilte dem Spitzenkandidaten das Wort: Dmitri Medwedjew, der erklärte, er sei – einen erfolgreichen Auftritt der Partei bei den Duma-Wahlen am 4. Dezember vorausgesetzt – bereit, praktische Arbeit in der Regierung zu leisten, um die Modernisierung Russlands voranzutreiben. Für die Präsidentenwahlen im März dagegen sollte die Partei Putin nominieren. Stehend spendeten rund 11 000 Delegierte und Gäste in der Moskauer Sportarena Lushniki minutenlang stürmischen Beifall.

Dass Russlands Doppelspitze die Katze so früh aus dem Sack ließ, war für viele eine Überraschung. Die Mehrheit hatte mit einer Entscheidung erst nach den Duma-Wahlen gerechnet, wenn feststeht, über welche Mehrheiten »Einiges Russland« in der neuen Duma verfügen wird. Zumal sich eine neue Runde der Weltwirtschaftskrise und damit der Nachfrage nach Rohstoffen anbahnen könnte. Aus Rohstofferlösen aber finanziert Russland den Löwenanteil seines Haushalts. Müssten etwa Sozialausgaben gekürzt werden, fiele alle Schuld auf den Präsidenten zurück. Denn der – und nicht der Regierungschef, den die Verfassung zu einer Art Chefadministrator und Vollstrecker macht – ist kraft seiner Machtfülle für alles verantwortlich, was in Russland passiert. Einschließlich Naturkatastrophen.

Kritische Beobachter fragen sich daher, was Putin bewogen haben mag, diese Bürde ein zweites Mal zu übernehmen. Und das womöglich für zwölf Jahre. Denn die Amtszeit des Präsidenten beträgt statt vier künftig sechs Jahre, und eine weitere Wiederwahl ist möglich. War es die Droge Macht oder die Erkenntnis, dass Russland womöglich schweren Zeiten entgegengeht und im Kreml daher kein Präsident auf Abruf oder ein Platzhalter mit begrenzter Souveränität sitzen darf, sondern einer, der neben dem Titel auch die reale Macht hat?

Es gibt noch eine dritte Version: Demzufolge haben nicht Putin und Medwedjew »tief durchdacht« und »schon seit Jahren besprochen«, wer künftig welchen Platz einnimmt, sondern die Nomenklatura habe entschieden – die Beamten der höheren Ebene, in Russlands politischem System traditionell eine Konstante. Medwedjew, dem es nie gelang eine eigene Hausmacht aufzubauen, hat demzufolge den Kampf verloren, seine Kapitulation sei jedoch keine bedingungslose gewesen. In Putins Programm, das der Kandidat gleich nach seiner Nominierung vortrug, finden sich jedenfalls Elemente, die bisher als Markenzeichen Medwedjews galten: Innovation und Demokratie ohne einschränkende Adjektive wie »gelenkt« oder »souverän«.

Der russischen Opposition gehen solche Versprechen freilich längst nicht weit genug. Die einen prophezeien »Stagnation«, die anderen – Expremier Michail Kasjanow beispielsweise – den »unvermeidlichen Kollaps des Landes«. Und Boris Nemzow sieht soziale Unruhen voraus, die Putin vor der Zeit zum Rücktritt zwingen würden.

Sie werde mit jedem russischen Präsidenten gut zusammenarbeiten, ließ dagegen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin mitteilen. Und die USA kündigten an, unabhängig von Namen den Neustart ihrer Beziehungen mit Russland weiter voranzutreiben.

* Aus: Neues Deutschland, 26. September 2011


Russische Rochade

Von Detlef D. Pries **

Plätzetausch auf dem russischen Tandem? Eigentlich werden doch nur die Trikots getauscht. Denn Wladimir Putin hatte den Lenker nie aus der Hand gegeben. Dmitri Medwedjew gewann die Präsidentenwahl 2008 schließlich nur, weil Putin ihn zu seinem Wunschnachfolger erklärt und er selbst versprochen hatte, in der Spur seines Vorgängers zu bleiben. Die meisten Russen hätten Wladimir Wladimirowitsch schon 2008 ein drittes Mal zum Staatschef gewählt, aber der bestand – für manchen überraschend – zumindest auf der formalen Einhaltung der Verfassung.

Putin ist bis heute der mit Abstand populärste Politiker des Landes, was nicht heißt, dass er nicht erbitterte – weil aussichtslose – Feinde hätte. Indessen hat Medwedjew selbst in den Jahren seiner Präsidentschaft nie mehr als die Rolle des Juniorpartners gespielt. Er sollte es nicht; nur mutmaßen lässt sich, ob er es wollte. Den Ruf nach »Modernisierung« Russlands jedenfalls – angeblich Medwedjews alleiniges Markenzeichen – wird auch Putin erheben. Freilich fragt sich, ob er wirksame Rezepte findet. Andernfalls aber dürfte er sich kaum bis 2024 im Kreml halten.

Man kann der Rochade übrigens durchaus auch ein außenpolitisches Motiv unterstellen: Wer weiß, ob Barack Obama 2013 noch im Weißen Haus residiert? Herrscht dort aber ein möglicherweise grober republikanischer Klotz, wird Putin sich nicht zu fein sein, nötigenfalls den groben Keil zu geben.

** Aus: Neues Deutschland, 26. September 2011 (Kommentar)


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