"Wichtig ist, dass sich nichts ändert"
Doch Änderungen werden in Russland 2008 unvermeidlich sein
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Für Russland wie für die USA ist das bevorstehende Jahr ein besonders wichtiges: In beiden
Staaten werden neue Präsidenten gewählt. In Russland allerdings scheint die Wahl bereits gelaufen
zu sein.
Politik? »Nein danke.« Swetlana Gawruschkina hat andere Sorgen. Welche Dauerwurst soll sie
kaufen, wie viel Kaviar, Apfelsinen? Oder doch lieber die süßen kleinen Mandarinen? Gawruschkina
hat die Qual der Wahl und ist im Kaufrausch. Beamtin und Ende 50, kassiert sie zu Monatsende
gleich zweimal: ihre Rente und ein selbst für Moskauer Verhältnisse auskömmliches Gehalt. Sie
lässt es sich daher richtig gutgehen. Vor allem zu Neujahr, nach wie vor Russland größter Feiertag.
Die zierliche Finanzexpertin mit dem sorgfältig gescheitelten grauen Haar bezahlt an der Kasse des
Supermarktes mit nagelneuen Tausend-Rubel-Scheinen und kommt dann, während sie ihre
Einkäufe verstaut, doch noch auf Politik zu sprechen: »Dass ich mir all das jetzt leisten kann,
verdanke ich vor allem Wladimir Wladimirowitsch.« Das schönste Neujahrsgeschenk habe sie daher
bereits: Dmitri Medwedjew, einer der engsten Vertrauten Putins, wird Präsident und setzt den Kurs
seines Vorgängers fort. »Selbst, wenn Wladimir Wladimirowitsch nicht Premier werden will, was ich
ihm nicht verdenken könnte. Für uns ist wichtig, dass sich nichts ändert.«
Einschlägige Gefahren halten auch professionelle Beobachter für begrenzt. Verblüfft registrierten
Kommentatoren bei Medwedjews erster großer Fernsehansprache Mitte Dezember, dass er Putin
nicht nur in der Wortwahl kopierte. Er übernahm auch dessen Tonfall, das leichte Anheben der
Stimme, mit dem Russlands Präsident Akzente setzt, und die Pausen, die manchmal etwas zu lang
ausfallen. Dass aufstrebende Politiker ihre Natschalniks kopieren und diese dabei zuweilen
unfreiwillig sogar parodieren, ist in Russland gang und gäbe. Bei der Machtpartei wie bei der
Opposition. Hört und sieht man Sergej Mitrochin, die Nummer zwei der sozialliberalen Jabloko-
Partei, glaubt man einen Klon von Parteichef Grigori Jawlinski vor sich zu haben: Die gleiche
sorgenvoll gefurchte Stirn, die gleiche vorwurfsvolle Sprache.
Russlands Parteien sind auch 16 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion anders als ihre westlichen
Schwestern, die hier nach wie vor Bruderparteien genannt werden – Strukturen, die allein vom
Charisma und den persönlichen Zustimmungsraten ihrer jeweiligen Führer zehren. Personen-, keine
Programmparteien.
Das vor allem ist das große Elend der Opposition und gleichzeitig das Pfund, mit dem die Partei der
Macht wuchern kann.
Abgesehen davon, dass Garri Kasparow und Boris Nemzow, die ihre Kandidatur für die
Präsidentenwahl bereits abgeblasen haben, Mühe hätten, die zwei Millionen Unterschriften zu
beschaffen, die sie der Zentralen Wahlkommission bis zum 27. Januar vorlegen müssten, da sie
keiner der in der Duma vertretenen Parteien angehören: Auch bei fairen Wahlen und gleichem
Zugang aller Herausforderer zu den Medien hat keiner der Wadenbeißer momentan auch nur
annährend das Format, dem Kandidaten des Kremls eine Stichwahl aufzuzwingen. Die wird erst
dann fällig, wenn keiner der Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme auf sich vereinigen kann.
Medwedjew dagegen dürfte um die 70 Prozent einfahren.
Die Nation hatte schon vor Monaten zu erkennen gegeben, dass sie für den Kandidaten stimmen
wird, der die Unterstützung Putins hat. Die hat Medwedjew – und womöglich mehr als ihm selbst lieb
sein könnte. Die neue Konfiguration der Macht in Russland könnte in etwa so aussehen, wie es der
»Economist« vorwegnahm: Putin groß als Titelfoto und Medwedjew klein in der Brusttasche des
dunklen Jacketts, wo bei anderen Politikern das Taschentuch steckt. Auch wohlmeinende
Beobachter gehen davon aus, dass Medwedjew in der ersten Hälfte seiner Amtszeit nur auf
Bewährung regieren darf. So wie Sultan Mehmet II. Der eroberte zwar 1453 Konstantinopel, zuvor
aber hatte ihn sein überragender, aber herrschensmüder Vater Murat II. mehrfach vom Thron gejagt,
um das bedrohte Osmanen-Reich doch lieber wieder selbst zu regieren. Parallelen zu Medwedjew
und Putin drängen sich auf.
Das »Time«-Magazin hat Putin kurz vor Weihnachten zum Mann des Jahres gekürt. Die
Begründung: Er habe ein wirtschaftlich schwaches und politisch labiles Russland übernommen,
übergebe an seinen Nachfolger aber eine wiedererstarkte Weltmacht. Die deutsche Wirtschaft sieht
das ähnlich. Kritiker – hier und im Ausland – warnen indes, Russland werde der Wind künftig rauer
ins Gesicht blasen. Ganz unbegründet sind solche Befürchtungen nicht. Der exzentrische
Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski vom Institut für nationale Strategien hielt der Nation
schon vor Wochen ein Horror-Szenario vor Augen. Nicht nur Medwedjew, der weder über eine
Hausmacht in den Regionen noch über außenpolitische Erfahrung verfügt, könnte überfordert sein,
auch Übervater Putin könnte an die Grenzen seiner Fähigkeiten als Krisenmanager stoßen und von
den Entwicklungen überrollt werden. Mit den Erlösen für Energieexporte, die sich seit Putins Wahl
mehr als verzehnfacht haben, sollten Strukturreformen finanziert werden. Das Ziel – eine
leistungsfähige verarbeitende Industrie – wurde bisher jedoch längst nicht erreicht. Russland ist
daher Importweltmeister.
Das Ergebnis: Schon im kommenden Jahr schnurrt der bisherige Überschuss der Handelsbilanz auf
null zusammen, danach droht ein Negativ-Saldo. Trotz boomender Preise für Öl und Gas. Durch sie
rollt der Rubel in rekordverdächtigem Tempo, ist aber nicht durch Waren gedeckt.
Die Inflation kommt daher erneut auf Touren. Die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen seit
Sommer um teilweise bis zu 50 Prozent.
Auch außenpolitisch lauern Stolpersteine. Beispiel Kosovo. Aus den Reihen der »Silowiki« werden
Forderungen laut, die Konsequenzen zu ziehen und als Antwort auf die Anerkennung eines
unabhängigen Kosovos die Unabhängigkeit Südossetiens oder Abchasiens anzuerkennen. Neue
Spannungen zur NATO, vor allem zu den USA als der Schutzmacht Georgiens sind dann
Programmiert
.
Die Wirtschaft erwartet von Medwedjew klare Eigentumsgarantien. Umso mehr, da ein kremlnaher
Finanzexperte den Medien Pläne für eine »samtene Renationalisierung« steckte. Der Masterplan
stammt angeblich von ehemaligen Tschekisten in der Petersburger Landsmannschaft. Die
Gegenspieler der Liberalen um Medwedjew dürften sich mit der Niederlage, die sie durch
Medwedjews Nominierung in der Operation »Kronprinz« erlitten haben, nicht abfinden und auf
Rache sinnen.
Vorerst aber feiert Russland. Vom 30. Dezember bis zum 8. Januar ist arbeitsfrei. Denn die Silvesterund
Neujahrsfeiern gehen nahtlos in das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest über, das auf den 7.
Januar fällt – also auf den 25. Dezember nach dem alten julianischen Kalender.
* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2007
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