Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bröckelt die Hausmacht Wladimir Putins?

Dumawahl - erster Schritt zum Plätzetausch auf dem Tandem

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Präsident Dmitri Medwedjew rief am Freitag (2. Dez.) im Fernsehen auf: »Wählen Sie diejenigen, die Erfahrung haben bei der Bewältigung von Krisen!« Die Duma dürfe nicht wie zu Zeiten Boris Jelzins »zwischen unvereinbaren Gegensätzen hin- und hergerissen werden«. Werbung für die Partei Einiges Russland, deren Spitzenkandidat Medwedjew diesmal selbst ist.

Diese Wahl gilt als erster Schritt zum Ämtertausch zwischen Medwedjew und Ministerpräsident Wladimir Putin. Wenn Putin im März 2012 wieder zum Präsidenten gewählt wird, soll Medwedjew ins Amt des Regierungschefs wechseln. Zwar hat er wiederholt betont, letztlich entscheide das Volk darüber, doch die Mehrheit des Volkes scheint sich mit der Absprache der beiden Spitzenpolitiker abgefunden zu haben. Spannend bleibt nur, wie groß diese Mehrheit ist, wie hoch der Sieg für Einiges Russland ausfällt.

2007 schafften vier Parteien den Einzug in die Duma. Der Rest scheiterte an der Sperrklausel, die von fünf auf sieben Prozent angehoben worden war. Wladimir Putin schwebte langfristig ein Zweiparteiensystem wie in den USA vor. Deshalb wurden Direktmandate abgeschafft und Parteien, die nicht in mehr als der Hälfte der 83 Regionen mitgliederstarke Organisationen hatten, wurden nicht mehr zugelassen.

Auch die neue Duma dürfte nicht farbiger ausfallen als die bisherige. Sowohl die linksnationalen Patrioten Russlands als auch die sozialliberale Jabloko-Partei und deren neoliberales Gegenstück Rechte Sache gelten als chancenlos. Zwar sind die elektronischen Medien zu ausgewogener Berichterstattung über alle relevanten Kräfte verpflichtet, in diese Kategorie fallen jedoch nur die im Parlament vertretenen Parteien. Die Spitzenleute der anderen kamen bis zum Start des heißen Wahlkampfs im September nur in einer Nostalgiesendung von Staatssender RTR vor und wurden dort wie tragikomische Helden einer längst vergangenen Epoche porträtiert. Im Westen hofierte Kremlkritiker wie Boris Nemzow und Michail Kasjanow scheiterten mit Parteigründungen an den harten Zulassungskriterien und rufen zum Wahlboykott auf. Im Übrigen verschleißen die Liberalen ihre Kräfte beim Gerangel um Führung und Deutungshoheit über die liberale Idee.

Knapp werden könnte es am Sonntag (4. Dez.) auch für Gerechtes Russland. Von Polittechnologen im Oktober 2006 auf Kiel gelegt, um als sozialdemokratische Alternative den Kommunisten Stimmen abzugraben, lief das Schiff seinen Baumeistern bald aus dem Ruder und versuchte sich auf eigenem Kurs. Vor allem seit Parteichef Sergej Mironow im Sommer über eine Intrige der Einheitsrussen stolperte und seinen Posten als Präsident des Föderationsrates (der zweiten Parlamentskammer) verlor, liefen Karrieristen - bei den Gerechten Russen so zahlreich wie bei den Einigen - zum Sieger über. Der Rest der Truppe trug den Kommunisten ein Wahlbündnis an.

Doch wenn schon rot, wählt Iwan Normalverbraucher das Original: die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF). Die Partei Gennadi Sjuganows hatte 2003 fast die Hälfte ihrer Mandate verloren und den Aderlass vier Jahre später nicht ausgleichen können. Diesmal könnte sie Boden gutmachen. Meinungsforscher billigen ihr zwischen 17 und 21 Prozent der Stimmen zu.

Denn sogar staatsnahe Umfrageinstitute sehen die Zweidrittelmehrheit gefährdet, mit der Wladimir Putins Hausmacht Verfassung und Gesetze nach Belieben umschreiben konnte. Bei letzten Befragungen kam die Partei noch auf 53 bis 56 Prozent. Komfortabel für westliche Verhältnisse, doch ein Einbruch gegenüber den 64 Prozent von 2007. Stoppen konnten den Trend weder soziale Wohltaten noch Stimmenkauf, wie ihn mehrere Gouverneure, Bürgermeister und Betriebsdirektoren in vorauseilendem Gehorsam betrieben.

Auch die Russische Volksfront - ein Sammelbündnis parteiloser, mehr oder weniger prominenter Putin-Anhänger, das von PR-Strategen im Mai als strategische Reserve in die Schlacht geworfen wurde - floppte Umfragen zufolge.

Kritiker hatten es lange kommen sehen: Schon Jelzins Berater hatten mehrfach versucht, mit Beamtenparteien die nötigen Mehrheiten in der Duma zu organisieren. Doch die erwiesen sich stets als Rohrkrepierer. Junge Polittechnologen, die Anfang 2000 zusammen mit Putin in den Kreml einzogen, waren da erfolgreicher. Zunächst jedenfalls: Kurz nach den Dumawahlen 1999 schlossen sich die Abgeordneten zweier kreml-naher, aber konkurrierender Parteien in einer Fraktion zusammen, aus der zwei Jahre später eine Partei hervorging: Einiges Russland bekam 2003 über 37 Prozent, verschaffte sich durch Überläufer schon zu Ende der Legislaturperiode die Zweidrittelmehrheit und spielte sie hemmungslos aus. Korruption und Vetternwirtschaft sind nur die Spitze des Eisbergs.

Bei Kommunalwahlen in jüngster Zeit zogen die Kommunisten mancherorts bereits am Einigen Russland vorbei. Im Landesmaßstab bremste die Popularität Putins - Parteichef ohne Mitgliedsbuch - den Abstieg seiner Hausmacht freilich lange Zeit. Inzwischen sei die Stimmung in der Bevölkerung jedoch so, dass ein Ergebnis von mehr als 40 Prozent für Einiges Russland nur auf unehrliche Weise zustande kommen könne, verlautet aus der KPRF. Gerüchte wollen wissen, dass Putin bereits über dem Projekt einer neuen »Machtpartei« brütet, die ihm nach den Wahlen die Möglichkeit eröffnet, die Machtfülle des russischen Präsidenten voll auszureizen. Denn basisdemokratische Alternativen dürften in überschaubaren Zeiträumen an der Schwäche der Zivilgesellschaft scheitern. Die indes lässt sich allein mit dem derzeitigen politischen System nicht erklären. Gleich schwer fallen tiefes Misstrauen der russischen Volksseele in Institutionen der kollektiven Willensbildung und mangelnde Bereitschaft zu sozialem Engagement bisher ins Gewicht.

* Aus: neues deutschland, 3. Dezember 2011


Sinkende Popularität

Parlamentswahlen in Rußland: Die Ämterrochade des Führungstandems Putin/Medwedew wird wieder gelingen. Aber die Begeisterung beim Publikum läßt nach

Von Werner Pirker **


Über den Ausgang der am Sonntag stattfindenden russischen Parlamentswahlen besteht nicht der geringste Zweifel. »Einiges Rußland« wird Regierungspartei bleiben. Sie wird wieder als die mit Abstand stärkste Kraft in die Duma einziehen, wobei es immerhin als unwahrscheinlich gilt, daß sie ihren Triumph von 2007, als auf sie satte 67 Prozent der Stimmen entfielen, diesmal wiederholen kann. Die einzige Frage, die spannend bleibt, ist, ob Einiges Rußland wieder über eine Zweidrittelmehrheit in der Duma verfügen wird.

Sieben Parteien sind zu den Wahlen zugelassen worden. Von den in Opposition zum Regierungslager stehenden Formationen sind der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) noch die besten Chancen einzuräumen. Geht man davon aus, daß Einiges Rußland eher eine Machtstruktur als eine Partei ist und es sich bei den liberalen Gruppierungen nur um Wahlvereine handelt, sind die Kommunisten die einzige zivilgesellschaftlich verwurzelte Kraft im Lande. Neben der KPRF ist auch noch der Liberaldemokratischen Partei des chauvinistischen Politclowns Wladimir Schirinowski und der Partei »Gerechtes Rußland«, eine sozial ausgerichtete Filiale der Kreml-Partei, der Einzug in die Duma zuzutrauen.

Noch-Premierminister Wladimir Putin, der sich im März 2012 wieder für das Präsidentenamt zur Wahl stellen wird, hat Kommunisten und prowestliche Liberale zu seinen Hauptgegnern erkoren. Erstere hätten die Sowjetunion in den Ruin geführt, letztere seien für den größten Raubzug in der Geschichte Rußlands verantwortlich, sagte er auf dem Parteitag der Einigen Russen in St. Petersburg.

Die drückende Überlegenheit des herrschenden Lagers und die weitgehende Chancenlosigkeit der Opposition, einen Machtwechsel herbeizuführen, nährt das von den Westmedien gepflegte Vorurteil, daß unter Putins Herrschaft die russische Demokratie vor die Hunde gegangen sei. Das stimmt schon allein deshalb nicht, weil es auch unter Putins Vorgänger keine Demokratie gegeben hat. Nach der Erstürmung des russischen Parlaments durch Eliteeinheiten der Armee im Oktober 1993 hatte Boris Jelzin eine Verfassung verabschieden lassen, die eine präsidiale Selbstherrschaft begründete.

In der Jelzin-Ära wurden Regierungen nach Belieben ein – und wieder abgesetzt, die bis auf eine Ausnahme über keine parlamentarische Mehrheit verfügten. Die frühere Regierungspartei »Unser Haus Rußland« ist bei Wahlen über zehn Prozent nie hinausgekommen. Putin hat dieses System geerbt und im Sinne einer starken »Machtvertikale« ausgebaut. Während die Jelzinsche Selbstherrschaft, in deren Umkreis sich die Oligarchen gesammelt hatten, zum Staatszerfall führte, vermochte die »Putinschtschina« diesen aufzuhalten. Daß sich das System Putin auf eine parlamentarische Mehrheit stützt, ist gegenüber der Jelzin-Zeit ein demokratiepolitischer Fortschritt. Auch wenn der massive Einsatz »administrativer Ressourcen« zum Machterhalt nicht unbedingt der feinen englischen Art entspricht.

In letzter Zeit mehren sich die Anzeichen, daß die Popularität des Führungstandems Putin/Medwedew im Sinken begriffen ist. Zu glatt ist die Ämterrochade – Präsident Medwedew wird Premier, Premier Putin greift wieder nach dem Präsidentenamt – über die Bühne gegangen, als daß sich das Publikum nicht doch ein wenig verschaukelt vorgekommen wäre. Daß Dmitri Medwedew über eine Rolle als Putin-Platzhalter nicht hinausgekommen ist, hat vor allem in liberalen Intellektuellenkreisen für Enttäuschung gesorgt. Bedenklicher ist der Popularitätsverlust, den Putin hinnehmen muß. Noch gilt der gegenwärtige Premier als der Mann, der die »Zeit der Wirren« beendet hat und als Garant der Stabilität. Aber in das Bedürfnis nach Stabilität mischt sich die Angst vor der Stagnation. Nicht von ungefähr fühlt sich so mancher geschichtsbewußte Russe an die Breschnew-Ära erinnert.

** Aus: junge Welt, 3. Dezember 2011


Zurück zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage