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Moskau vor weiterem Protestsonntag

Putin-Gegner hoffen auf neuen Zustrom / Duma entzog Abgeordnetem Gudkow das Mandat

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Mit einer Demonstration vom Moskauer Puschkin-Platz zum Sacharow-Prospekt startet die russische Protestbewegung am Sonntag in den Herbst. Stanislaw Samuzewitsch, der 73-jährige Vater einer der Pussy-Riot-Frauen, die wegen ihres Schmähgebets gegen Wladimir Putin in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden, wird zum ersten Mal in seinem Leben unter den Demonstranten sein. Dozenten und ihre Studenten verteilen schon seit Tagen Flugblätter und die Zeitung »Bürger«, die wie zu Sowjetzeiten im Untergrund hergestellt wurden, weil Druckereien die Auftragsannahme verweigert haben.

Im Antrag der Organisatoren an die Moskauer Stadtregierung ist von einem »Marsch der Million« die Rede. Parallelen zur Demonstration in der Götterdämmerung der Perestroika sind gewollt. Im Winter 1990 hatten im Moskauer Zentrum über eine Million Menschen mehr Demokratie gefordert. Der Verfassungsartikel, der die führende Rolle der KPdSU festschrieb, wurde kurz danach gestrichen, knapp zwei Jahre später war die Sowjetmacht Geschichte. Den Gegnern Putins dürften ähnlich durchschlagende Erfolge kaum beschieden sein.

Schon zum ersten »Marsch der Millionen« am 6. Mai kamen nach Darstellung der Organisatoren höchstens 50 000 Menschen. Die Polizei sprach von 20 000. So viele hatten sich bis Freitag auch für die Demonstration am Sonntag per Internet angemeldet. Und das politische Klima ist inzwischen sehr viel rauer geworden.

Gleich nach Putins Rückkehr ins Präsidentenamt verschärfte das Parlament das Versammlungsrecht. Verstöße werden mit empfindlichen Bußgeldern und Haftstrafen geahndet. Schon die Angst vor Provokationen bremst den Zulauf. Dazu kommt, dass die winterlichen Proteste nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen kaum etwas bewegt haben. Die danach beschlossenen Lockerungen von Wahl- und Parteiengesetzgebung werden als kosmetische Korrekturen abgetan, obwohl inzwischen etliche neue Parteien gegründet und zugelassen wurden.

Dazu kommt, dass sich die Führung der Protestbewegung reihenweise taktische Fehler leistet. Liberale, Linke, Anarchisten und Nationalisten eint allein die Gegnerschaft zu Putin. Ein schlüssiges Programm und arbeitsfähige Strukturen scheiterten bisher an internen Rivalitäten und ideologischen Grabenkämpfen.

Seit Mitte August immerhin laufen Vorbereitungen für die Wahl eines Koordinationsrates. Die Abstimmung soll per Internet erfolgen und dem Bürger vorführen, wie freie, faire und transparente Wahlen aussehen. Und bei der Kundgebung am Sonntag soll es erstmals auch um Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit gehen. Den Organisatoren ist aufgegangen, dass man Menschen, die nicht wissen, wie sie die Rechnungen für ihre Wohnnebenkosten bezahlen sollen, nicht mit abstrakten Forderungen nach Demokratie und Freilassung politischer Gefangener vom Ofen locken kann. Doch die Erkenntnis kommt womöglich zu spät, ebenso wie ernsthafte Bemühungen um einen Schulterschluss mit den Oppositionsparteien im Parlament. Die Zeit, fürchten selbst jene, die mit den Protestlern sympathisieren, arbeitet für Putin und gegen dessen Kritiker. Wenn überhaupt lasse sich der Bürger nur in der heißen Phase eines Wahlkampfes aus seiner Lethargie reißen.

An den Protesten am Sonntag will sich aber auch die KPRF beteiligen. Anhänger des »Gerechten Russlands« werden gewiss ebenfalls demonstrieren, zumal die Staatsduma dem GR-Abgeordneten Gennadi Gudkow auf Antrag des Generalstaatsanwalts am Freitag das Mandat entzogen hat. 291 Abgeordnete stimmten dafür, 150 dagegen (Gudkows Fraktionskollegen und die Kommunisten), drei enthielten sich der Stimme. Die Ermittlungsbehörden beschuldigen den 56-Jährigen illegaler Geschäftstätigkeit, die mit dem Status eines Abgeordneten unvereinbar ist. Gudkow, Mitorganisator der Massenproteste, will gegen die Parlamentsentscheidung vor dem Obersten Gerichtshof Beschwerde einlegen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 15. September 2012


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