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Moskau erwartet neuen Protest

Russlands Führung kündigt Reformen an und setzt auf Spaltung ihrer Gegner

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Nichts weniger als die Annullierung der Dumawahl am 4. Dezember und die Ansetzung von Neuwahlen fordert der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow in einem Gespräch mit der Zeitung »Nowoje Wremja«, deren Mitinhaber er ist.

Gorbatschow sieht in den Protesten gegen die offiziellen Wahlergebnisse ein Wiedererwachen der Gesellschaft. Die Zeit sei gekommen, seine Perestroika-Politik der 80er Jahre zu Ende zu führen. Eine Duma, wie sie sich nach den Wahlen formiert hat, dürfe nicht fünf Jahre lang amtieren. Die Regierungspartei Einiges Russland hatte laut offiziellem Wahlergebnis knapp die Hälfte der Stimmen eingefahren, die Opposition billigt ihr maximal 35 Prozent zu.

Wenn sich am heutigen Sonnabend in Moskau - wie angekündigt - erneut 50 000 zum Protest versammeln, müssten sie die Forderung nach Neuwahlen mit der Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen am 4. März verbinden, meint Gorbatschow: Man könne seine Stimme nur einem Kandidaten geben, der die Parlamentswahl für ungültig erklärt. Tatsächlich wurde per Internet bereits über die Losung der heutigen Kundgebung abgestimmt: Keine Stimme für Wladimir Putin.

Vergeblich hofften die Regierenden, die Empörung über die mutmaßliche Wahlfälschung werde wie ein Strohfeuer vergehen. Bei Putins jährlicher Bürgerfragestunde in der vergangenen Woche drehte sich fast jede zweite Frage um Wahlfälschung und Proteste.

Er sei zwar »nicht gerade begeistert von der Idee«, dass Parteien künftig die Zulassung nicht mehr beantragen, sondern lediglich über die Gründung informieren müssten. Möglich sei das jedoch, sagte Putin in einem Fernsehinterview. Ebenso eine Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, dabei sollte die Auswahl der Kandidaten jedoch im Kreml »gefiltert« werden. Eine weitere Senkung der Sperrklausel bei den Dumawahlen - 2016 soll die Latte statt bei sieben bei fünf Prozent liegen - sei im Interesse der Stabilität jedoch nicht zweckmäßig.

Für politische Liberalisierung machte sich auch Noch-Präsident Dmitri Medwedjew am Donnerstag in seiner Jahresbotschaft stark - und ließ schon tags darauf die ersten Gesetzesvorlagen folgen.

Ob das jedoch reicht, um Putin im März einen zweiten Wahlgang zu ersparen, bezweifeln sogar staatsnahe Polittechnologen. Mehr Erfolg versprechen sie sich offenbar davon, einen Keil zwischen die miteinander rivalisierenden und schwach strukturierten Gruppen der Protestbewegung zu treiben. Boris Nemzow jedenfalls, einer der Führer der Bewegung Solidarnost, die als Koordinator der Proteste auftritt, sie aber nur bedingt steuern kann, machte kremlnahe Hacker für Mitschnitt und Veröffentlichung seiner Telefongespräche verantwortlich, in denen er sich abfällig über andere Oppositionsführer ausließ. Die Äußerungen selbst bestritt Nemzow nicht.

Schon in Putins erster Amtszeit gingen die Größen der liberalen Opposition miteinander häufig so rabiat um wie mit dem politischen Gegner. Und obwohl die Wähler sie dafür bereits dreimal abstraften, ist es derzeit unwahrscheinlich, dass Solidarnost bei den Präsidentenwahlen reale Alternativen zu Putin unterstützt: den Multimilliardär Michail Prochorow oder Grigori Jawlinski, den Chef der sozialliberalen Jabloko-Partei, die sich an den Solidarnost-Meetings nicht beteiligte und eigene Proteste veranstaltet.

Die Masse der Protestierenden, sagt der Schriftsteller Boris Akunin - einer der neuen Männer, die Solidarnost zunehmend das Heft aus den Händen winden -, seien jene 40 Prozent der Stimmberechtigten, die schon die Dumawahlen boykottierten und im März ebenfalls zu Hause bleiben würden. Weil sie allen Politikern inzwischen gründlich misstrauen. Künstler und Kulturschaffende, glaubt Akunin, könnten die Führung der Proteste jedoch nur so lange übernehmen, wie sie sich auf Forderungen nach Achtung von Menschenrechten beschränken. Sobald es um Durchsetzung politischer Forderungen gehe, müssten Politprofis übernehmen.

Von den alten Platzhirschen wie Nemzow, Jawlinski, Expremier Michail Kasjanow oder Ex-Schachweltmeister Gari Kasparow aber ist derzeit niemand in der Lage, die Massen hinter sich zu bringen. Und dem noch nicht befleckten Nachwuchs - Ilja Jaschin oder dem Blogger Alexej Nawalny - fehlt die politische Erfahrung, um gegen Schwergewichte wie Putin und die geballten administrativen Ressourcen von Kreml und Regierung bestehen zu können.

* Aus: neues deutschland, 24. Dezember 2011


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