Kritische Solidarität
In Memoriam Anna Politkowskaja
Von Kai Ehlers, Hamburg
Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter „Jahrestag der politischen Lüge“ zu einer weltweiten Lesung in Memoriam
Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: „Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg“ verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten „Jahrestag der politischen Lüge“ deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor „zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen“ gehöre und diese Lüge einer weltweiten „Kritik zu unterziehen“.
Der erste „Tag der politischen Lüge“ war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers „Was ich hörte vom Irak“ ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.
Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum „Tag der politischenLüge“ hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.
Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die „Rebellen“ in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche „Säuberungen“, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: „Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.“ (GfbV, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.
In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie „Putin Mörder“, „Putin Diktator“, „faschistisches Russland“ konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.
Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen „Bereichert Euch“ und „Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt“ den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.
Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.
Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.
Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er „die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen“ verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.
Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger „Schurkenstaaten“ schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.
Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.
Hier geht es zur Homepage des Autors: www.kai-ehlers.de
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